Hochverehrtester Herr von Bülow!
Herzlichen Dank für Ihre liebenswürdigen Zeilen u[nd] die freundlichen Ratschläge, die ich nach bestem Wissen und Gewissen, u[nd] mit dem Aufwand meiner ganzen diplomatischen Schläue befolgen werde. Mit der f-moll-Sinfonie dürfte es wohl in Karlsruhe vergeblich sein, noch einen Versuch zu machen, nachdem voriges Jahr Mottl die Partitur derselben mit dem Bedauern, sie nicht aufführen zu können, zurückgesandt hat. Da werde ich es denn doch auf Durchfalls Gefahr hin mit No. 2 versuchen müssen, die ich demnächst mit einer höflichen Dedikation an Mottl zu schicken gedenke. »Macbeth« ruht einstweilen stillresigniert in meinem Pulte begraben, die darin niedergelegten Dissonanzen suchen unterdessen sich gegenseitig aufzufressen. »Don Juan« wird ihm vielleicht bald Gesellschaft leisten. Auf beider Grabe erblüht einstens vielleicht jenes geheuerliche Blümlein, mit dessen stiller Poesie in zweifachem Gehölze ich mich allmählich zu befreunden bemühte. Doch nun ernsthaft gesprochen: das zweifache Holz verspreche ich Ihnen für meine weitern Arbeiten ganz sicher! Auch mit Beschränkung der großen technischen Schwierigkeiten werde ich mir die denkbar größte Mühe geben. Ob ich aber vorläufig auf dem Wege, auf dem ich in konsequenter Entwicklung von der f-moll-Sinfonie her gelangt bin, umkehren kann, darüber kann ich jetzt noch nichts Bestimmtes äußern. Eine Anknüpfung an den Beethoven der »Coriolan«-, »Egmont«-, »Leonore« III.‑Ouvertüre, der »Les Adieux«, überhaupt an den letzten Beethoven, dessen gesamte Schöpfungen nach meiner Ansicht ohne einen poetischen Vorwurf wohl unmöglich entstanden wären, scheint mir das einzige, worin eine Zeit lang eine selbständige Fortentwicklung unserer Instrumentalmusik noch möglich ist. Wenn mir die künstlerische Kraft und Begabung fehlen sollte, auf diesem Wege was Ersprießliches zu leisten, dann ist es wohl besser, es bei der großen 9 mit ihren 4 berühmten Nachzüglern zu belassen; ich sehe nicht ein, warum wir uns, bevor wir unsere Kraft erprobt haben, ob es uns möglich ist, selbständig zu schaffen und die Kunst vielleicht einen kleinen Schritt vorwärts zu bringen, sofort in das Epigonentum hineinreden wollen und uns im voraus auf diesen Epigonenstandpunkt stellen wollen; wenn’s nichts geworden ist – na: dann halte ich es immer noch für besser, nach seiner wahren künstlerischen Überzeugung vielleicht auf einem Irrweg etwas Falsches, als auf der alten ausgetretenen Landstraße etwas Überflüssiges gesagt zu haben. –
Gestatten Sie mir noch eine kleine Expektoration, in der es mir vielleicht gelingt, Ihnen genau meinen Standpunkt zu präzisieren, vielleicht kann ich Ihnen schriftlich sagen, was ich mündlich nicht gekonnt habe. –
Ich habe mich von der f-moll-Sinfonie weg in einem allmählich immer größeren Widerspruch zwischen dem musikalisch-poetischen Inhalt, den ich mitteilen wollte u[nd] der uns von den Klassikern überkommenen Form des dreiteiligen Sonatensatzes befunden. Bei Beethoven deckte sich musikalisch-poetischer Inhalt meistens vollständig mit eben der »Sonatenform«, die er zur höchsten Vollendung steigerte und die der erschöpfende Ausdruck dessen ist, was er empfand und sagen wollte. Doch finden sich schon bei ihm Werke (der letzte Satz der letzten As‑Dur-Sonate, Adagio des a‑moll-Quartetts etc.), wo er sich für einen neuen Inhalt eine neue Form schaffen mußte. – Was nun bei Beethoven einem höchsten, herrlichsten Inhalte absolut kongruente »Form« war, wird nun seit 60 Jahren als eine von unserer Instrumentalmusik unzertrennliche (was ich entschieden bestreite) Formel gebraucht, der ein »rein musikalischer« (in des Wortes strengster und nüchternster Bedeutung) Inhalt einfach anzubequemen und einzuzwängen, oder schlimmer, die mit einem ihr nicht entsprechenden Inhalte an‑ und auszufüllen war. –
Will man nun ein in Stimmung u[nd] konsequentem Aufbau einheitliches Kunstwerk schaffen und soll dasselbe auf den Zuhörer plastisch einwirken, so muß das, was der Autor sagen wollte, auch plastisch vor seinem geistigen Auge geschwebt haben. Dies ist nur möglich infolge der Befruchtung durch eine poetische Idee, mag dieselbe nun als Programm dem Werke beigefügt werden oder nicht. Ich halte es nun doch für ein rein künstlerisches Verfahren, sich bei jedem neuen Vorwurfe auch eine dementsprechende Form zu schaffen, die schön abgeschlossen und vollkommen zu gestalten allerdings sehr schwer, aber dafür desto reizvoller ist. Ein rein formales, Hanslicksches Musizieren ist dabei allerdings nicht mehr möglich, nun wird es aber auch keine planlosen Floskeln, bei denen Komponist und Hörer sich nichts denken können, und keine Sinfonien (Brahms selbstverständlich ausgenommen) mehr geben, die mir immer nur den Eindruck eines riesigen, einem Herkules angemessenen Gewandes machen, in dem ein dünner Schneider sich elegant bewegen will. –
Der genaue Ausdruck meines künstlerischen Denkens und Empfindens, u[nd] im Stil das selbständigste und zielbewußteste Werk, das ich bis jetzt gemacht habe, ist nun »Macbeth«. –
Vielleicht befreunden Sie sich an einem neueren Werke von mir, das einen weniger schroffen und grausigen Inhalt als »Macbeth« hat, mit dem von mir nun eingeschlagenen Wege.
Wenn nicht, so verzeihen und vergessen Sie, bitte, diesen schwachen und vielleicht unklaren Versuch, von Ihnen wenigstens »nicht ungehört zu bleiben«. – Indem ich Ihnen nochmals herzlichen Dank für Ihre lieben Zeilen sage, verbleibe ich mit der Bitte, mich Ihrer Frau bestens empfehlen zu wollen, und den herzlichsten Grüßen
Ihr in ausgezeichnetster Hochachtung u[nd] Bewunderung stets treu ergebenster
Richard Strauss
Herzliche Grüße von Ritter und Spitzweg.