Hochverehrteste gnädige Frau!
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Ihre schönen Ausführungen über unser Thema von Intelligenz und Gefühl glaube ich richtig erfaßt [zu] haben und freue mich sehr darauf, Ihnen durch mein im November vollendetes drittes sinfonisches Werk mit dem vorläufig unvollkommenen Titel: »Tod und Verklärung« bei unserem nächsten Zusammensein vielleicht schon einen bedeutenden Fortschritt auch in der Wahl meines künstlerisch zu gestaltenden Stoffes bekunden zu können. Es ist ja schwer zu entscheiden, in[wie]weit der Künstler auch für seinen Stoff verantwortlich ist (natürlich direkt), derselbe drängt sich ihm eben mit unabwendbarer Notwendigkeit auf und das »Wie« der Gestaltung ist des Künstlers nächste Frage und bedingt den an sein Kunstwerk anzulegenden Maßstab. Die »höhere Verantwortlichkeit«, von der Schopenhauer so schön am Schlusse seines ersten Buches der Ethik: »von der Freiheit des Willens« spricht, hat ja auch hierauf Bezug.
Ich fühle, daß dies alles vielleicht auch unvollkommen ausgedrückt ist, die Handhabung der Sprache für diese Themen fällt mir noch furchtbar schwer; wenn Ihnen das eben Gesagte, vielleicht mit Recht, dumm erscheint, legen Sie es, bitte, mit Güte und Nachsicht beiseite.
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Für heute leben Sie wohl; verzeihen Sie diesen in der vollen Aufregung der »Tannhäuser«-Proben, die nächsten Dienstag ihr Ende erreichen, geschriebenen, vielleicht etwas unruhigen Brief und bleiben Sie geneigt
Ihrem in größter Verehrung stets voll ergebenen
Richard Strauss
Tausend herzliche Grüße an Ihre verehrte Familie!