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Lessmann, Otto
[ohne Titel]
in: Allgemeine Musik-Zeitung. Wochenschrift für die Reform des Musiklebens der Gegenwart, Jg. 15, Heft 4, Freitag, 27. Januar 1888, Rubrik »Aus dem Konzertsaal«, S. 37–38

relevant für die veröffentlichten Bände: III/3 Aus Italien
[37] Konzert des Herrn Eugen d’Albert. – Konzert des Herrn Alfred Sormann. – Konzert von Frl. Isabella Lourié. – 5. Philharmonisches Konzert unter Leitung des Herrn von Bülow.
[…]

Einen musikalischen Feiertag bereitete wieder Herr von Bülow den Besuchern des 5. Philharmonischen Konzertes am 23. d. M. Unter seiner Leitung kamen das Meistersinger-Vorspiel, eine »Tarantella« für Klarinette, Flöte und Orchester von St. Saëns, sowie die Leonoren-Ouverture No. 3 zur Aufführung: Herr von Bülow hat das erst- und das letztgenannte Werk nicht zum ersten Male in Berlin zur Aufführung gebracht, wohl aber mit einer Wirkung, wie niemals früher. Wie unzulänglich erweist sich doch die Sprache, dass sie von der Art, wie Bülow diese beiden Werke interpretirte, wie er überhaupt einstudirt, keine Vorstellung geben kann! Bülow selbst, als Meister auch des sprachlichen Ausdrucks, würde es nicht vermögen und wenn ein Kapellmeister ihn bitten würde, über die [Auffassung] der Leonoren-Ouverture ihm schriftliche Angaben zu machen, so dürfte er mit Fug und Recht die oft erprobte Kraft seiner Feder verleugnen und den Bittenden wie Faust seinen Famulus Wagner abfertigen. Die Kundgebungen eines Genius, der sich die haupt[38]sächlich unser Empfindungsvermögen mächtig ergreifende Sprache der Töne zum Ausdruck erkoren hat, wollen empfunden sein, und wenn man dem Leser auch sagen würde, hier beschleunigte Herr von Bülow das Zeitmass, dort hielt er’s zurück, wie armselig würde sich das ausnehmen gegenüber dem Eindruck blühendsten Lebens, den jeder Ton, jede Phrase unter seiner Leitung hervorrief? Bülows feurige Künstlerseele lebt und wirkt in dem Orchester, seine Fantasie legt sich wie ein goldener Reif um die verschieden gearteten Elemente, die den grossen Tonkörper bilden, und in diesem glänzenden, Alle zu einer einzigen Einheit zusammenfassenden Reif spiegelt sich in üppiger Farbenpracht der Geist unserer grossen Tonmeister, den Bülow mit seinem Zauberstab heraufzubeschwören weiss. Wie neulich in der Faust-Ouverture, so diesmal beim Meistersinger-Vorspiel war Herr von Bülow so ganz wie früher der auserwählteste Prophet dieser neuen gewaltigen Tonsprache, und unwillkürlich mischt sich in die helle Freude über das von ihm Gebotene das Gefühl des Bedauerns, dass er, der unanfechtbarste und geistvollste Träger der Wagner’schen Tradition nicht Gelegenheit nimmt oder findet, vor der Bühne Zeugniss abzulegen von den Geheimnissen, die ihm, wie Keinem neben ihn, kundgeworden sind. Die grosse Leonoren-Ouvertüre sowohl wie das Meistersinger-Vorspiel hat Bülow, wie bemerkt, früher schon mit dem Meiniger Orchester in Berlin zur Aufführung gebracht; da unsere Philharmoniker ihm aber ein noch glänzenderes Werkzeug sind, so lässt sich die unerhört grossartige Wirkung, die er mit diesen Werken hervorrief leicht erklären. Die Aufführung des Meistersinger-Vorspiels gestaltete sich für Berlin zu einem musikgeschichtlichen Moment, denn das Werk, welches ein Jahrzehnt hindurch als das Muster musikalischen Lärms verketzert war, musste wiederholt werden, so jubelte das Publikum! Das Orchester stand überhaupt an diesem Abend auf der Höhe. Die kleine, im Hauptsatz ganz pikante Trantella von St. Saëns, deren sentimentaler, an das Chopin’sche Trauermarsch-Trio und an Mendelssohn’sche Wendungen erinnernder Mittelsatz allerdings stark aus dem Rahmen herausfällt, war schliesslich keine grosse Aufgabe, doch gebührt den beiden Solisten, den Herren Andersen und Esberger, die höchste Anerkennung für die ausgezeichnete Ausführung ihrer Soli – dagegen stellte das Hauptstück des Abends, die neue Sinfonische Fantasie »Aus Italien« von Richard Strauss, Anforderungen an das Orchester, die nur selten erfüllt werden dürften. Ich glaube nicht fehl zu gehen mit der Behauptung, dass dies Werk in technischer, rhythmischer und harmonischer Beziehung das schwerste ist, was je ein Komponist einem Orchester zugemuthet hat. Das Werk zerfällt in vier Theile: I. Auf der Campagna. (Andante).* II. In Rom’s Ruinen (Allegro molto con brio). III. Am Strande von Sorrent (Andantino). IV. Neapolitanisches Volksleben (Allegro molto). Herr Richard Strauss hat sich bereits durch seine F-moll-Sinfonie, eine Orchesterserenade, ein Klavierquartett und manches andere Werk einen geachteten Namen gemacht und man darf ihn unbedingt zu den Wenigen rechnen, die etwas zu sagen haben und dies zu sagen wissen. Was für eine Fülle von Einfällen enthält diese Partitur, wie breit legen die Themen aus, wie schön gelingt es dem Komponisten, poetische Stimmungen zu erwecken und festzuhalten, wie prachtvoll klingt das Orchester und wie geschickt sind die einzelnen Sätze entwickelt! Die sinfonische Form ist allerdings sehr frei behandelt und das Werk macht den Eindruck, als ob der jugendliche Meister – Herr Strauss ist 23 Jahre alt – danach ringt, für seine sprudelnde Fantasie eine neue Ausdrucksform zu finden, nichtsdestoweniger sind die Formen fest gefügt und der Komponist schreitet sicher und zielbewusst einher.

Im letzten Satze ist ein in Italien sehr bekanntes Volkslied als Hauptthema verwendet, das eine reiche motivische Ausbeute gewährt. Es ist eine müssige Frage, ob es nöthig gewesen wäre, so unerhörte Schwierigkeiten in dieser Partitur anzuhäufen; sie sind einmal vorhanden, und die Orchester werden sich damit abfinden müssen. Ob sie der Verbreitung dieses gedanklichen hervorragenden und bedeutsamen Werkes nicht im Wege sein werden, ist freilich eine andere Frage. Jedenfalls hat Herr Strauss von Neuem [bestätigt], dass er zu den Auserwählten gehört, auf welche die deutsche Kunst Hoffnungen zu setzen berechtigt ist. Unter Leitung des Komponisten kam das Werk zu verhältnissmässig ausgezeichneter Ausführung.

Nach all diesen grossen Eindrücken würden wenige Pianisten im Stande gewesen sein, sich als Solisten zur Geltung zu bringen. Herr Bernhard [Stavenhagen] ist es mit dem C-moll-Konzert von Beethoven und einigen Soloklavierstücken von Liszt (Sonett u. 12. Rhapsodie) trotz allem gelungen. Dieser Künstler dürfte unter den jüngeren Pianisten neben d’Albert doch wohl die bedeutendste Erscheinung sein, denn er vereinigt mit einer vollendeten Technik höchsten sinnlichen Tonreiz, edles Empfinden und feine musikalische Bildung. Der Vortrag des C-moll-Konzertes, das unter Bülow’s Leitung wunderbar begleitet wurde, gehört zu den schönsten Klavierleistungen, die ich in der Erinnerung habe.

*Part. und Stimmen erschienen bei Jos. Aibl in München. [Originalanmerkung].
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b44071 (Version 2021‑04‑12).

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