Ein halbes Jahrhundert ist verflossen, seitdem der geniale Romantiker Berlioz in seinem geistsprühenden Op. 16 die Eindrücke schilderte, welche Harold in Italien gewonnen, und wieder ist es jetzt das Op. 16 eines hochbegabten jugendlichen Tonkünstlers, welches uns im symphonischen Gewande zu diesem Ziele der Sehnsucht und Hoffnung aller wahren Künstler führt. Richard Strauss ist, wenn wir von dem auf einsamer Höhe thronenden Jupiter Brahms absehen, Einer der wenigen zeitgenössischen deutschen Musiker, welche nicht nur in mehr oder weniger technisch vollendeter Weise Anempfundenes wiedergeben, sondern mit der Tonkunst auch eigenes poetisches Empfinden zu verbinden wissen. Er hat Stil, nicht nur Manier; er hat Ideen, nicht nur mühsam zusammengesuchte Klangeffecte; sein grosses, für sein Alter hervorragendes technisches Können ist sich nicht selbst Zweck, drängt sich nirgends prätentiös auf und dient nur dem poetischen Gedanken. Der kunstvoll gearbeitete Becher, den uns seine Muse darreicht, ist nie mit seichtem Wasser oder von Anderen bezogenen verdächtigen Flüssigkeiten gefüllt, der Saft selbstgezogener, edler Trauben ist es, welchen abgeklärt uns seine Hand bietet. Wohl verständlich erscheint es, wenn der künstlerische Sinn dieses poetisch veranlagten Musikers in dem schönen Wälschland wundersam angeregt worden und er seiner Muse an vertraute, was er gedacht, gefühlt. Es sind die Eindrücke eines Künstlers, nicht diejenigen eines sich von Hotel zu Hotel schleppenden philisterhaften Pfingstreisenden, es verräth daher nicht eben grossen Scharfsinn, wenn man hier an einigen Stellen, nach dem Hören des obengenannten Werkes enttäuscht, die Frage aufgeworfen hat, soll dieses das Italien mit seinem ewig blauen Himmel, seinem sorglos dahinlebenden Volke sein? Freilich wird auf Dutzendmenschen, welche nur an Aeusserlichkeiten haften, Italien anders wirken, und die von ihnen gewonnenen Eindrücke werden sich wohl kaum differenziren. Einer empfindet eben so oberflächlich wie der Andere. Wer kann aber verständiger Weise verlangen, dass sich Italien mit seinem landschaftlichen, geschichtlichen und künstlerischen Reichthum in den Augen aller wahrhaft künstlerischen Individualitäten gleich abspiegelt? Hat Goethe wie Byron, hat A. Stahr wie Gregorovius oder Allmers empfunden? Strauss wollte ebensowenig wie Berlioz einen musikalischen Bädecker oder Berlepsch schreiben, seine symphonische Phantasie soll nicht objectiv zeigen, wie Italien ist. Gerade dieses wäre eine ästhetische Verirrung, welche zu einem monströsen Werke hätte führen müssen, denn 265 Seiten Partitur, nur mit Tonmalerei erfüllt, würden nicht zu ertragen sein. Mit sehr richtigem Gefühl hat der Tonkünstler es verstanden, die musikalische Illustration der Situation zu beschränken; wie weiter unten gezeigt werden soll, ist der Tonmalerei immer nur ein kleiner Raum gewährt, und das subjective Empfinden des Künstlers tritt überall ganz markant in den Vordergrund. Berlioz’ Phantasie fand sich vielleicht weniger durch die blühenden Reize des Landes, als durch den Contrast dieses üppig quellenden Lebens zu dem Weltschmerze Harold’s angeregt, Strauss wollte die Eindrücke musikalisch fixiren, welche Hesperien in einem gesunden, hoffnungsfreudigen Künstlergemüth erzeugt. Der Componist nennt sein Hans von Bülow gewidmetes Werk »symphonische Phantasie«; mit Recht, denn die äussere Form entnahm er der Symphonie, den Inhalt der Phantasie. Wäre die logische Entwickelung des poetischen Inhaltes der einzelnen Sätze mit der traditionellen symphonischen Verarbeitung der Themen streng zu einen gewesen, so wäre das Werk mit seinen vier Sätzen, von denen der zweite, Allegro molto con brio, formell [nicht materiell] dem Scherzo, der dritte, Andantino, dem langsamen Theil und das Allegro molto des letzten Satzes [208] dem Finale entspricht, ohne Weiteres als Symphonie zu qualificiren. Gegen die Bezeichnung als Suite spricht die quantitative und qualitative Bedeutung der Sätze. Der Componist wendet sich mit seinem Werke nicht nur an das Gefühl, sondern auch an die Denkkraft des Zuhörers, lässt jedoch der Phantasie desselben weiten Spielraum, indem er sich für die vier Sätze auf die Titel: »Auf der Campagna«, »In Roms Ruinen«, »Am Strande von Sorrent« und »Neapolitanisches Volksleben« beschränkt. Es liegt nach der glänzenden und überzeugenden Abhandlung Liszt’s über »Berlioz und seine Harold-Symphonie« nicht in der Aufgabe dieser Zeilen, die ästhetische Berechtigung der nicht erst seit dem genannten Meister, sondern seit Joh. Seb. Bach, Kuhnau, Couperin etc. datirenden Programmmusik nachzuweisen, nur so viel sei uns hier zu bemerken vergönnt, dass es Tonwerke gibt, für welche ein Programm eine poetische Nothwendigkeit ist und bei denen es das Interesse des Schöpfers heischt, der Phantasie des Hörers nicht nur eine bestimmte Richtung anzuweisen, sondern den Letzteren auch mit dem Ideengange des Künstlers fortlaufend bekannt zu machen. Robert Schumann bezeichnet in seiner berühmten Analyse der Symphonie fantastique von Berlioz einen solchen Wegweiser zwar als »Unwürdiges, Charlatanmässiges«, und erachtet »Hauptüberschriften« für genügend, indessen er selbst scheint die Consequenzen dieser Auffassung nicht vollziehen zu wollen, wenn er zur Erklärung der »näheren Umstände« auf die Möglichkeit einer »mündlichen Tradition« verweist. Gewiss hat jeder zartsinnige Kunstfreund eine Scheu vor der Arbeitsstätte des Genius, aber die prosaischen Werkzeuge poetischen Schaffens bei dem Genusse eines Werkes überall vor Augen haben, ist doch noch etwas Anderes, als von dem Tonkünstler in dem Zaubergarten seiner Phantasie Schritt für Schritt geleitet zu werden und unbesorgt um ein Verirren auf den seltsam verschlungenen Pfaden sich voll und ganz dem Genusse jedes einzelnen Theiles hingeben zu können. Es erscheint mithin ein Programm vor Allem erforderlich bei Werken grösseren Umfangs, welche, mit reicher polyphoner Arbeit ausgestattet, einen bedeutenden stofflichen Inhalt poetisch zu entwickeln bestimmt sind. Die Beschränkung auf charakteristische Ueberschriften mag am Platze sein bei kleineren musikalischen Bluetten, wie z. B. bei den reizvollen Pièces de clavecin von Couperin, bei Joh. Kuhnau’s biblischen Historien-Sonaten oder auch bei grösseren Sätzen, deren Sujet die Vorstellung von Vornherein in einen ganz bestimmten Kreis bannt (z. B. bei einem Trauermarsche zum Gedächtniss eines Helden, einem Gewittersturm). Treffen die Voraussetzungen aber nicht zu, so wird die Phantasie des Hörers ruh- und rathlos umherirren und Letzterer in dem andauernden Widerstreite des Gefühles und der Denkkraft eines einheitlichen Genusses des Werkes verlustig werden. Es birgt ja mancherlei Reiz in sich, den poetischen Intentionen eines Künstlers unbeschränkt nachzuforschen, und das Werk nicht nur passiv auf sich wirken zu lassen, sondern bei dem Hören gewissermaassen poetisch mitzuschaffen. Bei einer complicirten musikalischen Schöpfung wird aber eine derartige Anregung nur aus dem Studium der Partitur gewonnen werden können, der Zuhörer, an welchem die Töne eines bisher unbekannten Werkes flüchtig vorüberrauschen, wird in den seltensten Fällen Zeit und Ruhe finden, die ihm zugemuthete nicht leichte bewusste Gedankenarbeit mit dem unbewussten seelischen Empfinden im Einklang zu erhalten. Es entsteht dann eine Verwirrung und Misstimmung, ein Unbehagen, welche nicht das Werk an sich, sondern der Mangel eines Programms verschuldet. Die folgenden Zeilen sollen den Nachweis führen, dass die symphonische Phantasie trotz der durchaus logischen Entwickelung des poetischen Inhaltes, trotz der charakteristischen und prägnanten Motive, trotz der klaren Conception wegen ihrer Ideenfülle und Localisirung der Vorgänge gebieterisch ein vollständiges Programm und nicht nur Satzüberschriften fordert. Vielleicht lässt sich der treffliche Künstler, welcher sein Werk auf der diesjährigen Allgemeinen Tonkünstler-Versammlung in Wiesbaden vorführen wird, bereit finden, dem Verständnisse der mit der Partitur nicht vertrauten Zuhörer durch ein wenn auch nur kurz gehaltenes Programm entgegenzukommen.
Der erste Satz (Gdur, 4/4), der kürzeste, in seinem Aufbau übersichtlichste, führt uns nach der Campagna und schildert in dem bis zum Es dur reichenden Abschnitt objectiv ohne persönliche Beziehung jene öde, unabsehbare, wellenförmige Fläche, welche ein Schriftsteller zutreffend ein »ehernes Epos« nennt. Feierliche Stille umfängt uns, der Blick verliert sich in die Unendlichkeit. Die hohe ernste Schönheit dieser Landschaft hat Strauss ganz wundervoll charakterisirt; die langgehaltene Quinte g d weist auf die ferne abgestorbene Natur hin, melancholisch steigt das d der Flöte in die den ersten Satz motivisch beherrschende Octave auf, während das 4 1/2 Takte aushaltende d der Violinen den gleichmässig auf der Campagna ruhenden Glanz der Sonne widerzuspiegeln scheint. In feierlicher Folge führen Accorde choralartig von Gdur über Dmoll, Gdur, Ddur, Esdur, Cdur wieder nach Gdur zurück, der Ausdruck einer erhabenen Ruhe,
sie wiederholen sich in einer durch ihre Eigenartigkeit fremd wirkenden Harmonie, welche mit Fismoll abschliesst. Plötzlich tönt in synkopirten Terzen der Flöten und Oboen der Ruf der Vögel traurig in die Einsamkeit, schüchtern klagend wagt sich die Oboe mit einem kleinen ausdrucksvollen Motiv hervor, bald jedoch verhallt dasselbe schmerzlich, und Alles scheint mit den chromatisch in Octaven heraufgehenden Achteln der Holzbläser und Streicher wieder in die frühere Starrheit zurückzusinken. Da tritt zuerst ein subjectives Moment in die elementare Welt, der einsame tief ergriffene Wanderer findet endlich Worte, und seiner Brust entringt sich eine edle, langathmige, von den ersten Geigen getragene Melodie, welche wir nicht besser als mit W. von Humboldt’s Worten charakterisiren zu können glauben:
»Vom Gebirg her am Sabinerland
»Das mit tiefem Blau die Luft umquillet,
»Wo der Sonne glühend heisser Brand
»Sparsam schattiges Gehölz umhüllt,
»Herrschet der Verstörung grause Hand.
»Wehmuth hat ihr Reich hier aufgeschlagen,
»Wehmuth flüstern tausend stumme Klagen.«
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(Fortsetzung folgt.)