Kalbeck, Max
[ohne Titel]
in: Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ, Jg. 33, Heft 323, Donnerstag, 23. November 1899, Rubrik »Feuilleton«, S. 1–2

relevant für die veröffentlichten Bände: III/3 Aus Italien
Concerte.

Viele, die ohne die erforderliche Vorbereitung zum ersten Male nach Rom kommen, sind enttäuscht, in dem wüst durcheinandergewürfelten Häuserhaufen des Phantasiebild nicht zu erkennen, das sie sich von der Königin der Städte gemacht haben. So mag es auch Richard Strauß widerfahren sein, als er den Spuren Tasso’s und Harold’s nachging, wie er sie in den musikalischen Reisehandbüchern von Liszt und Berlioz gefunden hatte. Pflichtschuldigst aber legte er seine italienischen Eindrücke in einem umfangreichen Orchestergemälde (»Aus Italien«) nieder und übertrug, grausam genug, die Summe unvermeidlicher Enttäuschungen auf Alle, die dazu verurteilt sind, ihn zu hören. Die Campagna hat ihn angeödet. Zeugniß dessen der erste Satz. Er führt uns auf die Appische Straße. Wie traurig ist dieser durch die kahle Steppe gelegte einförmige Gräberweg! Ein Glück, daß man zwischen den grauen Ruinen und schwarzen Pinien hindurch wenigstens die Kuppel von Sanct Peter sieht! Das gibt einen Theaterprospect, wie ihn der Poesie-Musiker braucht. Ist es nicht eine heitere Ironie des Schicksals, daß gerade auf classischem Boden der »Münchener Beethoven« sich in den Berliner Berlioz verwandelte, als der er heute gefeiert wird? Nun ja, er kam mit dem Courierzuge »aus Glanz und Wonne her«, das heißt aus Bayreuth, das Wälsungenthema im Busen und das Schwertmotiv an der Seite. Es muß unangenehm sein, wenn Einem beim Grabmal der Cäcilia [Metella] die Wälsungen einfallen. Und wie fatal, dabei noch von einem Octaven-Motiv verfolgt zu werden! Welche gute Seele dachte daheim im deutschen Vaterlande des unglücklichen Romfahrers, das ihm beständig die Ohren klingen? Oder bezeichnet das immer wiederkehrende Octavenmotiv das unruhige Gewissen des Componisten, bedrängte ihn vielleicht die fixe Idee, Stellung zu Rom nehmen und angesichts der ewigen Stadt etwas Bedeutendes sagen zu müssen? Die beiden Melodien, welche er »auf der Campagna« singt, sind herzlich schwach, ob sie nun con espressione oder con molto espressione bezeichnet und von Harfen begleitet werden oder nicht. Solche Banalitäten sind nur dem symphonischen Dichter erlaubt; kein Symphoniker dürft sich mit ihnen hervorwagen. Und hier haben wir wohl die ungezwungenste Erklärung für das allgemeine Elend der Poesiemusik wie für den besonderen Fall: die symphonische Form zwingt den Componisten zu einer Concentration der Gedanken, deren unsere Schwärmgeister nicht fähig sind. Man stelle sich einmal ein Allegro vor, das aus dem von Strauß in seinem ersten Satze verwendeten Material gearbeitet ist. Nicht ein einziges der vielen Motive besitzt zeugende und gestaltende Kraft; es käme die traurigste Capellmeister-Symphonie heraus. Strauß selbst mag auf der Appischen Straße oder sonst wo das Unzureichende seiner musikalischen Schöpferkraft empfunden und darum wie Andere vor, neben und hinter ihm aus der Noth eine Tugend gemacht haben. Es führen viele Wege nach Rom. Das wollen wir durchaus nicht behaupten, daß sein Gefühl zu klaren Selbsterkenntniß durchgedrungen sei, es ist sogar möglich, daß er seine zerstreuten Einfälle mit einem Ueberschuß von Gedanken verwechselte und die Form der Symphonie für zu eng hielt, um sie alle darin unterzubringen. Seine »symphonische Phantasie« – so bezeichnet er das Werk – läßt noch das alte Schema der Symphonie erkennen, daß ihr zu Grunde liegt, nicht blos in der viertheiligen Gliederung des Ganzen, sondern auch in der Construction der einzelnen Sätze. Der zweite Satz ist einmal ein Scherzo gewesen oder hätte eines werden sollen, und das mag ihm zur Entschuldigung dienen. »Roms Ruinen« und ein lustiges Trompetenthema – wie reimt sich das zusammen? Hier belehrt und die Aufschrift: »Phantastische Bilder entschwundener Herrlichkeit, Gefühle der Wehmuth und des Schmerzes inmitten sonniger Gegenwart.« Gut. Signalisire die Circusmusik meinetwegen den Eintritt ins Colosseum, obwohl die höchst reale Trompete eher Erinnerungen verscheucht als hervorruft, – wo aber sind die angekündigten Gefühle der Wehmuth und des Schmerzes? Der Componist des »Allegro molto con brio« bleibt sie uns schuldig, muß sie uns schuldig bleiben, weil in dieser unvollkommenen Welt ein heiterer Tonsatz im schnellsten Zeitmaße nicht zugleich eine Elegie sein kann. Die widersprechende kurze Ueberschrift führt uns irre, und der symphonische Dichter kann es nicht verhüten, daß wir uns in seinen Ruinen Roms gründlich verlaufen. Doch auch ein umständlicherer Cicerone, wie ihn der kühn gewordene Programmmusiker später beigestellt haben würde, wäre nicht zuverlässiger gewesen, und wir stiefelten noch immer vergnügt »inmitten sonniger Gegenwart« auf dem Corsa herum, während der Componist schon wieder auf dem Palatin in Wehmuth zerschmolzen ist.

Deutlicher, annehmbarer und verführerischer kommt uns Strauß im folgenden Andantino entgegen. »Am Strande von Sorrent« fühlt sich Jedermann von der Natur zum süßen Nichtsthun aufgefordert. Hier kann der musikalische Erfinder von den Strapazen seiner Romfahrt ausruhen; der Tonmaler nimmt ihm die Sorgen um den gedeihlichen Fortgang seiner »Phantasie« ab. Das vom blauen Meer umflossene wonnige Eiland mit seiner an den Felswänden emporschäumenden Brandung und den darüber hingelangten duftenden Orangenhainen dichtet, singt und malt sich selbst. Wer es kennt, wird finden, daß die zauberische, mit dem größten Raffinement ausgeführte Schilderung des Componisten, der hier alle Vorgänger, auch Wagner, an berauschender Pracht des musikalischen Colorits übertrifft, doch die Natur nicht erreicht, und wer es nicht kennt, wird es durch Strauß wahrhaftig nicht kennen lernen. Das üppige Tongemälde verblaßte vor [2] einer aus dem Herzen strömenden, gluthvollen Melodie, wie sie die Meister des glücklichen Italien zu Tausenden gesungen haben. An einer solchen Melodie fehlt es. Die Reflexion hat der Muse des nordischen Gastes das Blut verdünnt; an Stelle der unmittelbaren Empfindung tritt die abgeleitete Empfindelei und das Bild verliert sich in Description. In Folge dessen geht das anfängliche Entzücken des Zuhörers bald in kühle Bewunderung über: man ist begierig zu erfahren, wodurch die seinen und gewählten Effecte hervorgebracht worden sind, und beruhigt sich, sobald die Neugierde befriedigt ist. Im Finale gibt ein schmetternder Cinellenschlag das Zeichen zum Beginn neapolitanischer Volksbelustigungen. Da zeigt sich der Herrenmeister der Instrumentierung auf dem Gipfel seiner Kunst. In einem riesigen Schallbecher gleichsam fing er das brodelnde und brausende Neapel auf, brachte Ordnung in das Tohuwabohu seiner durcheinander schreienden Stimmen und verwandelte den ohrenzerreißenden Lärm in Musik. Hier erhält auch die echte, vollblütige Melodie das Wort, und obgleich sie nur ein veritabler kecker Gassenhauer ist, den die Spatzen heute von allen Dächern pfeifen, so thut das Lied von der Drahtseilbahn »Funicoli funicolà« dennoch auch am Schlusse eines symphonischen Gedichtes seine Schuldigkeit, am zweifellosesten ohne die gestückelte thematische Verarbeitung des Componisten. Es klingt zuletzt wie eine Eruption des Vesuvs, der den Gassenhauer, weil er ihn nicht vertragen kann, wieder ausspeit.

Der Triumph des Componisten war zugleich der des Hofopernorchesters und seines ausgezeichneten Dirigenten Herrn Gustav Mahler. Das zweite philharmonische Concert, welches mit dieser Novität paradirte, ließ ihr Beethoven’s D-dur-Symphonie auf dem Fuße folgen. Nach der geschminkten Pariser Modeschönheit kam das deutsche Haustöchterchen etwas verlegen hinter seinem Herde hervor. Aber das liebe Aschenbrödel bleibt doch die erwählte Herzensprinzessin, und es gefiel Jedermann im makellosen Glanze seiner einfältigen Schönheit. Besser als mit Beethoven hätte Richard II sich mit den Russen vertragen, die, neun Componisten hoch, den Musikvereinssaal mit ebenso vielen größeren Tondichtungen überzogen. Einem solchen Massenangriff muß jede Tageskritik erliegen. […]

[3] […] [4] […]

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b44076 (Version 2021‑04‑12).

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