O. E.
[ohne Titel]
in: Berliner Börsen-Courier. 1. Beilage des Berliner Börsen-Courier, Jg. 1890, Heft 57, Samstag, 1. Februar 1890, Morgen-Ausgabe, Rubrik »Aus dem Musikleben«, S. 5

relevant für die veröffentlichten Bände: III/5 Don Juan

Das gestrige siebente philharmonische Concert des Hrn. Dr. von Bülow war, trotzdem Herr Paderewski durch Erkrankung verhindert wurde, die Hörerschaft mit sich und seinem Klavierconcerte bekannt zu machen, eines der interessantesten und vorzüglichst gelungenen der ganzen Reihe, da die Zusammenstellung des Programms, wie seine Ausführung gleich glücklich war. Von classischen Orchesterwerken kamen Cherubini’s Wasserträger-Ouvertüre und eine der Haydn’schen Es-dur-Sinfonien (Nr. 3 bei Breitkopf-Härtel) zur Aufführung. Die Cherubin’sche Ouverture, wie die gesammte Oper, zu der sie gehört, darf als ein Meisterwerk angesehen werden, das nicht blos vor Vergessenheit bewahrt, sondern zu wahrer Erfrischung und Herzstärkung sehr viel öfter aufgeführt werden sollte, als dies, bei uns wenigstens, der Fall ist. In der Ouverture ist es besonders die breit ausgeführte Einleitung, die ein bedeutsames und ergreifendes Stimmungsgemälde darstellt; sie kam in der gestrigen Aufführung zu eben so wirksamer Wiedergabe, wie der sich anschließende glänzende Hauptsatz. Auch die vorher genannte Sinfonie gehört zu den besten Werken ihres Meisters; an Frische und Liebenswürdigkeit kann sie kaum übertroffen werden, obgleich sie den letzten Lebensjahren Haydn’s angehört. Wie reizend ist z. B., um nur ein Einzelnes herauszuheben, das Menuett mit dem köstlichen Triothema; und wie unendlich humorvoll das Finale! Das philharmonische Orchester bot unter der Aufführung seines genialen Dirigenten ein Meisterstück von kostbarer Kleinmalerei, deren stilvolle Durchführung entzückend war und die Hörer so lebhaft hinriß, das Herr v. Bülow den letzten Satz wiederholte. Außer diesen beiden Werken kam noch ein allbekanntes und ein ganz unbekanntes seitens der Kapelle zur Aufführung. Das Vorspiel zu »Lohengrin« wurde (zum Schlusse des Concerts) musterhaft in der Abmessung des allmählich sich verstärkenden und dann wieder sich abschwächenden Tonstromes, in wahrhaft erdentrückter Weihe, zum Vortrag gebracht. Außerordentlich wirkungsvoll war im Augenblick der Entfaltung höchster Tonstärke die Unterstützung der einen Pauke durch eine gleichgestimmte zweite, die dem Klange in seiner Fülle eine überwältigende Energie gab. Zum ersten Male kam eine noch ungedruckte sinfonische Tondichtung »Don Juan« von Richard Strauß zur Aufführung. Der jugendliche (1864 in München geborene) Meister ist dem berliner Publikum kein Unbekannter mehr. Seit einer für einen noch nicht sechsundzwanzigjährigen Componisten schon erheblichen Reihe von Jahren ist er unermüdlich auf dem Gebiete der Kammer- und Orchestermusik thätig, und mehrere Sonaten, ein Klavierquartett, vor Allem eine Sinfonie sind hier bereits gespielt worden und haben ihm selbst bei Gegnern seines künstlerischen Entwickelungsganges hohe Ehren, namentlich aber das Anerkenntniß eingetragen, daß er in Wahrheit einer der Berufenen sei, die mit einem ungewöhnlichen Können Fantasie und starke Empfindung vereinen. Dem Unterzeichneten ist Richard Strauß seit seinem ersten Schritt in den berliner Concertsaal nicht nur eine der sympathischsten Erscheinungen der jüngsten Componisten-Generation gewesen, sondern er hat seit Langem den Glauben, daß in diesem jugendlichen Künstler (wie in d’Albert) das Zeug steckt, dermaleinst, wenn die Jahre voller Reife und Selbstständigkeit gekommen sein werden, ein Bannerträger des nothwendigen musikalischen Fortschritts zu werden, wie es die wahren Meister aller Zeiten gewesen sind. Und wenn dieser Glauben sich bewährt, so wird es dem Schreiber dieser Zeilen zu besonderer Freude gereichen, einer der Allerersten (und zwar schon vor Jahren) gewesen zu sein, der auf das hervorragende Talent Strauß’ in der Öffentlichkeit aufmerksam gemacht hat. Seine neueste Composition dürfte als ein bedeutsamer Fortschritt gegen seine früheren aufzufassen sein, wenngleich ihm gerade diese Eigenschaft derselben lebhafteren Tadel von vielen Seiten einbringen wird. Strauß hat in seinen bisherigen Werken stets eine klar übersichtliche, an die Werke der klassischen Zeit sich anlehnende Form inne gehalten und mit vollkommener Meisterschaft behandelt; im »Don Juan« läßt er seiner Fantasie die Zügel schießen und sieht von jeder »sanctionirten« Form ab. Er stellt sich seine Regel selbst, und folgt ihr dann. Lenau’s Gedicht ist es, das ihm die poetische Anregung gegeben hat, und eine blendende Fantasie schildert den »Sturm des Genusses« in Weisen, deren orchestrale Klangschönheit geradezu unerhört ist. Trotzdem kann man das Werk durchaus nicht unklar nennen; im Gegenteil, – in seiner fast plastischen Deutlichkeit nimmt es den Sinn des Hörers ganz gefangen, und macht ihn empfänglich für den leidenschaftlichen Erguß seines Empfindens. Freilich ist der »Don Juan« wagnerisch; und wenn heute auch Viele keine Furcht mehr vor Richard Wagner haben, so haben sie doch desto mehr vor allem Wagnerischen. Aber wenn die jungen Componisten früherer Zeiten Bedenken gehabt hätten, in den Bahnen älterer Meister zu wandeln, so würde vermuthlich eine allmähliche Entwicklung des Kunststils ausgeschlossen gewesen und nur ein sprunghaftes Hin und Her entstanden sein. Alle jungen Componisten haben bei ihren großen Vorgängern angeknüpft, und nur mit Richard Wagner soll man das nicht dürfen?

Man hat Herrn von Bülow aufrichtig dankbar zu sein für die Aufnahme und glänzende Durchführung dieses höchst schwierigen Werkes in sein Programm, um so dankbarer, als sich kaum annehmen läßt, daß er selbst, bei seinen künstlerischen Anschauungen, wie sie sich in den letzten Jahren festgestellt haben, mit dem »Don Juan« zu sympathisiren vermag. Wenn er die hohe künstlerische That des gestrigen Abends zu vollem, fruchtbringendem Ausklingen bringen will, dann möge er das Werk im nächsten philharmonischen Concert wiederholen. Eine einmalige Vorführung ist in der That nicht genügend, um einer solchen, bisher Allen unbekannten Tondichtung zu ihren Recht zu verhelfen, wie es andererseits gar nicht ausbleiben kann, daß die zweite Aufführung einen noch viel sympathischeren Hörerkreis finden werde, als die gestrigen.

Als Solistin des Abends trat Frau Teresa Carrenno mit Grieg’s Concert und Liszt’s E-dur-Polonaise auf. Beides hat sie hier schon vorgetragen; es genügt zu sagen, daß sie einen glänzenden Abend hatte, wundervoll spielte, und in den ihrer Vortragsweise mehr angemessenen großen Räumen der Philharmonie noch mehr Entzücken weckte, als bei ihrem ersten Auftreten in der Singakademie.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b44027 (Version 2018‑01‑26).

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