Brief
Richard Strauss an Ludwig Thuille
Montag, 15. Juni 1885, Frankfurt (Main)

relevant für die veröffentlichten Bände: I/3a Salome
[1r]

Liebster, treuster Freund!

Leider komme ich erst heute dazu, Dir ein Paar Zeilen zu schreiben[,] aber ich hatte u. habe noch so viel zu thun, daß Du mir schon verzeihen mußt. Hast Du Papa nicht inzwischen gesehen? Nein? Dann muß ich wohl alles erzählen. Also Montag nach einer schauerlich heißen Fahrt im Hotel du Nord hier angekommen, besuchte ich gleich 3/4 8 Uhr Bülow, der mich aufs freundlichste empfing und noch immer die Liebenswürdigkeit selbst ist. Ihn als unsern größten Pädagogen zu bewundern, habe ich täglich Gelegenheit, ich wollte, Du wärst hier, die Stunden im Raffconservatorium würden Dir auch Spaß machen. Leider ist dort die Mehrzahl Frauenzimmer, die ihn eben gar nicht oder falsch verstehen. Ich wünschte vielen Musikern auch 40 u. 50-jährigen, daß Ssie diesen Stunden beiwohnen könnten.
[1v] Was kann man alles von ihm lernen! Die hiesigen Musiker haben mich alle aufs zuvorkommendste empfangen, ich besuchte Goltermann, Dessof[,] Bernhard Scholz, Concertmeister Herrmann, bei welchem ich letzten Dienstag zum Souper war, wo ich die Princessin von Meiningen kennen lernte, die zwar nicht hübsch, aber sehr freundlich u. klug ist. Mittwoch Abend besuchte sie das Raffconservatorium, wo ich ihr, von Bülow aufgefordert, meine Variationen vorspielte, die der Situation angemessen, aber ganz leidlich gingen. Als ich aufhörte, hatte ich allerdings ein halbes Nervenfieber. Die ersten Worte Bülows danach waren: Donnerwetter, das ist ja eine gefährliche Concurrenz, er lobte die Variationen sehr, wobei ich in Erinnerung brachte, daß sie ihm gewidmet seien. Später sagte er zu mir speciell: »es ist gut, daß die HPrincessin vor Ihrem Klavierspiel Respect bekommen hat, daß Sie in Meiningen mit ihr 4händig spielen müssen[«]. Freitag hat Bülow an den Herzog geschrieben. So ist nun alles im schönsten Gange, ich amüsire mich hier gottlvoll, habe eine Aufführung der Walküre überstanden, eine neue Oper von Massenet »Herodias« [2r] gesehen, die besonders die Balletmusik1 teilweise recht hübsch, aber im ganzen unbedeutend ist und einen schlechten Text hat. Den größten Kunstgenuß hatte ich, als Bülow neulich uns den letzten Satz der Sonate op. 111 in Cmoll von Beethoven vorspielte, wobei ich allerdings bemerkte, daß dieser Satz wunderschön ist. Samstag sah ich Heyses neueste Tragödie »Don Juans Ende«, die wirklich famos ist u. mir von neuem einen großen Respect vor Heyse beigebracht hat. Gestern machte ich zu Wagen mit Bülow, seiner reizenden Frau, dem Musikalienhändler Steyl (einem reizenden Menschen) mit Frau, Herrn Fleisch mit Frau vom Raffconservatorium (einem gebornen [sic] Münchner) eine Tag[e]spartie in den Taunus, die landschaftlich entzückend, gesellschaftlich äußerst amüsant u. gemütlich war. – Neulich besuchte ich den hiesigen Museumsconcertdirector Müller, der wahrscheinlich nächste Saison meine Ouvertüre machen wird. An Componisten lernte ich ferner Fritz Steinbach aus Mainz u. Anton Urspruch kennen. Heute erhielt ich einen Brief von Radecke, der mir eine Aufführung meiner Sinfonie in Berlin für nächste Saison in Aussicht stellt. Auch Wolfrum schrieb [2v] mir einen sehr netten Brief mit der Aufforderung, für die Feier des 500jährigen Bestehens der Universität Heidelberg eine Festmusik zu componiren. Auf der Rückreise werde ich ihn wahrscheinlich besuchen. Bis auf die arg vielen Juden ist Frankfurt ein reines Paradies, in dem es mir ausgezeichnet gefällt. Ich bin fast jeden Abend mit Bülow zusammen im Restaurant Börse bei Hofbräuhausbier, darnach im Cafè Bauer bei Eis oder Eiskaffèe [sic]. Dir geht es hoffentlich gut. Heute hat es den ersten Tropfen geregnet, bis jetzt wolkenlos. Nun leb wohl! Grüße mir, Stäger [?], Sander, Mackert, Welti, Theodor, Heim und sei selbst aufs herzlichste gegrüßt
von Deinem alten Richard.

Ich wohne privat Altgasse 73/3.

Wenn Du Zeit hast, so schreib mir bald.

Entschuldige den miserablen Stil u. die scheußliche Schrift, aber ich sitze nun fürchterlich schwitzend schon die fünfte Stunde am Schreibtisch.

1Die genaue Zuordnung der Einfügung unklar - sie steht genau über der Passage »teilweise recht hübsch« ohne Einfügungszeichen
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Claudia Heine

Quellennachweis

  • Original: Bayerische Staatsbibliothek (München), Signatur: Ana 493.I.2.Strauss, Richard, Nr. 25 (Autograph) (Transkriptionsgrundlage)

    • Hände:

      • Richard Strauss (handschriftlich)
    • Autopsie: 2017-12-22

Bibliographie (Auswahl)

  • Edition in Richard Strauss / Ludwig Thuille / Alfons Ott (Hrsg.): Richard Strauss und Ludwig Thuillle: Briefe der Freundschaft 1877–1907 (= Drucke zur Münchner Musikgeschichte, Bd. 4), München, 1969, S. 193–194.
  • Edition in Richard Strauss / Ludwig Thuille / Franz Trenner (Hrsg.): Richard Strauss – Ludwig Thuille: Ein Briefwechsel (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft München, Bd. 4), Tutzing, 1980, S. 83.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/d01642 (Version 2019‑04‑12).

Versionsgeschichte (Permalinks)