Hochverehrtester Herr von Bülow!
Endlich bin ich [die] dümmste aller Krankheiten, Influenza genannt, los und kann endlich der schönen Pflicht genügen, Ihnen, hochverehrtester Herr von Bülow, für die reizend liebenswürdige Übersendung Ihres Weihnachtsgeschenkes meinen herzlichsten Dank zu sagen. Strauss en miniature mit seinen langen Beinen und langem Halse ist wirklich porträtähnlich und hat mir und Freund Rösch großen Spaß gemacht. Tausend Dank nochmals, daß Sie meiner so freundlich gedacht. Verzeihen Sie wirklich, daß sich diese Danksagung so weit hinausgeschoben hat (es war wirklich nicht meine Schuld), bis sie sich mit den Glückwünschen zu Ihrem nun herannahenden 60ten Geburtstag, die ich mir heute in vollster Verehrung, innigster Treue und Dankbarkeit Ihnen darzubringen erlaube, vereinigt. Sie, hochverehrtester Meister, zu dem wir Jungen alle emporblicken als zu unserm einzigen und letzten Hort, der die Tradition für die Interpretation unsrer erhabensten Meisterwerke in seiner Hand hält, Sie möge uns Gott noch lange, lange in ungetrübter Jugendfrische und Kraft erhalten, daß wir das Glück haben möchten, recht viel von Ihrem Künstlergeiste in uns aufzunehmen und zum Heil unsrer schönen Kunst zu verwerten.
Dies sagt einer, dem es nicht einmal vergönnt ist, Ihren herrlichen künstlerischen Offenbarungen, von denen mir Freund Rösch wieder so viel erzählt, lauschen zu dürfen. Wie schmerzlich war es mir, daß ich nicht zur IXten da war! Die dümmste Arbeit von der Welt hielt mich hier mit eisernen Banden fest, die Korrekturen meiner gedruckten »Don Juan«-Stimmen, über denen ich Tag und Nacht saß, da sie zur bestimmten Stunde fertig werden mußten, da sonst die für 10. Jan. fest in Aussicht genommene »Don Juan«-Aufführung1 unmöglich geworden wäre. Ein schmählicher Grund, um nicht zur IXten zu kommen und doch für mich im Augenblick so zwingend, daß ein Auflehnen dagegen unmöglich war. Der Abend, an dem ich hier Stimmen korrigierend saß, während Sie in Berlin die IXte dirigierten, war mir ein Purgatorio für viele Sünden!
Na, Ende Januar bin ich sicher in Berlin und höre da vielleicht – ich getraue mir kaum, eine Bitte auszusprechen – eine Beethovensche Sinfonie oder gar eine Wagnersche oder Berliozsche Ouvertüre (»Holländer«, »Faust« oder »Lear«)? Verzeihen Sie, bitte, wenn dies unbescheiden ist, aber es wäre zu schön, und wir armen Provinzler, die kaum einmal im Jahre das Glück haben, in Ihrer Nähe zu sein, daß wir natürlich für alles dankbar sind, was Sie uns darbieten, ist ja selbstverständlich. Also nur für den Fall, daß Sie für das Januarkonzert in ganz besonderer Gebelaune sind, lieber, hochverehrtester Herr von Bülow!
Empfangen Sie nochmals meine herzlichsten, innigsten Segenswünsche u[nd] die besten Grüße, (die ich Sie auch Ihrer verehrten Frau freundlichst zu übermitteln bitte)
Ihres
in treuester Verehrung
ergebensten
Richard Strauss
1 | Die erste Dresdener Aufführung unter der Leitung von Adolf Hagen. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage]. |