Brief
Richard Strauss an Franz Strauß
Donnerstag, 4. Juli 1889, Bayreuth

relevant für die veröffentlichten Bände: III/3 Aus Italien

[1r]

Meiner lieber Papa!

Endlich eine freie Stunde, in der ich für Deinen lieben Brief danken u. Euch schreiben kann. Ich sitze täglich fast 8–9 Stunden im Festspielhaus; die Proben sind sehr interessant u. größtenteils genußreich; nur fehlen noch die ersten Sänger, Malten, Materna, Sucher, Gudehus, Vogl, Reichmann, die eben »schon alles können«. Ich spiele auf den Proben fleißig Clavier, souffliere Lievermann, dirigire die Chöre der mittleren Höhe, im übrigen höre ich zu, was jedenfalls das Schönste ist. Ich bin viel mit Else Ritter zusam̅en, mit der ich ihm im Frohsinn esse, wohin leider abends auch gewöhnlich Levi kom̅t; der Anblick von Else ist zwar jeds Mal ein Nagel zu seinem Sarg, er versucht aber die bittere Pille mit größter Unverfrorenheit hinunterzuschlucken. Sonst kom̅e ich nicht mit ihm zusam̅en. [1v] Leinhos sah ich erst einmal, er läßt Dich herzlich grüßen u. rät Dir mit mir, Dein Horn ja nicht an den Nagel zu hängen, da das plötzliche Unterlassen einer 43jährigen Lungengÿmnastik Deiner Gesundheit nicht zuträglich sein würde. Daß es auch sonst schade wäre, wenn Du zu blasen aufhören würdest, ist ja selbstverständlich. –

Über Wiesbaden wird Euch wohl Thuille erzählt haben, mehr, als ich Euch schreiben kann. Ich habe dort einen großen Erfolg als Dirigent u. Componist gehabt, Bronsart war sehr liebenswürdig u. entzückt. A propos. Müller-Hartung ist also von der Oper zurückgetreten, ich werde wahrscheinlich als erste Oper Zauberflöte bekom̅en. Br. [Bronsart] hat mich aus freien Stücken bis 8. September beurlaubt: zur Erholung; das Theater beginnt am 15. September. Hier wurden mir bereits gräuliche Dinge [2r] von der Disziplinlosigkeit des Weimaraner Orchesters erzählt, nur, wer Lust hat, kom̅t auf die Probe; mitten in der Probe hängt einer seine Geige an den Nagel u. hält eine Stunde. Concertmeister Halir kom̅t überhaupt auf keine Probe. etc. Na! Da heißt es, wie das heilige Donnerwetter dreinfahren, wen ich von Weimaraner Mitgliedern sprach, freuen sich alle auf eine strengere Zucht. Lassen sagte mir selbst, es gäbe viel aufzuräumen für mich, er selbst scheint gar keine Energie mehr zu haben u. läßt alles gehen! So hält er Lohengrinproben mit einem Cello, ohne I. Flötisten etc. etc. Als ich Bronsart sagte, wie sehr ich mich auf Weimar freute, gab er mir die Hand u. sagte: »keinesfalls freute ich mich so, wie er«.

Über Weimar hatte ich keine Gelegenheit, viel mit ihm zu reden. – Das Wiesbadener Kurorchester hat sich reizend [2v] benom̅en, die Leute haben trotz der größten Überanstrengung u. der furchtbaren Hitze mit einem Feuer u. Schwung gespielt, es war ganz famos. 17 Mitglieder haben mir hierher von der [Rheinfahrt] letzten Montag aus Rüdesheim eine reizende Begrüßungskarte geschickt, ich möchte dem Kurorchester gern einen Hectoliter Bier schicken, was kostet das? u. möchtest Du, lieber Papa, es nicht besorgen? Onkel Georg könnte eigentlich ein Fäßchen spendiren oder es zur Hälfte des Preises ablassen. Kapellmeister Lüstner hat sich reizend benom̅en.

Hanna soll mir hierher meine braune schöne Kravattennadel u. Visitenkarten schicken! Sonst ist alles gut angekom̅en u. in schönster Ordnung! Ich habe zwei sehr hübsche Zim̅er, Frau Wagner ist sehr liebenswürdig, Lievermann macht seine Sache, bis auf das Spiel, recht ordentlich, Mottl ist zwar ein falscher Tropf, aber sehr liebenswürdig u. mir als Dirigent, trotz seiner gewissen [3r] »genialen« Nachlässigkeit im Einstudiren, im̅er noch lieber als Levi, der es zwar genauer nim̅t, dessen Tempi aber von einem Tag zum andern verschieden, aber nie richtig sind. – Das Wetter ist sehr angenehm kühl u. erhole ich mich, trotzdem ich noch etwas müde bin, von der Wiesbadener gräulichen Hitze von 28° R. [Réaumur] im Schatten! Daß Onkel Carl nach Wiesbaden kam, hat mich riesig gefreut, Thuille’s Sextett hat außerordentlich gefallen u. eine famose Wiedergabe erfahren.

Die brillante Geschichte mit dem Brahmsschen Requiem, das ich durch Heroide funèbre ersetzte, die brillant ging u. einen großen Eindruck machte, hat hier bei Frau Wagner großen Effekt gemacht. – Entschuldigt dies Durcheinander von einem Brief, aber ich weiß kaum, wo anfangen vor lauter Stoff. Daß ich gleich den ersten Tag bei Frau Wagner zu Tisch geladen war, zu einem vorzüglichen [3v] Diner, habe ich wohl schon geschrieben. Die Aufführungen werden allem Anschein nach vorzüglich werden, bis auf die Levischen Tempis, mit denen Frau Wagner selbst sehr unzufrieden ist. Ich bin sehr vorsichtig, rede über alles dies fast gar nichts, wobei man sich am besten steht. Levi hat bis jetzt noch kein Wort über Dich gesprochen, er wird sich wohl auch hüten. Da ich um 5 wieder nach dem Festspielhaus muß, schließe ich für heute mit den herzlichsten Grüßen an Dich, lieber Papa, die gute Mama u. Hanna, Ritter’s Thuille’s

Euer R.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Quellennachweis

  • Original: Unbekannt

    • Hände:

      • Richard Strauss (handschriftlich)
    • Autopsie: Keine Autopsie des Originals.

    • Reproduktionen:

      • Bayerische Staatsbibliothek (München), Signatur: Ana 330.I. Strauss, Familie, Nr. 144c

        • Richard-Strauss-Archiv (Garmisch-Partenkirchen), Signatur: [RICHARD STRAUSS AN ELTERN u. SCHWESTER 1886–1893, Nr. 188] (Transkriptionsgrundlage)

          • Autopsie: 2017-07-25

    Bibliographie (Auswahl)

    • Edition in Richard Strauss / Willi Schuh (Hrsg.): Briefe an die Eltern 1882–1906, Zürich, Freiburg (Breisgau), 1954, S. 107.

    Zitierempfehlung

    Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/d01923 (Version 2023‑06‑15).