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Hugo von Hofmannsthal an Richard Strauss
Samstag, 7. November 1908 / Mittwoch, 7. Oktober 1908 (fälschl.), Wien

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra

Lieber Herr Doktor,

bitte seien Sie nicht traurig! Es wäre mir äußerst peinlich, zu denken, daß Sie jemals meinetwegen traurig sein sollten, und es wird auch hoffentlich niemals ein Anlaß dazu vorliegen. Wenn Sie in Ihrem Brief sagen, daß aus dem schönen Opernstoff, auf den Sie sich gefreut hatten, jetzt ganz etwas anderes geworden ist, so ist das richtig und nicht richtig. Aber der Augenschein wird Sie besser überzeugen als mein Gerede. Ich schicke Ihnen, sobald als möglich, jedenfalls noch in der Mitte Ihres Aufenthaltes in Garmisch, mehrere Akte, vielleicht womöglich das ganze Stück. Dieses typierte Exemplar bleibt dann Ihr Handexemplar. Ich bitte Sie, es mit dem Bleistift in der Hand zu lesen und sich mit aller Freiheit anzumerken, was Ihres Erachtens wegfallen müßte[,] und andererseits aber auch jene Punkte sich anzumerken, in welchen das Lyrische für die Oper wird herausgearbeitet werden müssen. Was ich gemacht habe, ist ein Konversationsstück, und wo mein Text aus 20, 30 kleinen Reden und Gegenreden besteht, wird in der Oper jede der betreffenden Figuren vielleicht ihr Gefühl in einer einzigen lyrischen Phrase ausströmen. Aber die Handlung, das Knochengerüst, das Sie erfreute und Ihnen einleuchtete, ist vollkommen unberührt geblieben: erste Bekanntschaft, Verführung, Lust und Trennung; unerwartete Wiederkunft und Einführung des Bräutigams; Hochzeit und Schluß sind genau an ihrer Stelle und bilden die Angelpunkte der 4 Aufzüge. Ich spreche von 4 Aufzügen, denn die Komödie hat ihrer 4, aber die Oper wird nur 3 haben, denn hier fällt ja das ganze psychologische und konversationelle Detail fort und die Aufzüge I und II, nämlich Bekanntschaft und gemeinsame Abfahrt und dann Verführung und Abschied bilden zusammen, durch ein Zwischenspiel verbunden, den ersten Aufzug der Oper. Wenn Sie sich solcherart in Garmisch mit dem Manuskript bekanntgemacht haben werden, so rechne ich aufs bestimmteste auf die so dringend notwendige Begegnung in Wien am 10. Dezember. Ein längeres Gespräch nach soviel Korrespondenz tut uns beiden sehr not. Was mein eventuelles Eingreifen bei Dresdner Proben betrifft, so werde ich es so einzurichten trachten, daß ich im Jänner hin kann[,] und werde eingreifen, das heißt, falls Sie mir nach Lage der Dinge diesen Wunsch nochmals wiederholen, und nur im Sinne einer persönlichen Gefälligkeit für Sie, denn in gar keinem Sinne betrachte ich mich etwa als Mitautor und gedenke mich in keiner Weise als solcher aufzuspielen. Im gleichen Sinne bitte ich Sie, es aufzufassen, wenn ich Ihnen über Wien jetzt eine Bemerkung mache; ich mache sie als ein Ihnen wohlgesinnter Bekannter und mit dem Vorbehalte, daß ich mich irren kann und daß meine ganze Warnung gegenstandslos ist. Ich habe aber sehr den Eindruck, daß die Art, wie »Elektra« in Wien vorbereitet wird, wenn nicht von einem direkten Übelwollen, so doch von einem auffallenden Mangel an Liebe diktiert wird. (Nicht von Opern)2, nur von den Theaterverhältnissen im allgemeinen verstehe ich etwas und so ergibt sich das Fazit meiner Betrachtung: Da das Wiener Publikum noch immer gegen jedes Neue genau so stützig ist, wie zu Zeiten, da es einen »Fidelio« und »Don Juan« hat durchfallen lassen, und da es ferner gerade in Wien weniger auf das Werk selbst den Leuten (die in einer Première sitzen)3 ankommt, als auf das Drum und Dran, nämlich auf eine erste Besetzung und einen Dirigenten, von dem sie sich in ihrem eingebildeten Musikverständnis einbilden, er sei ein großer Mann, so habe ich den Eindruck, daß sich hier eine, in diesem vulgären Theatersinn glanzlose und daher nicht ungefährliche Première vorbereitet. Ich sage Ihnen dies alles aus zwei Gründen: entweder, damit Sie eingreifen und es ändern[,] oder aber, falls Sie dazu nicht in der Lage sind, damit Sie einfach durch Ihren Verleger es durchsetzen, daß die Wiener Première nicht zu bald auf die Dresdener folgen darf, sondern erst erfolgen darf, wenn schon Berlin und etwa auch eine ausländische Hauptstadt absolviert sind. Denn wenn schon eine ganze Reihe von Erfolgen, an denen ich nicht zweifle, vorliegen, so fällt natürlich der halbe Mißerfolg in Wien, an dem ich unter diesen Umständen auch nicht zweifle, weniger in die Waagschale. Auf die Inszenierung in Wien hätte ich, wenn Sie es gewünscht hätten, beim Vorhandensein eines so außerordentlichen Menschen wie Roller den erfreulichsten und weitestgehenden Einfluß nehmen können. Voraussetzung dazu ist aber eine dem Werk wirklich wohlgesinnte musikalische und theatralische Oberleitung. Andernfalls wäre es ja besser, wir halten uns beide von der Sache ganz fern und desavouieren das, was da gemacht wird, wenigstens durch persönliches Fernbleiben. Sie wissen ja darin übrigens viel besser Bescheid.

Ihr aufrichtig und herzlich ergebenerHofmannsthal

1Bisher irrtümlich auf den 7. X. 1908 datiert […]. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage].
2Text in Klammern von Hofmannsthal für die Erste Ausgabe ergänzt. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage].
3Text in Klammern von Hofmannsthal für die Erste Ausgabe ergänzt. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage].
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz, Adrian Kech

Quellennachweis

  • Original: Unbekannt

    • Autopsie: Keine Autopsie des Originals.

Bibliographie (Auswahl)

  • Edition in Richard Strauss / Hugo von Hofmannsthal / Willi Schuh (Hrsg.), Briefwechsel (= Serie Musik Piper/Schott, Bd. 8252), München und Mainz, 1990, S. 47–49. (Transkriptionsgrundlage)
  • Auszug in Hugo von Hofmannsthal / Mathias Mayer (Hrsg.) / Klaus E. Bohnenkamp (Hrsg.), Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, [Bd.] VII: Dramen 5, Frankfurt am Main, 1997, S. 445–446.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/d04552 (Version 2021‑09‑30).

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