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Schoenaich, Gustav
»Wien. (Philharmonisches Concert. Lillian Henschel, Ilona Eibenschütz, Florence May.)«
in: Neue musikalische Presse, Jg. 5, Heft 2, Sonntag, 12. Januar 1896, Rubrik »Opern- und Concertberichte.«, S. 4–5

relevant für die veröffentlichten Bände: III/7 Till Eulenspiegels lustige Streiche
[4] Wien. (Philharmonisches Concert. Lillian Henschel, Ilona Eibenschütz, Florence May.)

Das Programm des am vergangenen Sonntag stattgehabten philharmonischen Concertes schien in der Voraussetzung angeordnet, dass jeder Zuhörer einen Drehstuhl im Gehirn mit sich trage. Anders können wir uns die Anforderung nicht erklären von viererlei so schnell wechselnden Standpunkten aus Musik zu hören. Eine Mozartsymphonie aus Arkadien, Strauss »Till Eulenspiegel« aus Cayenne, Mendelssohn’s Hebridenouverture in tadelloser Eleganz, wie Bulwers »Pelham« vorüberschreitend und Bruckners Es-dur Symphonie, echter Hermelin unter dem die oberösterreichische Bauernjacke hervorguckt, welche von Knöpfen zusammengehalten wird, die theils aus contrapunktischen Zwanzigern, theils aus echten Diamanten gedreht sind! Wohl bekomm’s! Und dazu ½1 Uhr Mittag, der Zenith menschlicher Nüchternheit.

Unter den jungen Componisten, von denen die meisten von der Wucht der Erscheinung Richard Wagners bereits zerquetscht, eigene Laute nur mehr stammelnd oder gar nicht hervorbringen können, nimmt Richard Strauss eine hervorragende Stelle ein. Aus Allem, was bisher von ihm in die Oeffentlichkeit gedrungen, auch aus dem Unerfreulichen, spricht etwas Persönliches, unverkennbare Ansätze zu einer eigenen Sprache. Das grosse Vertrauen, welches Hans von Bülow, dem alle Nachtreterkunst verhasst war, in die Begabung des jungen Mannes – er steht heute im 31. Jahre – gesetzt, scheint uns ganz gerechtfertigt. Richard Strauss’ musikalische Erziehung ist eine tiefgründliche. Erst nachdem er sich im Centrum des Musicierens, in allem Technischen, ganz erstaunliche Kenntnisse erworben hatte, begann er excentrisch zu werden. Der feste Zusammenhang aber mit den guten Grundlagen, die er nie verlieren kann, sichert ihn davor, sich je ganz zu verfliegen. Seine neueste Composition: »Till Eulenspiegels lustige Streiche«, gibt davon ein sehr wohltönendes und kaum widersprechliches Zeugniss. Programmmusik ist das Stück nur in einem Sinne, der von jeher und und [sic] wohl für immer als erlaubt gegolten hat und gelten wird. Ausdrücklich hat Strauss es abgewiesen, die Einzelnheiten seiner Partitur mit Vorgängen der Eulenspiegelgeschichte in directe Beziehung zu bringen. Er hätte die Ouverturenform wählen können, und wäre dazu ebenso legitimirt gewesen, wie [5] Reinecke zu seiner Nussknackerouverture und unzählige Andere, welche für solche beliebige Titel gewählt haben. Geistreicher und aparter, hat er sein Stück in eine erweiterte Rondeauform gegossen, die mit lebendigem Gehalt erfüllt, dem Hörer einen festen Halt gibt. Wir sind nicht bemüssigt, einzelne Theile des Stückes mit bestimmten äusseren Vorgängen in Verbindung zu bringen und das feste Gefüge ermöglicht uns die Grundstimmung des Ganzen, wie sie durch die Themen angeschlagen, variationenartig erschöpft wird, durch Programmzumuthungen ungestört, in uns aufzunehmen und zu geniessen. Wir wissen nicht, ob – wenn das Stück ohne Titel in die Welt geschickt worden wäre – der Name »Eulenspiegel« aus dem Hörerkreise ihm angeheftet worden wäre – aber der zwischen Humor, Sarkasmus und Ironie oscillirende Grundcharakter leuchtet aus jedem Takte, vielleicht hie und da allzu grell, hervor. Das Stück ist blendend geistreich, zerfällt nicht in einzelne Theile, nimmt die intellectuelle Seite des Hörers vielleicht mehr als dessen Empfindung gefangen – lässt ihn aber in seiner zwingenden Logik und geschickt abgemessenen Ausdehnung keinen Augenblick ohne Anregung. Es ist eminent unterhaltend. Die aufgebotenen Mittel sind allerdings sehr opulent. Bedenkt man aber, dass vom Tode Gluck’s bis zur Entstehung der phantastischen Symphonie von Berlioz keine 50 Jahre verflossen, so könnte man sich abwechslungsweise einer Befriedigung über die verhältnismässig so geringe Steigerung der Ausdrucksmittel in dem seither verflossenen grösseren Zeitraum hingeben. Dass ein Tonwerk, dessen Wirkung mehr auf den Geist als auf das Gemüth zielt, heute willigere Hörer findet, kann nicht überraschen, zu einer Zeit, in der jede »Wahrheit« den Wurm des Fragezeichens, wie durch Selbstzeugung gebiert. Vielleicht wird das sich dereinst ändern, wenn ein tiefer aber zeugungskräftiger Irrthum die Culturwelt wieder genügend einseitig aber machtvoll gestaltet. Die heutigen Irrthümer sind dazu zu schäbig. Wir sprechen unser Wohlgefallen an dem Werke Strauss’ nicht im Namen eines »Principes« oder einer »Richtung« aus. Wird man alt, so versteht man den Teufel dahin, dass Gesetze am besten von denen eingehalten werden, aus deren Geist sie hervorgegangen, und Richtungen am erfolgreichsten von denen eingeschlagen werden, die sie betreten haben. Wir halten den »Eulenspiegel« für ein sehr persönliches Stück und für einen genialen Wurf. Dass Strauss nicht mit sich spassen lässt, davon kann die Partitur des Werkes Jeden leicht überzeugen. Eine billige Wirkung, die etwa auf einigen klug ersonnenen Klangeffecten beruht, ist es sicher nicht. Dennoch ist ihm jene Drastik und Plastik eigen, die zu den unentbehrlichen Eigenschaften jedes bedeutenden Musikstückes gehört. Erziehen wir in uns einige Goethe’sche Toleranz für Eigenart und Persönlichkeit und wir werden erkennen, dass wir an solch’ exotischen Gewächsen uns ganz ungestraft erfreuen dürfen. Das flammende Schwert des [Aesthetikers], das solchen Erscheinungen den Eintritt verwehren will, versengt den nicht, der ihm muthig die Brust bietet, und sieht man’s näher an, so hat es eine verzweifelte Aehnlichkeit mit dem Bakel des Schulmeisters.

[…]
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Schenk, Stefan

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b45980 (Version 2025‑06‑04).

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