Otto Lessmann
[ohne Titel]
in: Allgemeine Musik-Zeitung. Wochenschrift für die Reform des Musiklebens der Gegenwart. (Allgemeine Deutsche Musik-Zeitung), Jg. 18, Heft 9, Freitag, 27. Februar 1891, Rubrik »Aus dem Konzertsaal«, S. 115–116

relevant für die veröffentlichten Bände: III/6 Tod und Verklärung

[115] Im IX. Philharmonischen Konzerte führte Herr von Bülow Raff’s Ouverture »Eine feste Burg« und die F-dur-Sinfonie von Brahms auf, und zwar beide Werke mit höchster Feinheit und Klarheit. […] [116] […] Das Hauptinteresse zog die Erstaufführung der sinfonischen Dichtung »Tod und Verklärung« von Richard Strauss auf sich, die unter Leitung des Komponisten stattfand. Die poetische Idee dieses grossartigen Werkes ist in dem Titel deutlich ausgedrückt: eine faustische Natur kommt zum Sterben; Lebenstrieb und Todesmacht ringen mit einander um den Sieg. In einem Augenblick der Erschöpfung übersieht der Sterbende sein ganzes Leben: der Kindheit unschuldsvolles Spiel, des Jünglings keckeres Wagen, den heissen Kampf des reifen Mannes um die höchsten Lebensgüter, den ewig ungestillten, alle Schranken übersteigenden »heil’gen Drang« nach dem Ideal, das, immer erschaut und nimmer erreicht, selbst noch in der Todessstunde [sic] den Geist beschäftigt, dies alles überfliegt wie im Fieberwahn der Sterbende, bis der letzte Schlag erdröhnt, sein Auge mit Todesnacht bedeckt wird, und nun aus dem Himmelsraum ihm mächtig entgegentönt, was er ruhelos sehnend hier gesucht hat: Welterlösung, Weltverklärung!

Dies Programm deckt sich einigermaassen mit dem zu Liszt’s »Préludes«, nur dass dies letztere mehr an äussere Lebensvorgänge anknüpft, während die poetische Idee zu Strauss’ sinfonischer Dichtung viel mehr aus der Tiefe des Geisteslebens aufsteigt. Dementsprechend ist dies Werk viel mehr »Dichtung«, als jenes Liszt’sche, in welchem die äussere Entwicklung eines Menschenlebens musikalisch zwar sehr schön, aber doch nur äusserlich geschildert wird; und wie die poetische, so ist auch die rein musikalische Potenz in dem Strauss’schen Werke eine bedeutendere, so dass, wie ich schon früher hervorhob, in Rich. Strauss einstweilen der berechtigte Erbe des Instrumentalkomponisten Liszt zu erblicken ist, der die geistreiche Idee seines grossen Vorgängers von der Weiterentwicklung der sinfonischen Form aufgenommen und mit dem künstlerischen Vermögen eines auf dem Boden der modernen Kunstanschauung stehenden echten, erfindungsreichen Genies praktisch auszubauen berufen ist. »Macbeth«, »Don Juan« und nun »Tod und Verklärung« sind die Früchte des Strauss’schen Kunstschaffens in dieser Richtung, und es ist beachtenswerth, dass ein hochbegabter Künstler, der im Alter von 26 Jahren bereits die höchste Meisterschaft und eine vollkommene Eigenart in der Beherrschung der musikalischen Ausdrucksmittel bekundet, und der regelrecht seine künstlerische Entwicklung von Mozart angefangen und über Bach, Beethoven, Brahms zu Liszt, Berlioz und Wagner fortgeführt hat, endlich den Schematismus der Sinfonie fallen lässt und für seine reiche dichterisch-musikalische Fantasie neue Ausdrucksformen sucht und findet. Es ist gleichgiltig, ob diese Werke unserm Publikum im Grossen und Ganzen sogleich zusagen oder nicht. Würden sie sofort Allen gefallen, so dürften sie kaum auf Eigenart Anspruch erheben. Diese Tonsprache aber ist neu, und es wird immerhin Zeit kosten, bevor unser Konzertpublikum sich mit ihr befreundet. Die wunderbare Behandlung des Orchesters scheint indess allseitig zugestanden zu werden, ebenso die aussergewöhnliche Dirigentenbefähigung des Komponisten, unter dessen Leitung das Orchester eine wahre Heldenthat vollbrachte. Die Aufnahme des Werkes war trotz allem über Erwarten warm; ich glaube, die Zuhörer standen doch, mehr oder weniger bewusst, unter dem Bann einer ganz seltenen schöpferischen Begabung. Es ist schade, dass das Programmbuch nicht eine musikalische Analyse des Werkes enthielt; bei vielen Zuhörern würde das Auge in diesem Falle dem Ohre wesentlich zu Hilfe gekommen sein. Herr Strauss hat sein Werk am Dienstag Abend noch einmal in einem populären Philharmonischen Konzerte aufgeführt und auch das andersgeartete Publikum hat ihm und seinem Werke eine äusserst warme Aufnahme bereitet.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Bibliographie (Auswahl)

  • Scott Allan Warfield: The genesis of Richard Strauss's »Macbeth«: [Dissertation], Chapel Hill: University of North Carolina, 1995, S. 439–441.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b45636 (Version 2022‑11‑18).

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