Pohl, Richard
»Von der 26. Tonkünstler-Versammlung zu Wiesbaden 27.–30. Juni 1889«
in: Musikalisches Wochenblatt. Organ für Musiker und Musikfreunde, Jg. 20, Heft 31, Donnerstag, 25. Juli 1889, Rubrik »Tagesgeschichte/Musikbriefe«, S. 364–365

relevant für die veröffentlichten Bände: III/3 Aus Italien
Von der 26. Tonkünstler-Versammlung zu Wiesbaden 27.–30. Juni 1889.
(Fortsetzung.)

Wir kommen jetzt zu den Werken der lebenden Künstler-Generation, die bei der Musik-Revue in Wiesbaden vorgeführt wurden. Dieser Theil des Festes ist nicht gerade immer der ausgibigste, für uns aber doch der interessanteste, weil man da musikalische Bekanntschaften macht, die uns neue Perspectiven eröffnen können. Natürlich fehlt es auch nicht an Enttäuschungen, wenn man von dem oder jenem Werke Besseres gehört und gelesen hat, als man dann herausfinden kann. Aber auch das Umgekehrte kommt vor und macht uns dann um so mehr Freude. Denn Nichts kann angenehmer sein, als seine künstlerischen Erwartungen übertroffen zu sehen.

Dies war nun bei der »Italienischen Phantasie« von Richard Strauss entschieden der Fall. In diesem jungen Künstler ist uns wieder einmal ein ganzes, ein grosses Talent entstanden, das sich reich und stetig entwickelt. Wie schwer ist es heutzutage, selbstständig zu sein und zu bleiben – Richard Strauss hat es erreicht. Er besitzt eine reiche, überquellende Phantasie; er schafft aus dem Vollen, Ganzen, und er kann Alles ausdrücken, was und wie er will, weil er Viel gelernt und eine correcte, strenge Schule durchgemacht hat. Es sind hier also Bedingungen vereinigt, die sich selten Alle bei Einem finden werden. Darum ist er der Rechte und hat eine Zukunft. Man darf dies nach dem Anhören seiner »Italienischen Phantasie« unbedenklich aussprechen. Seit Jahren hat mich kein Werk so gefesselt; da ist wirklich Phantasie darin, mit grossem Formgeschick vereint, fliessende Darstellung mit brillantem Colorit, moderne Freiheit mit künstlerischem Ernst verbunden. Man braucht deshalb nicht mit jedem Detail einverstanden zu sein; hier kommt es auf den Wurf im Grossen und Ganzen an, und der ist meisterlich gelungen.

Es ist unmöglich hier ins Einzelne einzugehen; es ist auch nicht nöthig, da in letzter Zeit verschiedene Analysen erscheinen sind, auch in diesem Blatte, welche die Bekanntschaft mit der thematischen Arbeit vermittelten. Um nur Einiges hervorzuheben, sei auf das entzückende Colorit, die hochpoetische Stimmung im dritten Satz (am Strande von Sorrent) hingewiesen und auf die geniale Schilderung des Neapolitanischen Volkslebens im vierten. Man lernt die reiche Phantasie des Componisten am besten schätzen, wenn man gerade diesen Satz mit ähnlichen Finalsätzen vergleicht. Wie leicht kann sich der Componist hier seine Aufgabe machen, wenn er z. B. einen flotten Saltarello und eine Volksgesang mit Mandoline combinirt. Da wäre das italienische Volksleben von der Aussenseite, musikalisch formell gefasst. Strauss packt es aber im Innern, als wirkliches Charakterbild. Seit Berlioz (»Carnaval romain«, »Harold«) kenne ich nichts Aehnliches. Ueberhaupt finde ich geistige Verwandschaft zwischen Beiden; ohne dass Strauss irgendwo copirt hätte, zeigt er das Berlioz’sche rhythmische Leben und die überraschenden Geistesblitze einer originellen Logik. Nicht wenig will es sagen, dass Strauss auch originell instrumentirt. er bringt neue Combinationen, trotz Wagner und Liszt, die in dem gesättigten, warmen, glänzenden Colorit seine Lehrmeister waren. Kurz – wohin man blickt, hat man seine Freude an diesem Talent.

Die Phatansie dauert 50 Minuten – aber sie war mir nicht um eine Minute zu lang. Dem Publicum auch nicht. Die Aufnahme war eine geradezu enthusiastische in allen Theilen. Auch dieses eingehende Verständniss, diese allgemeine Anerkennung war eine Freude. Das Werk ist ausserordentlich schwierig (die beiden letzten Sätze besonders), die Ausführung war aber tadellos. Das Wiesbadener Curorchester, von Hrn. Capellmeister Lüstner sorgfältig vorbereitet, leistete Ausserordentliches, der Componist zeigte sich als Dirigent ersten Ranges. Wir gratuliren Weimar zu diesem neuen Capellmeister. Hr. v. Bronsart hat mit diesem Engagement sein feines Kunstverständniss und seine Findigkeit wieder voll bewährt. Richard Strauss ist dort auch am rechten Platze. Auf seine Weiterentwickelung bin ich sehr gespannt. Er ist aus der classischen Schule zur romantischen gekommen: das gibt die überzeugungstreuesten und fruchtbringendsten Schöpfungen. Es ist Euphorie, aus dem Liebesbund von Helena und Faust hervor gegangen.

»Immer höher muss ich steigen,
Immer weiter muss ich schaun.«

[365]

Möge ihm nur ein längeres, ein recht langes Wirken beschieden sein!

Noch ein Werk ist hervorzuheben, das seine volle Wirkung übte: das Terzett (oder der »Dreigesang«, wie es der Dichter-Componist nannte) aus »Gunlöd« von Peter Cornelius. […]

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b44051 (Version 2021‑04‑12).

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