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Closson, Ernest
»Salome in Brüssel. (Erste Aufführung des Werkes in französischer Sprache.)«
in: Signale für die Musikalische Welt, Jg. 65, Heft 26, Mittwoch, 3. April 1907, S. 433–437

relevant für die veröffentlichten Bände: I/3b Salome (Weitere Fassungen)
[433]
Salome in Brüssel.
(Erste Aufführung des Werkes in französischer Sprache.)

So hätten also auch wir unsere Salome gehabt – sie hat dasselbe Interesse erweckt, wie Debussys Pelleas. Man kann nichts sagen als : ein schönes Repertoire ! Die Salomeaufführungen bieten, wie ich schon erwähnte, noch das besondere Interesse, daß es sich bei ihnen um die französische Kreierung eines zu einem französischen Libretto geschriebenen Werkes handelt.

Hier begegnete das Werk nicht denselben moralischen Bedenken wie anderswo. Man ist bei uns in dieser Beziehung ziemlich tolerant. Natürlich wetterten die katholischen Zeitungen. Aber in der ziemlich frei gesinnten Stadt Brüssel bilden sie doch nur ein Bruchteil der öffentlichen Meinung ; man hatte dieselben Dinge, ohne besseren Erfolg, schon gelegentlich des Erscheinens der Herodias [sic] von Massenet geschrieben. Dessenungeachtet gebe ich ohne weiteres zu, daß ich Oscar Wildes Buch nicht eben hochschätze. Es ist zweifellos ein ungesundes Werk, und man versteht, daß sich Strenggläubige, wenn sie eine der großen Gestalten der christlichen Vergangenheit in die Handlung gezogen sehen, bei aller Schönheit und Erhabenheit der ihr zuerteilten Rolle abgestoßen fühlen. Die Schlußszene hat wirklich etwas Verletzendes. Es fehlt ihr an Takt, Geschmack und jenem »Maßhalten«, das doch zu den notwendigen Attributen der großen Kunst gehört. Was Salome, die Hauptfigur des Dramas, anlangt, so hat man sich viel Mühe gegeben, in ihr psychologische [434] Abgründe zu entdecken : ich glaube, ihr Fall liegt viel einfacher und wird in Spezialanstalten unter dem Namen Hysterie behandelt. Diese Abneigung gegen das Junge, Schöne, Gesunde, ihre unwiderstehliche Neigung zu dem Körper, den sie auf dem Grunde der Cisterne bemerkt und dessen »Fleisch kalt sein muß wie Elfenbein«, ist nichts weiter als Sadismus.

Mich für meine Person stört das Unmoralische des Stückes durchaus nicht. Wir haben vieles derartige in der Literatur und auf der Bühne erlebt und werden es leider noch erleben. Wenn ich aber das Drama unter dem Gesichtspunkte der Psychologie betrachte, so meine ich, Wilde hat unrecht daran getan, Salome jene (dem Evangelienbericht entsprechende) Verbrechernaivetät zu nehmen, die die Gestalt in so einzigartiger Weise charakterisiert und sie in so kräftigem Relief von dem düsteren Hintergrund dieses Kriminalmilieus loslöst. Das hatte Flaubert in der Herodias, jener wundervollen Erzählung und Perle der französischen Literatur, die Wilde die Anregung gab, sehr wohl verstanden. Bei ihm ist Salome nur ein Werkzeug ; wenn sie das Haupt des Vorläufers erbittet, gleicht sie einer Schülerin, die eine schlecht gelernte Lektion vorträgt : … Und, etwas lispelnd, sprach sie mit kindlichem Ausdruck die Worte : »Ich will, daß du mir gebest in einer Schüssel das Haupt von …« Sie hatte den Namen vergessen und beginnt lächelnd von neuem : »das Haupt von Jochanaan !«

Die literarische Form von Wildes Werk steht, obwohl es ihm an Einheitlichkeit des Ausdrucks fehlt, unstreitig höher als der innere Gehalt. Die bilderreiche Sprache des hohen Liedes mischt sich dabei seltsam mit offenbar von Mæterlinck angeregten Gedanken. Die jüngstvergangenen Pelleasaufführungen auf derselben Bühne ließen letzteren Zug – der sich namentlich am Anfange in jener zügellos-phantastischen Kette von Gedanken beim Anblick des Mondes bekundet – noch besonders hervortreten. Auch fehlen nicht jene gewollt naiven Bemerkungen, auf die die Musik noch besonders aufmerksam macht, und die in Pelleas ein Lächeln erweckt hatten, – z. B. wenn Herodes, nachdem er den Henker in die Cisterne geschickt hat, um den Propheten zu enthaupten, glaubt, »es werde jemandem ein Unglück zustoßen«, oder wenn er konstatiert, daß Salome »die Tochter ihrer Mutter« ist. Aber es fehlen Mæterlincks wissenschaftliche Psychologie, sein zielbewußtes, rasches Fortschreiten im Drama, seine Gegenüberstellungen und überwältigenden Steigerungen. Wenn das Stück nicht so hoch strebte, könnte man sagen, es sei mittelmäßig, aber in Anbetracht seiner Prätentionen kann man sagen, es ist noch schlechter als das. Als Reyers Librettisten Flauberts Salammbo für die Bühne zurechtstutzten, gaben sie eine Probe ehrlicher Dummheit, Oscar Wildes Fall liegt schwerer, er hat zugleich an der Logik, Flaubert und dem Neuen Testament Verrat geübt. – Aber Flaubert ist tot, und der heilige Matthæus auch ; sie werden keinen Einspruch erheben.

***

Aber die Musik ! Richard Strauß ist der Zauber-Goldschmied, der einem Kiesel Wert verleihen kann, indem er ihn in seltene Metalle mit märchenhaften Ziselierungen faßt. Mehr als in den sinfonischen Dichtungen erweist sich Strauß in Salome als der hervorragendste Nachfolger Wagners und wohl auch als letzter Ausgestalter seiner Kunst. Die wagnerische Formel ist hier [435] gewissermaßen zu einem in jeder Beziehung strafferen musikalischen Ausdruck kondensiert. Das Schwelgen in Harmonien und seltenen Klangfarben, die Kühnheit in Polyphonie, Polyrhythmik und Instrumentierung wird fast orgiastisch. Selbst die von Wagner aus Abscheu vor der Oper zurückgedrängte und in thematische Formeln gepreßte Melodie breitet sich unbedenklich in weiten Flächen aus. In dieser Hinsicht ist Wagner aristokratischer, stolzer und Strauß, – trotz des seltsamen äußeren Apparates – volkstümlicher. Die Leitmotive Wagners sind auch plastischer und charakteristischer, sie sind prägnant, schon beim ersten Hören erkennbar, und um ihre Umformungen zu erkennen, braucht man keine Partituren durchzuackern. – Aber diese Kritik ist kaum an die Adresse von Strauß allein gerichtet, denn man kann sagen, im ganzen genommen besaß Wagner bisher allein die volle Meisterschaft in der Handhabung dieses bedeutsamen Ausdrucksmittels.

Was man auch hier bei Strauß bewundern muß, ist das schon erwähnte ununterbrochene Hervorquellen neuer harmonischer, rhythmischer, polyphoner und orchestraler Funde, in denen seine unerschöpfliche Einbildungskraft ohne Berechnung, ohne einen Augenblick zu ermatten, schwelgt ; endlich der bewundernswerte dramatische Instinkt, den er in dem Erfassen des jedesmal kräftigsten, prägnantesten oder zartesten musikalischen »Wortes«, das er stets mit unfehlbarer Richtigkeit trifft, beweist – von dem wilden Toben der Tutti bis zu dem schrecklichen Nichts der langen Pausen. Man kann nicht umhin, es zu bedauern, daß der größte Teil dieser Schönheiten für neun Zehntel der Zuhörer verloren geht, da ihre gleichzeitige Würdigung jenes »geteilte« Hören, jene »Horizontalanalyse« des polyphonen Gewebes voraussetzt, von dem Strauß selbst gelegentlich des Heldenlebens spricht, und das man nur von fein geschulten Ohren verlangen kann. Man hat Strauß dieses Anhäufen von Komplikationen aller Art zum Vorwurf gemacht : es handelt sich einfach darum, zu wissen, ob es einer inneren Notwendigkeit entspricht oder nicht ; im ersteren Fall können wir an der Psychologie von Strauß Kritik üben, nicht an deren musikalischem Ausdruck. Und so liegt meiner Meinung nach die Sache. Man bemerkt nichts, was von diesem erschreckenden Klangapparat wegfallen könnte, der sich doch zuweilen auf ein Minimum zu beschränken versteht, mit dem nicht einmal Haydn zufrieden gewesen wäre : und das in gewisser Weise mit gutem Grund. Wäre es übrigens anders, so bestände kein Zusammenhang zwischen dem Klangzauberer der Salome und dem klugen, genialen Herausgeber der Berliozschen Instrumentationslehre, der so entschieden gegen »den schrecklichen Mißbrauch, der heutzutage mit allen besonderen Leckerbissen des Orchesters getrieben wird«, protestiert und empfiehlt, vor der Verwendung gewisser »greller und charakteristischer Farben des Orchesters zehnmal zu überlegen, ob diese Farben an dieser Stelle unbedingt nötig und nicht durch einfachere zu ersetzen seien«.

Die Salomepartitur war in Deutschland der Gegenstand zu eingehender Analysen, als daß ich mich bei ihr hier länger aufzuhalten brauchte. Ich möchte jedoch noch einige Worte über einen Punkt sagen, der besonders das französisch sprechende Publikum interessiert, d. h. über die Prosodie der [französischen] Partitur der Salome.

Es wird versichert, Strauß habe den französischen Originaltext komponiert. [436] Die Lektüre der Partitur – und selbst das bloße Anhören – würden aber zu der Ueberzeugung führen, es handle sich um eine Uebersetzung, denn die musikalische Prosodie weist zahlreiche Verstöße, Inkonsequenzen und jene mühsamen, für jeden, der sich etwas mit der schrecklichen Arbeit der Uebersetzung lyrischer Werke bekannt gemacht hat, auf den ersten Blick erkennbaren Verbindungen von Text und Musik auf. (Ich will hier gar nicht von dem Namen Salome selbst reden, der im Französischen der Tradition nach : ◡ ◡ — rhythmisiert wird, und der hier die umgekehrte Form: — ◡ ◡ annimmt.) Ich kann mich hier nicht über diesen Punkt, für den leicht zahlreiche Beispiele anzuführen wären, verbreiten. Die Tatsache aber ist vorhanden und steht der großartigen und imponierenden Auslegung eines Werkes im Wege, das man in musikalischer Hinsicht ohne Uebertreibung als »Meisterwerk« bezeichnen kann.

***

Die Aufführung im Monnaietheater ist sehr gut, abgesehen von der Enttäuschung, die stets ein brutal auf die Bühne verpflanztes literarisches Meisterwerk, wie das hundertmal gelesene und überdachte von Flaubert, bereitet. Wie soll man in der schönen, aus der Cisterne dringenden Tenorstimme [? ? ? Red.] (Herr Petit) jene »Grabesstimme« wiedererkennen, »die anschwoll und sich entfaltete, donnernd dahinrollte und, im Echo des Gebirges widerhallend, vielstrahlig auf Machaerus niederblitzte« ? Wie soll man unter diesem Chauffeurpelze und rosafarbenen Trikot jenes »unbestimmbare, Schrecken einflößende Wesen« erkennen, »dessen langes Haar mit dem Tierfell verschmolz, die seinen Rücken bedeckten«, jenes Antlitz, »das aussah wie ein Dickicht, in dem zwei feurige Kohlen glühten« ? usw.

Doch davon abgesehen, war die Leistung gut, so gut wie irgend möglich. Fräulein Mazarin, eine außerordentlich begabte Schauspielerin, verkörpert Salome in Maske, Gestalt, Spiel und Bewegungen ausgezeichnet. Die Stimme ist hübsch, der Vortrag könnte noch deutlicher sein. (Uebrigens versteht man, sei es wegen der allzu dichten Orchestrierung – sei es wegen der Aufstellung des Theaterorchesters – nur mangelhaft, was gesungen wird.) In ihrem Dialog mit Jochanaan, ferner in ihrer Mimik am Rand der Cisterne ist sie vollendet und in der großen Schlußszene zeigt sie (wenn man so sagen darf) eine ideale Perversität. Herr Petit (Jochanaan) führt seine schwierige Rolle mit ebenso viel Feinfühligkeit wie Majestät durch, und Herr Swolfs (Herodes) übertraf alle meine Erwartungen, nur Frau Laffitte legt in die (zum Glück nebensächliche) Rolle der Herodias die gleichgiltige [sic] Melancholie, die sie in allem, was sie tut, bekundet. Das kleine über Jochanaan, Elias, Gott und Gottes Schatten (die These »Unsinn« aus Eulenspiegel) streitende Judenquintett ging sehr gut. Endlich ist über alles Lob erhaben die wunderbare Ballerina Fräulein Boni, die sehr geschickt für Fräulein Mazarin (der sie außerordentlich ähnelt) eintritt, um den Tanz der Salome in einer Weise auszuführen, »die wohl ein Menschenhaupt wert war«, und die offenbar die allgemeinen Anregungen aus der Schilderung des Tanzes bei Flaubert entlehnte, – weniger – wohlbemerkt – die zu realistischen Einzelheiten ! Das von Herrn Dupuis dirigierte Orchester ist schmiegsam und nüancenreich, im allgemeinen aber zu laut.

Die Inszenierung ist sehr gut angelegt. Man milderte das heikle Detail [437] des Kusses auf das abgeschnittene Haupt dadurch, daß es Fräulein Mazarin, indem sie dem Publikum den Rücken kehrt, den Blicken entzieht. Nur Salomes Tötung – sie wird unter den Schilden erstickt – wird schlecht zur Darstellung gebracht. Die Episode müßte stürmischer sein und wie der Blitz hereinbrechen. So aber decken die Soldaten ihre Schilde vorsichtig wie Glasglocken über die höllische Gruppe des kauernden Weibes und des Kopfes. Dekorationen und Kostüme sind prächtig und geschmackvoll. Nur der Mond störte mich : er ist zu grün und zeigte ganz unbekannte Gebirge. Aber vielleicht hat er sich, empört über die sonderbaren Vergleiche, zu denen er den Anlaß gibt, umgedreht und zeigt seine andere Hälfte, die man sonst niemals zu sehen bekommt !

Bemerkung

Leerzeichen vor Doppelpunkt, Semikolon, Fragezeichen und Ausrufezeichen wurden, da im Text durchgehend gesetzt, gemäß der französischen Orthographie beibehalten.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Claudia Heine

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b44194 (Version 2021‑09‑29).

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