Zschorlich, Paul
»Richard Strauss und das Publikum. Bemerkungen über ›Salome‹ von Paul Zschorlich (Leipzig.)«
in: Musikalische Rundschau, Jg. 2, Heft 1, München, Montag, 1. Januar 1906, S. 7–10

relevant für die veröffentlichten Bände: I/3a Salome
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Richard Strauss und das Publikum.
Bemerkungen über »Salome« von Paul Zschorlich (Leipzig.)

Richard Strauss hat sich allenthalben durchgesetzt. Wenn dem Publikum vor einigen Jahren ein Strauss’sches Werk nicht gefiel, so zischte es. Man erinnert sich der stark bestrittenen Erfolge in Köln und Frankfurt a. Main. Auch in der Première der »Feuersnot« hörte ich solche Aeusserungen des Missfallens.

In Dresden zischte niemand. Das wohlerzogene Publikum des Dresdener Hoftheaters nahm die »Salome« dankend entgegen. Aus dieser Tatsache schliessen voreilige Kritiker, die Strauss’sche »Salome« habe dem Publikum gefallen. Rasselten wochenlang vor der Uraufführung die Reklametrommeln so schallen nun, nachdem der grosse Wurf, gelungen, die Ruhmesposaunen durchs ganze Deutsche Reich bis weit über seine Grenzen hinaus.

[8] Und noch einige Wochen später, dann wird alles sein wie zuvor. Wenn die »Salome« ihre zehn bis zwölf Aufführungen erlebt hat, und weder der Dresdner noch die Freunde mehr unter dem Banne des gewissermassen historischen Momentes der sensationellen Première stehen, dann werden neue Interessen die Köpfe und die Zunge beschäftigen und man wird Richard Strauss wieder in den Konzertsälen als Symphonisten suchen wie zuvor.

So viel klaren Blick haben sich die meisten doch noch gewahrt, dass sie die Dauerhaftigkeit des angeblich so ungeheuren Erfolges in Frage zu stellen sich erlaubten.

Wie war dieser Erfolg? Es gab mehr als dreissig Hervorrufe. Richtig. Das Publikum blieb am Ende der Vorstellung aufrecht stehen. Man eilte nicht an die Garderoben. Man hatte es ganz und gar nicht eilig. Man wollte Strauss sehen, man wollte ihn ehren. Es war eine unausgesprochene Verabredung. Aber was das Klatschen anbelangt, so war die Sache doch keineswegs so einfach und so einheitlich, wie man meinen könnte. Der Beifall setzte nicht auf einen Schlag ein, sondern er begann zögernd und unsicher, er wuchs langsam und er verdreifachte sich in seiner Intensität erst in dem Moment, als der geniale Schuch auf der Bühne erschien. Jeder Theaterkenner weiss, dass ein so beschaffener Beifall nicht der spontanen Begeisterung, sondern einem Vorsatz und dem Verstand entspringt und dass er im Grunde nichts ist als eine Bezeugung der Hochachtung. Wenn man in Frage zieht, dass das riesige Dresdener Haus bis auf den letzten Platz gefüllt war und dass etwa nur die Hälfte der Anwesenden Beifall spendete, so kann man den Ausgang des Abends nur als einen sensationellen Achtungerfolg bezeichnen. All die vielen Neugierigen, die da standen und warteten, aber nicht klatschten, bilden in meinen Augen ein starkes Gegengewicht gegen die wenigen (merkwürdigerweise in Gruppen auftauchenden) Fanatiker, von denen jeder Einzelne Lärm für zehn macht.

Dies zur Feststellung des äusseren Erfolges. Der Grund dafür, dass ein einheitlicher, geschlossener, begeisterter und spontaner Beifall nicht aufkommen konnte, liegt aber tiefer. Stellt Richard Strauss schon in seinen symphonischen Dichtungen an die Auffassungskraft seiner Hörer recht erhebliche Ansprüche, so geht er in seiner neuen Oper von Voraussetzungen aus, die ihm kein Publikum der Welt erfüllen wird. Selbst das Elite-Publikum der Uraufführung war nicht imstande, diese Musik zu – begreifen.

Ich habe zu Dutzend Malen bewiesen, dass ich für den Fortschritt in der Kunst eintrete. Sowohl Strauss als Max Reger als auch Gustav Mahler gegenüber. Allmählich aber komme ich dahin einzusehen, daß es einen noch moderneren Standpunkt gibt als den allen Neuen lediglich darum zuzujubeln, weil es neu ist. Wenn ich Richard Strauss, den Opernkomponisten an Richard Wagner messe, so sehe ich nur Fortschritte in Aeusserlichkeiten, im technischen Raffinement, in der Ausklügelung neuer Wirkungen, aber nicht in der Idee und nicht in der Erfindung.

Es soll auch im Jahre 1905 noch musikalische Leute geben, die da meinen, aus jeder Oper müsse man, wenn sie was tauge, eine Melodie mit nachhause [sic] nehmen können. Die meinen wohl, was man bei Johann Strauss [sic] mit Recht verlange, das müsse auch bei Richard Strauss billig sein. Man mag über diese Biedermeier-Ansicht lächeln, aber man soll nicht übersehen, dass sie massgebend ist, viel massgebender als die glänzendsten Rezensionen und die wärmsten Urteile der Fachleute. Von alters her hat das Publikum und niemand anders den wahren Erfolg einer Oper bestimmt. In vielen Fällen mag man seinem Urteil grollen, mag es bekritteln und verachten wollen, an den harten Tatsachen kommt man nicht vorbei. Der Theaterkassierer ist von jeher der Antipode des Kunstkritikers gewesen. Und, es ist ein offenes Geheimnis, er hat stets das letzte Wort im Streit der Meinungen gehabt.

Die Musik der »Salome« setzt beim Hörer so unendlich viel voraus, dass sie vom naiv empfindenden Hörer (und zwar vom musikalischen, denn andere kommen in der Oper überhaupt nicht in Frage) beim ersten Anhören überhaupt nicht verstanden werden kann. Andrerseits kann man den Musikliebhaber, der in der Ausübung der Musik nicht seinen Beruf, sondern seine Erholung sieht, nicht zumuten, dass er Stunde um Stunde den Klavierauszug studiere um wenigstens einigermassen vorbereitet in die Vorstellung zu kommen. Auch die Geldfrage spielt hier (wie so oft in der Kunst) eine Rolle.

Zugegeben, der Hörer bemerkt diese oder jene neuartige Klangkombination, zugegeben, er fasst den Sinn einer musikalischen Charakteristik oder er entdeckt und ver[9]folgt ein Leitmotiv, was hat er damit in Wahrheit für das Verständnis der ganzen Musik gewonnen? So gut wie nichts. Durch das Labyrinth der Strauss’schen Stimmenführungen, durch dieses Dissonanzengestrüpp, durch diese an den Vokalstiel [sic] der Niederländer mahnende, sonderbare Art von vertikaler Musik kommt er nicht hindurch. Sein Ohr findet keine Ruhepunkte. Er findet nicht die Möglichkeit in harmonischen Wohllauten sich zu baden und sich in ihren Klängen zu neuen Dissonanzen zu erholen. Er wird in den Taumel dieser Musik, die bei weitem hysterischer ist als der Stoff selbst, hineingezogen und erfasst auch bei schärfster Anspannung der Gehörnerven nichts von ihrer geistigen Struktur und ihren [sic] organischen Zusammenhang.

Ferner: er, der schon bei Wagner mitunter das Orchester die menschlichen Stimmen verschlingen sah, wird in der »Salome« nicht nur nicht die Worte des Textes, sondern stellenweise nicht einmal mehr die gesungenen Töne hören. Es ist mir selbst ähnlich ergangen. Von dem Ensemble der Juden, das in seiner Mache übrigens gar nicht so originell ist, als es auf den ersten Blick erscheinen könnte, das vielmehr ganz und gar auf Beckmesser-Studien basiert, von diesem Ensemble hörte ich vom letzten Drittel fast keinen Ton mehr, obwohl Schuch sich bemühte, das Orchester zu zügeln.

Hundertzwanzig Mann im Orchester. Berlioz verlangte mehr. Auch darin sehe ich nicht die Genialität eines Richard Strauss, die ich auf Grund anderer Momente ohne weiteres anerkenne.

Hätte Strauss in seiner Oper wenigstens versucht, das Christentum gleichsam an die Pforten der Weltgeschichte pochen zu lassen, hätte er am Ende seine 1 ½ stündigen Einakters (ähnlich wie es Sudermann in seinem »Johannes« versucht hat) eine Apotheose des christlichen Gedankens und einen Hymnus auf den neuen, mächtig eindringenden Glauben angestrebt, dann würde sich dieser kolossale Aufwand an Mitteln rechtfertigen lassen. Nichts von alledem ist zu merken.

Was die dramatische Gestaltung des Werkes angeht, so liegt hier bei Strauss ein so völliges Missverstehen von Wagners Grundsätzen vor, dass man kaum den Ausdruck der Pietätlosigkeit unterdrücken kann. Salome beschäftigt sich eine Viertelstunde lang mit dem abgeschlagenen Kopf Johannes des Täufers. Der König Herodes, der wiederholt erklärt hat, es friere ihn, und der sich vor Furcht und Grauen schüttelt, die ganzen Mannen und der Hofstaat, sie alle stehen die ganze Zeit über um Salome herum, die mit dem blutenden Kof verliebte Zwiesprach’ hält. Man zeige mir eine einzige Stelle im ganzen Richard Wagner (den »Rienzi« ausgenommen), in der so gegen den Sinn und den Geist von Ort und Zeit gesündigt wäre!

»Auf einer silbernen Schüssel gieb [sic] mir …« »Was denn?«, fragt Herodes drei oder vier Mal Salome. Die musikalische Phrase, die schon an und für sich wenig kategorisch und viel zu breit angelegt ist, wird über eine ganze Reihe von Takten ausgedehnt. Damit wird der Höhepunkt der Handlung geradezu mutwillig in seiner Wirkung abgeschwächt. Jedermann im Zuschauerraum weiss, was Salome fordert. Jedermann fühlt, auch dieser König ist gespannt zu erfahren, was nun endlich Salome als Preis ihres Tanzes fordern wird. Und dennoch unterbricht er zwei oder drei Mal die Fragende.

Das sind Versündigungen gegen den Sinn der Handlung, die nicht dadurch Absolution erhalten, dass Wilde bereits sich ihrer schuldig gemacht hat. Was in der eilenden Sprache, in den aufgeregten Worten eines erregten Sprechers noch denkbar ist, in der breiten und umständlichen musikalischen Charakterisierung wird es zur Sinnwidrigkeit.

Das sind einige wenige, spärliche Proben, die zeigen, wie man nicht dramatische Musik schreibt, wie sie Wagner nie und nimmer geschrieben hätte.

Wir leben und zehren aber von Wagner. Darum müssen wir einmal wieder auf ihn verweisen. In der rein symphonischen Musik ist Richard Strauss mit Erfolg über Liszt hinausgegangen. Dort konnte er es. Dort hat er die natürlichen Grenzen der Kunstgattung nur erweitert, nicht überschritten. Im musikalischen Drama aber hat er durch die »Salome« nur von neuem bewiesen, was bereits »Guntram« und die »Feuersnot« gelehrt hatten, dass er zum dramatischen Komponisten nicht geboren ist, dass er sich nur rein äusserlich an die Forderungen der Bühne anpasst und dass er da, wo sein unersättliches Talent und sein unheimlicher Drang die Sterne vom Himmel herunter zu [10] holen, in dem normalen Rahmen keine Befriedigung finden könne, dass er da die Formen des Kunstwerks und zu gleicher Zeit sein eigenes Werk sprengt.

Strauss ist in der Mode. Auch die, welche die Herrlichkeiten seiner symphonischen Dichtungen noch nicht inne geworden sind und vielleicht nie inne werden, auch sie ehren den, der nach manchem harten Kampf den Sieg über die Widersacher davongetragen hat. Es gehört durchaus zum guten Ton für Strauss zu sein, unter allen Umständen ihn zu loben.

Aber die Ernüchterung kommt von selbst und kommt sehr bald. So wenig wie »Guntram« und die »Feuersnot« wird sich »Salome« die Herzen der Deutschen erobern. Und wenn es in diesen Tagen auch nur wenige geben mag, die (bei aller stillen Bewunderung für Richard Strauss) offen zu bekennen wagen, dass sie nicht gesonnen sind alles zu preisen, was mit dem Namen Richard Strauss zusammenhängt, so denken doch ohne jede Frage sehr viele ähnlich über diesen zweiten Berlioz wie ich selbst. Und wenn sie dann die »Salome« einmal zu hören Gelegenheit finden, werden sie mir vermutlich beipflichten, wenn ich sage: Die Weise fand ich neu und auch verwirrt [sic].

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Claudia Heine

Bibliographie (Auswahl)

  • Auszug in Franz Messmer (Hrsg.), Kritiken zu den Uraufführungen der Bühnenwerke von Richard Strauss (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft, Bd. 11), Pfaffenhofen: Ludwig, 1989, S. 52–53. Mit falscher Jahresangabe 1905.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b44087 (Version 2021‑09‑29).

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