B.
[ohne Titel]
in: Musikalisches Wochenblatt. Organ für Musiker und Musikfreunde, Jg. 20, Heft 19, Donnerstag, 2. Mai 1889, Rubrik »Kritik«, S. 229–230

relevant für die veröffentlichten Bände: III/3 Aus Italien
Richard Strauss. »Aus Italien«. Symphonische Phantasie, Op. 16. München, Jos. Aibl.
(Schluss.)

3. Satz: Am Strande von Sorrento. Von der auf hoher Klippe liegenden Heimath Tasso’s steigen wir durch eine wildromantische Schlucht unter dem berauschenden Dufte der Orangenblüthen zu dem blauschimmernden Golf herab, dessen Wellen sanft an die grosse marina plätschern. Der Mond wirft sein verklärendes Licht auf dieses Paradies, an welches der Dichter des Befreiten Jerusalem bei der Schilderung von Armidens Zaubergarten gedacht haben mag. Der süss bestrickende Reiz, der idyllische Charakter dieser Landschaft ist von dem Tondichter mit vorzüglicher Naturtreue getroffen. Die Holzbläser leiten den Satz mit träumerisch von A dur nach F moll modulirenden Accorden ein, die Harfe lässt in letzterer weichen Tonart sanfte Arpeggien aufsteigen – man möchte an das Aufsteigen des Mondes denken –, eine Kette leise in F moll verhauchender Triller führt zu dem C dur-Accord, dem Ausdrucke tiefsten Friedens, während Flöten, erste Geigen und Violen mit ihren absteigenden krausen Figuren andeuten, dass die Wellen sanft an das Gestade fliessen und sich auflösen. Wie im ersten Satz entbehrt diese überaus gelungene Situationsmalerei jedes subjectiven Momentes, Letzteres tritt erst demnächst, von sanft hin gehauchten Arabesken der Holzbläser und Hörner umrankt, mit einem wundervoll empfundenen langathmigen Thema der ersten Geigen ein; ein in den zartesten Farben abgetöntes Liebesidyll beginnt:

Dem weiblich hingebenden Gesänge der Geigen antworten die Violoncelli in ausdrucksvollen Tönen (H dur), eine träumerisch, meistens in Terzen gehende Melodie der Clarinetten und Fagotte voll beseligender Hoffnung erklingt, während die Geigen mit gleichmässigen Triolen, zunächst acht Takte lang auf H, das Flimmern des Mondes auf dem Golfe anzudeuten scheinen:

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Die Liebenden, von dem Zauber der Natur erfüllt, verstummen, tiefe Ruhe weit über dem Golf (E dur). Da plötzlich beginnen die Wellen etwas vernehmbarer an das Gestade zu plätschern, ein einsamer Fischernachen zieht langsam über das Meer, melancholisch klingt der von der Oboe gegebene klagende Gesang eines Fischers durch die Nacht:

der Gesang verhallt, und das erste A dur-Motiv der Geigen ertönt, aber noch ist das stimmungsvolle Intermezzo nicht ganz abgeschlossen, schon nach zwei Takten tönt dessen träumerisches A moll noch einmal von dem Golfe zu den Liebenden herab, um dann für immer zu schweigen. Das Liebesidyll spinnt sich weiter fort und tönt sanft mit den nun aber von den Geigen gebrachten Anfangsaccorden (A dur, F moll, A dur) aus. Die Partitur dieses schönen, an Motiven verschwenderisch reichen Satzes zeigt technisch eine bewundernswerthe Filigranarbeit und neben poetischer Begabung eine hervorragende Gestaltungskraft, welche jeder Situation mühelos das Charakteristische ab zugewinnen versteht. An keiner Stelle gesuchte Originalität oder trockenes philiströses Empfinden des für seinen Contrapunct besorgten Fachmusikers; was Strauss schreibt, ist nicht nur erfunden, sondern auch empfunden, der Ausdruck eines wahren intuitiven Künstlergemüthes.

Der 4. Satz sieht den Künstler in Neapel. Ein schriller Accord des ganzen Orchesters mit Beckenschlag, eine sich überhastende, im Unisono E moll aufsteigende krause Figur der Streichinstrumente, ein klärender kurzer D dur-Accord, und es naht unter gleichmässigem Trommelschlag eine dichte Volksmenge, ein neapolitanisches Volkslied singend:

Das ganze Orchester jauchzt mit kurzen scharfen Rhythmen auf,

das Tambourin wirbelt dazwischen, in wildbewegter Lust hat Niemand Zeit zu langen Auseinandersetzungen, scheinbar regellos schwirren die kleinen Motive der Instrumente um den Kopf des Künstlers, ein neuer [Volkshaufen] tost mit dem aber jetzt in verkleinerter Form gesungenen Volksliede herbei. Ein Dudelsackpfeifer erscheint, sein von den Holzbläsern zu den Pizzicati der Geigen gebrachtes tarantellenartiges Thema:

kämpft mit dem Volksliede, welches nun in grösserer und verkleinerter Form gleichzeitig auftritt (Flöten und Fagotte), um den Vorzug. Fortwährend wechseln die buntesten Bilder, die Wellen wilder Lust drohen über dem Haupte des nordischen Künstlers zusammenzuschlagen, da ertönt plötzlich zu dem Klange der Harfe das beruhigende G dur-Motiv des ersten Satzes, das ernste Künstlergemüth sehnt sich nach dem tiefen Frieden der römischen Campagna, aber wer vermöchte mitten im tosenden Volke gegen dessen Taumel anzukämpfen und gesammelt zu sein? Immer wilder und schneller ertönt das Tambourin, Trommel und Becken feuern zu erneuter Lust an, das Volkslied dringt überall siegreich durch, und ein sinnverrückendes Presto schliesst diesen so überaus charakteristischen Satz. Ob wir die poetischen Intentionen des Künstlers überall auch im Einzelnen getroffen, wissen wir nicht, immerhin lässt sich aber dieses Programm ohne besonderen Zwang und ohne excentrische Phantasie aus den musikalischen Motiven rechtfertigen. Wir vermögen nach dem Bisherigen in der neuen Schöpfung von R. Strauss weder einen Rückschritt gegen frühere Leistungen, namentlich gegen seine F moll-Symphonie Op. 12, noch eine Verirrung zu erkennen; technisch und inhaltlich hervorragend, muss das Werk voll individuellen Lebens, wird es von dem einzig zutreffenden Standpuncte der Programmmusik beurtheilt, die Zustimmung und den lebhaften Beifall jedes ernsten Kunstfreundes finden. Manches mag kühn und mit kecken Pinselstrichen entworfen sein, musikalisch unstatthaft erscheint uns Nichts, und wenn an einzelnen Stellen des Finale die Klang effecte realistisch wirken, so ist dieses nicht auf einen Mangel ästhetischer Feinfühligkeit zurückzuführen, die charakteristische Wahrheit gebot hier, was dem Künstler bei Op. 12 versagt sein musste.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b44090 (Version 2021‑10‑13).

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