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Brief
Hans von Bülow an Eugen Spitzweg
Freitag, 19. August 1887, Hamburg

relevant für die veröffentlichten Bände: III/3 Aus Italien
[119]

Es geht nicht – es taugt nichts. Du bist sachverständig genug – überzeuge Dich selbst von der Richtigkeit meiner »schroffen« Behauptung durch Einblick in die unterbreitete – Maculatur.

Erinnere Dich – von Anbeginn an – manifestierte ich Dir meine nicht blos persönliche, sondern zunächst sachliche Abneigung gegen eine »Bearbeitung« Chopin’s, insbesondere seiner Etüden. Ich überwand dieselbe, als Du Dich zu einer chrestomathisirenden Auswahl enschlossest bei der das specifisch Romantische und das höchst parnaßgradige Virtuosenhafte ausgeschlossen werden konnte.

Immerhin war ich mit meiner sogenannten Arbeit höchst unzufrieden und fand demnach ganz in der Ordnung, daß das Publikum sich nicht genügend (für die Opfer des Verlegers) dafür erwärmen konnte. Du glaubtest den Grund der Theilnahmslosigkeit darin erblicken zu müssen, daß man den ganzen, ungetheilten Etüdenchopin haben wolle. Sehr richtig. Meist handelt es sich bei Acquisition von Derartigem mehr um den Besitz als um den Gebrauch.

Die Peters’sche Ausgabe wird immer den Vogel abschießen, weil sie sich dem Dilettantismus am liebenswürdigsten accomodirt. Die Klindworth’sche – meiner Ansicht nach, trotz [120] kleiner Detailauslassungen, d. h. Ansichtsvarianten – Musterausgabe ist viel zu gründlich, zu tief, zu ernst, zu akademisch. Sollte ich mich nun entschließen, eine blecherne Mittelstraße zwischen diesen beiden genannten Editionen zu wählen? Non possumus. Ich kann die Aufgabe nur von eben demselben idealen Standpunkte auffassen wie Klindworth, und da er dieselbe bereits vor mehreren Jahen gelöst hat, so befinde ich mich in dem Falle, entweder zum Plagiator zu werden, oder zum ängstlichen Verschlimmbesserer, wenn mir nichts Neues und Nützliches einfallen sollte. Dieses letztere ist nun bei keinem der zu verschiedenen Zeiten angestellten verschiedenen Versuche eingetroffen. Ohne K.’s Ausgabe vor mir zu haben, komme ich, wenn gut inspirirt, stets auf seine Les- Schreib- Ausführungs-Arten. Nun quäle ich mich ab – ein ziemlich unwürdiges Geschäft – das doch als richtig Erkannte auszustreichen, weil’s ein Andrer bereits früher gefunden und gezeigt hat, und mir gewissermaßen die Nägel zu zerkauen, ob ich nicht eine andere, natürlich nicht minder treffliche Les- Schreib- Ausführungsart entdecken könnte, die den Vorzug hat, originaler zu sein, oder vielmehr des Fehlers entbehrt, den Vorwurf der Abschreiberei zu provociren.

Dem armen Kl. ist es bei seiner Beethovenausgabe (der ich übrigens vor der meinen, wie Du weißt, den Vorrang einräume) ähnlich ergangen. Da hat er bei Rhythmisirung sog. freier Cadenzen da Triolen gesetzt, wo ich Quartolen und umgekehrt – trotzdem er wahrscheinlich im Herzen meine persönliche Interpretation theilte – na, die Absurdität dergl. Querthätigkeiten liegt auf der Hand.

Kommen wir zur Conclusion. Op. 10 liegt nun einmal vollständig vor – es ist wichtiger als Op. 25 für die Pianistenmehrheit. Wenn gleich nicht so sehr Brot wie Cramer, doch nicht ganz so sehr Caviar wie das zweite Studiendutzend.

Mich will es dünken, als ob die Herstellungskosten des Op. 25 – vergleiche selbst die früheren Ausgaben, z. B. das erste Stück [121] in As dursehr, sehr erheblich ausfallen dürften und die Hoffnung auf Rentabilität als eine recht, recht problematische bezeichnet werden müßte. Denn mein Name wird doch nicht blos gekauft – sondern er soll die Waare rechtfertigen, wie diese ihn. Das kann aber nicht der Fall sein, aus Gründen, die ich Dir ja bis zum Gähnkrampfe schon auseinandergesetzt habe. Die Kl[indworth]’sche Ausgabe ist für mich nun einmal (meine subjektiven Abweichungen sind gering an Zahl, wie geringfügig dem Wesen nach) eine plusquamperfekte, aus der ich mir selbst unendlich häufig allerlei Belehrung geschöpft habe. Während eines ganzen Lustrum war das Chopinstudium Kl.’s Specialität, und die von ihm während dieser Zeit entfaltete Lehrtätigkeit gestatte ihm dabei allerhand Winke, Erleichterungen, Handhaben. Instruktive Ausgaben müssen eben ad usum delphini gefertig werden. Ich habe mich in so vielen anderen Gebieten, Oper, Concert u. s. w. umhergetrieben, daß mir der delphinus ein X ist, und sein usus durchaus nicht »gegenständlich«.

Demnach: wie ich meine Chopinetüdenausgabe kaum mit erträglichem Gewissen einem Collegen empfehlen könnte, so vor Allem nicht Dir, dem Verleger und Freunde.

Überlege einmal die Materie nach allen Seiten hin und entscheide Dich. Du bist tenax propositi, das weiß ich, und dich werde Dich zu guter Letzt auch nicht sitzen lassen, d. h. Dir den Rest von Op. 25 und zwar bis vor Mitte September »bearbeiten« (entsetzliches Mißbrauchswort, zur Qualifikation von allerhand ästhetischen Verbrechen euphemistisch wie gefunden) – aber, die Sache scheint mir besten falls nutzlos für die Klaviermusikwelt, für den Verleger – des Hrn. Bearbeiters zu geschweigen, den nicht blos Neuralgie und etwaiger marasmus senilis (der übrigens auch dabei im Spiele sein kann) zu dieser Expektoration veranlaßt.

Bez. der neuen Strauß’schen Sinfonie resp. sinfonischen Fantasie ist mein künstlerisches Interesse so gespannt, als nächst [122] etwa einer Brahms’schen Novität überhaupt mir, der seine Consumtionsfähigkeit nachgerade zur Neige erschöpft hat, noch möglich ist. Das Orchester ist seine Domäne; das wird Niemand incl. seiner selbst bestreiten. Nun ist aber die große Frage: werden es die großen technischen Schwierigkeiten erlauben, das Werk mit dem philharmonischen Orchester in Berlin (das doch unzweifelhaft beste unter den drei, die ich nächste Saison zu exerziren habe) nach nur drei Proben (in denen auch noch Anderes geübt werden muß) zu einer geziemenden Aufführung zu bringen, die für den Erfolg beim Publikum nicht compromittirend ist? That is the question. Werde ich es meinerseits an Nichts ermangeln lassen, es bei Wolff durchzusetzen – sehr wahrscheinlich werde ich ihm dafür (do ut des) eine Localconcession machen müssen – bittere Pille1 – so möchte ich es Dir empfehlen, Deinerseits es auch nicht an Insinuationen beim Karlsbader Büreau fehlen zu lassen. H. Wolff ist nun einmal – Großmogul und – sapienti sat, satter, am sattesten. – –

In circa 6 Tagen werden vermutlich vorbereitende Klavierproben für das Mozart’sche Heptameron beginnen, das übrigens erst gegen Ende October inscenirt werden soll. Wie sich die Saison gestalten wird, wie ich zwischen Charybdis Wolff und Scylla Pollini werde heil, d. h. ohne tracasserie und Ärger durchschiffen können, wissen die Götter. Einstweilen ist nur theetrinkendes Abwarten möglich. Director P. ist im Nordseebad, kehrt erst Ende des Monats zurück, und Alles muß mündlicher Vereinbarung überlassen bleiben, da er (wie auch Wolff) schriftlich – gar sehr diplomatisch verfährt. Ach – warum gibt’s keine schneidigen Nichtjuden in der Musikwelt! Aber [123] der Weltgeschichte zu grollen ist kindlich. Sei nicht so kindlich Deinerseits, mir wegen der Chopin-Impotenz zu grollen.

Noch Eines. Glaube nie unbedingt, zuweilen auch nicht einmal bedingt, Zeitungsnotizen über mich; Wolff verfährt da nach Belieben, ohne mich je zu consultiren. Nach vielen vergeblichen Versuchen, ihm das abzugewöhnen, habe ich mich resignirt.

1Die Zaghaftigkeit, mit der Bülow von »Durchsetzen« sprach in einem Verhältniß, in dem einfache Mittheilung seines Willens ausreichend hätte sein müssen, wäre völlig unerklärlich ohne seine übergroße Delikatesse in Dingen, die des Unternehmers Geldinteressen betrafen. Er wollte nicht allein entscheiden, wo ein Anderer pekuniär engagirt war; die meisten der von ihm oft beklagten Concessionen in den Programmen wurzelten darin. »Der Unternehmer trägt das Risikio«, pflegte er zu sagen. [Anmerkung in der Transkriptionsgrundlage].
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Quellennachweis

  • Original: Unbekannt

    • Hände:

      • unbekannt
    • Autopsie: Keine Autopsie des Originals.

Bibliographie (Auswahl)

  • Auszug in Hans von Bülow / Marie von Bülow (Hrsg.): Hans von Bülow: Briefe. Höhepunkt und Ende. 1886–1894, Bd. 7 (= Hans von Bülow. Briefe und Schriften, Bd. 8), Leipzig, 1908, S. 119–123. (Transkriptionsgrundlage)

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/d35887 (Version 2021‑04‑12).

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