Meine liebe, gute Dora!1
Womit soll ich heute beginnen? Mit der Trauer über Deinen Brief, mit dem Dank für deine Namenstagsgratulation, mit Neuigkeiten, Erlebnissen – ? Kurz, ich weiß selbst nicht: Tatsache ist, daß mich Dein Brief mit der nun in absehbare Ferne rückenden Aussicht, Dich, meine süße Dora, wiederzusehen, tief betrübt und bewegt hat. Gott, was für hölzerne Ausdrücke für das, was ich empfinde – Trösten soll ich Dich? Ja, womit denn? Ich kann Dir doch nicht schreiben, »es ist nicht so gefährlich, Meister«, oder die »Zeit« heilt alle Wunden, denn gerade die Zeit schlägt ja die Wunden, Himmel, ich mache auch noch Witze – mit einem Worte: es ist abscheulich!!! –
Also Du gedenkst mir in späteren Jahren irgendwo einen Besuch abzustatten, da empfehle ich Dir ein noch nie gesungenes Lied von Richard Strauss: »Geduld« op. 10 As‑dur – A propos, hast Du den Klavierauszug der Italienischen Fantasie2 erhalten, wenn er Dir ein kleiner Trost ist, soll’s mich freuen! Jetzt Dir zu schreiben, daß es mir gut geht, ist eigentlich Hohn und doch ist es wahr, der Künstler Rich. Str. befindet sich auch ausgezeichnet seit der Münchner Hofmusikdirector aus ihm gefahren ist, nach dreijährigem Einatmen von Sumpfmiasmen tut frische Luft wirklich gut. Es wird mir zwar sehr schwer, München zu verlassen, fort von meiner Familie und von zwei Freunden wie Ritter und Thuille, an die ich mich so attachiert habe, wie Du es Dir kaum vorstellen kannst, aber ich muß, denn meine ganze Zukunft hängt davon ab, nicht auch vom Münchner Sumpffieber befallen zu werden. Mit Ritters Hilfe bin ich jetzt allerdings mit einer kräftigen Kunst‑ und Lebensanschauung ausgerüstet, habe jetzt nach langem Umhertappen festen Boden unter mir und kann es jetzt schon wagen, selbständig den Kampf mit den Juden und Philistern aufzunehmen. Denke Dir, ich bin jetzt schon unter die Lisztianer gegangen, kurz, ein fortschrittlicherer Standpunkt, als ich ihn jetzt einnehme, ist kaum mehr denkbar: Und doch fühle ich mich bei der Klarheit, die jetzt über mich gekommen ist, so wohl – doch das kann man alles nicht so schreiben. Du müßtest eben kommen und mich sehen; ob Du mich wiedererkennen würdest? – Nun will ich einmal Deine Fragen beantworten, in Bayreuth bin ich als Assistenz, Klavierproben usw. Ich habe neulich die Bekanntschaft von Frau Wagner3 gemacht, die sich sehr für mich interessiert, ich hatte sogar die Ehre, mit ihr zusammen im »Freischütz« zu sein. Wie das kam, ist eine sehr amüsante Geschichte! Der gute Levi ist auf die komischste Weise in eine mir gegrabene Grube selbst hineingefallen! – Wie es in Berlin war? So himmlisch, wie Du Dirs gar nicht vorstellen kannst, Ritter, Thuille und ich unter dem Motto:4
Die »Neunte« war unbeschreiblich herrlich, die »Tannhäuser«‑Ouvertüre einfach das fabelhafteste, mir schaudert heute noch, denke ich an die Klänge! Bülow dirigierte einfach wie ein Gott, trotzdem er sich sonst, auch der heilige lederne Johannes5 war da, ziemlich hanswursthaft, auf der anderen Seite wieder ungeheuer rührend benommen hat! »Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust!« Der arme Mann! Gott, was hätte ich Dir alles zu erzählen! Und Du kommst nicht!!! – Bis dahin hab’ ich ja alles wieder vergessen. –
Wenn Dir dies alles Unsinn dünkt, so hat es doch Methode! Herrgott! Ich kriege ja den Citatterich! (Neuester dem »Berliner Geist« entsprungener Witz Thuille’s.) Bülow ist wohlbehalten in Amerika, um – Geld zu verdienen! Wohin ich gehe? Ja, wenn Du’s niemanden zu schreiben und zu sagen versprichst, denn es muß doch tiefes Geheimnis bleiben, – nach »Weimar«! Tausch gegen München! In die Zukunftsstadt Weimar, an den Platz, wo Liszt so lange wirkte! Ich erhoffe mir sehr viel von dort! Bronsart ist ein famoser Kerl, ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle (ganz wie Perfall), außerdem ist Lassen alt und müde und freut sich auf Entlastung (ganz wie Fischer). Mein Schüler Zeller ist als Heldentenor vom nächsten September an ebenfalls dort engagiert, eine der ersten Opern, die ich dort dirigieren werde, wird Ritters »Fauler Hans« mit Zeller in der Titelrolle, und seine neueste einaktige Oper: »Wem die Krone«6 sein! Kurz, ich glaube, es wird ganz famos. Bronsart ist zudem jetzt Vorstand des allgemeinen Tonkünstlervereins und hat mich vor einigen Tagen eingeladen, für den Fall, daß Nikisch aus Leipzig, was sehr wahrscheinlich, verhindert wäre, außer meiner Italienischen Fantasie die beiden ersten Concerte der diesjährigen Versammlung in Wiesbaden 27. und 28. Juni zu dirigieren; darunter »L’enfant du Christ« von Berlioz! Famos, nicht? – Ja, dem Künstler Strauss geht es wirklich gut! Aber kann denn kein Glück vollkommen sein?! –
Auf der Rückreise von Berlin war ich in Meiningen und ließ mir 4 mal meinen »Macbeth«, den Steinbach bereits studiert hatte, vorspielen; er klingt grausig, macht aber, glaube ich, auf tiefe Gemüter schon Eindruck! Momentan arrangiere ich ihn vierhändig und hoffe, ihn dieses Frühjahr herauszugeben. Im Operntext7 habe ich den ersten Akt und den zweiten Akt bis Schluß der großen Liebesszene sowie (d. h. bis zur nächsten Bearbeitung) fertig. Ritter ist sehr zufrieden damit.
Außerdem habe ich eine neue Tondichtung (wahrscheinlich mit dem Titel: »Tod und Verklärung«) in der Skizze fertig und werde wahrscheinlich nach Ostern die Partitur anfangen. –
A propos! Wenn die Wagnerschen Schriften, die ich Dir schickte, ausgelesen sind, sei doch so gut, sie mir zurückzusenden, da ich alle jetzt binden lassen will! Dostojewski, nicht wahr?!!!
Noch eines! Wenn Du wüßtest, wie ich Deine Briefe lese, würdest Du nicht von distractions par une comtesse8, die übrigens ein reizendes Geschöpf, ein furchtbares Zukunftsmusiknärrchen und eine der wenigen großen Verehrer Deines Richard ist, schreiben! Da fällt mir übrigens ein reizendes Wort von Wagner ein! In einem Brief an Uhlig hält er diesem als Vorbild Ritters Schwester Emilie vor und schreibt dazu: die Frauen sind noch unser Trost; denn jede Frau kommt als Mensch auf die Welt, während jeder Mann als Philister geboren wird und lange braucht, bis er sich, wenn überhaupt, zum Menschen durcharbeitet!! – Ja, ja, warum also nicht! Zudem gewinne ich einen »wirklichen« guten »Menschen« »unserer« Kunst, die allerdings himmelweit verschieden von dem ist, was man heutzutage für »Musik« hält!
Nun aber: herzlichen Dank für Deine lieben Glückwünsche, Du gute, getreue; ich füge nur von ganzem Herzen bei, mögen sich mir nie die Wünsche erfüllen, die den Deinigen zuwiderlaufen – nur darfst Du mich wirklich nicht so lange allein lassen – Gott, zwei Jahre hoffe ich, um nach Ablauf dieser Frist das Buch der Hoffnungen zuzuschlagen mit den Worten: »’s will halt’ nicht gehen«.9 Na, ich will nicht auch noch sentimental werden, wenn aber mein neues Orchesterstück mehr Dissonanzen enthält, als Deine kleinen Ohren vertragen können, so darfst Du eben nicht murren!
Nun, leb wohl, bleib mir gut und lasse mich diesmal nicht so lange auf Antwort warten.
Dein alter getreuer R.
1 | Strauss lernte Dora Wihan, die erste große Liebe im Leben des jungen Strauss, 1883 in München kennen. Damals war er erst neunzehn Jahre, sie dreiundzwanzig Jahre; in der Ehe mit dem Cellisten Hans Wihan gab es Spannungen. Der offenbar umfängliche, sich bis 1893 erstreckende Briefwechsel zwischen beiden ging verloren: Kurz nach Doras Tod 1938 in Dresden verbrannte die Schwester, einer Anordnung der Verstorbenen folgend, die Korrespondenz. Nur der eine Brief vom April 1889 (der sich im Besitz des Herausgebers befindet) blieb durch Zufall der Nachwelt erhalten. Von Dora Wihan-Weis’ Briefen sind drei bekannt. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage]. |
2 | »Aus Italien«. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage]. |
3 | Irrtum: Shaw begegnete Cosima Wagner bereits Sommer 1886 flüchtig in Bayreuth. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage; gemeint ist Strauss, nicht Shaw]. |
4 | Hier folgt ein Notenbeispiel mit Textunterlegung: »Herr gott san mir Leut’!«. |
5 | Auf Bülow und Brahms fällt hier schärferes Licht: »hanswursthaft« und der »lederne Johannes«. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage]. |
6 | Beide Opern wurden am 8. Juni 1890 ur- und erstaufgeführt. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage]. |
7 | »Guntram«. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage]. |
8 | Hier ist Thuilles Schülerin, die Comtesse Montgelas, gemeint. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage]. |
9 | Es bleibt offen, ob sich Strauss hier bereits zur endgültigen Resignation bekennt. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage]. |