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Mänicke, Bernhard
»Richard Strauß: Don Juan«
in: Freie Bühne für modernes Leben, Jg. 1, Heft 2, Mittwoch, 12. Februar 1890, Rubrik »Moderne Musik.«, S. 37–39

relevant für die veröffentlichten Bände: III/5 Don Juan
(Richard Strauß: Don Juan.)

Seit der Klingsor von Bayreuth seinen Zauberstab niedergelegt hat und nun auch »sein lieber Franz« auf dem Friedhofe der fränkischen Festspielstadt ruht, ist es still, recht still geworden im musikalischen Deutschland.

Es mag nichts Neues mehr aufblühen!

Wir sind wieder einmal in ein Zeitalter des Epiognenthums eingetreten. Zwar wird fleißig botanisiert in dem üppig aufgeschossenen Urwalde der neuen Harmonien und fremdartigen Modulationen, und mancher Strauß wird kühn gebunden, aber wir kennen alle die Blumen nur allzugut und auch die Düfte! Die berauschende Klangfarbe, das wogende Dahinströmen des Orchestersatzes, das Zusammenraffen und Wiederzerfließen, das Wühlen in Dämmernissen durch die plötzlich ein Lichtstrahl fluthet, kurz die ganze in Worten nicht wiederzugebende Physiognomie der modernen Instrumentalwerke ist seit Wagner-Liszt eine allgemeine und allbekannte. Verschwunden ist selbst in den wieder auf die Tanzform zurückgreifenden Atavismen der musikalischen Reaktionäre das unschöne Baß- und Violoncello-Gerumpel. Das moderne Orchester singt allenthalben. Aber was in den sublimen Vorbildern der Meister nur das Gewand eines tiefen seelischen Ausdrucks ist, das wird in den Werken der Schüler oft zum Selbstzweck: ein zur Schau gestelltes Garderobestück, prunkend und gleißend, hinter dem aber nichts steckt, nicht einmal eine Gliederpuppe!

Der einzige Fortschritt, welcher ist, besteht in der That in einer immer feineren und reicheren Instrumentirung: immer süßer werden die Mischungen, immer weicher die Uebergänge, immer mehr Nüancen, zarte und zarteste Lichterchen werden gehäuft und übereinandergetupft. Ob das jedoch immer als Fortschritt zu betrachten ist? Schon Berlioz war der Ansicht, daß das zunehmende Raffinement der Instrumentation vom Uebel sei. Unter dem Glanz und der Fülle der Farben verschwinden die klaren Linien der Zeichnung.

Bedauerlicherweise ist gerade in der Hauptsache: in Richtung der Ausdrucksfähigkeit, auf welche die ganze gewaltige letzte Epoche der Musik hinstrebte, ein vollständiger Stillstand, ja ein Rückschritt zu verzeichnen. – Sollten wirklich die Zweifler und Ungläubigen Recht behalten, welche den neu eingeschlagenen Weg für einen Irrweg erklärten und die Möglichkeit einer weiteren Entwickelung des Ausdruckvermögens als nicht im Wesen der Musik begründet ableugneten? Sollte die Musik, in deren letzten Offenbarungen der Sturmhauch einer neuen Zeit gebraust, in der die Sehnsucht und die Leidenschaft eine neue gluthende Sprache gesprochen, wirklich wieder zurückfinden können zu einer bloßen Tändelei, zu einem reinen Spiel mit Tönen? –

Eine jede Zeit hat ihre eigene Kunst; und jede Zeit giebt dieser nicht nur den Inhalt, sondern gewöhnlich auch die Form: für einen neuen Wein taugen nicht die alten Schläuche! Rückfälle in frühere Erscheinungsformen und ein Liebäugeln mit der guten alten Zeit haben zwar auch in der Musik, wie in jeder anderen Kunst und wie auf allen anderen sociologischen [38] Gebieten, statt, aber sie bedeuten nirgends etwas. Eine Kunstform, die schon einmal höchste Vollendung gefunden, neu aufzuwärmen, ist eine Sünde wider den heiligen Geist der Entwicklung. An Wiederholungen, mögen sie nun jämmerlich oder noch so glänzend sein, wird die Kunstgeschichte mit Fug und Recht vorüberschreiten.

Die Musik ist die »künstlichste« der Künste. Sie ist am weitesten an die historische Convention gebunden. In keiner anderen Kunst haben so lange die Künstler unabhängig und unbeeinflußt von der Öffentlichkeit geherrscht und gestaltet. Die Musik ist aber heute keine »Kammermusik« mehr, nicht mehr ein Sondergenuß weniger Auserwählter und Privilegirter. Sie trat aus der »Kammer« hinaus vor das Volk. »Dem Volke will sie behagen!« Das gab für ihre Gestaltung den Ausschlag. Wie klingt und braust nicht die Seele unserer Zeit in den modernen Tonwerken aus! Was uns in ihnen offenbar wird, ist das ganze zerissene Herz des Uebergangsmenschen von heute, dem auf der Scheide zweier Zeitalter in einem unerhörten Kampfe aller Meinungen und Bestrebungen kein beschauliches Heute mehr blüht, der nur ein Morgen kennt, bald überschwänglich zukunftstrunken und stolz, bald todestraurig, immer ringend, sehnend und ahnend!

Und alles das bringt die Musik zum Ausdruck? Ist es denn möglich durch Musik dergleichen »auszudrücken«?! Die Zweifler sollten doch wohl das allgemeine Verständniß, das von Tausenden solchen »Ausdruck« entgegengebracht wird, stutzig machen! Die Musik vermag allerdings nicht nur Freude und Schmerz, sondern auch seiner gemischten Gefühle, Leidenschaften, Stimmungen und Affekte, namentlich in ihrem dynamischen Verlaufe auszudrücken oder was hier auf dasselbe hinausläuft, zu erregen, sollte ihr auch hierfür der wiener Feuilletonist »welcher einmal gegen R. Wagner schrieb« noch einige Dutzend Male die Fähigkeit absprechen. Sie erreicht das aber durch Bezugnahme auf Körper und Lautgebärde, welche als ursprünglichster Ausdruck ja auch der Sprachentwicklung zu Grunde liegen; sie erreicht es im Weiteren durch unzählige an die Bewegungsvorstellung sich anschließende Associationen und Analogien anderer Sinneskreise. Die Art und das Zustandekommen dieses seelischen Geschehens klarzulegen, die Möglichkeit und die Grenzen des musikalischen Ausdrucks festzustellen wird für die Musikästhetik eine dringende und dankbare Aufgabe sein. Um so dankbarer, je größer das darüber herrschende Dunkel auch bei den schaffenden Künstlern zu sein scheint. Die theoretische Betrachtung wird sich hier einmal auch für die produktive Seite der Kunst von Nutzen erweisen.

Tritt die Sprache zur Musik hinzu, sei es als dauernd sie begleitender Text, oder auch nur als ein Wort, welches als Ueberschrift eines Tonstückes die Vorstellungsthätigkeit von vornherein in einer bestimmten Richtung anregt, so gewinnt der musikalische Ausdruck unendlich an Bestimmtheit und Tiefe. Die auch sonst schon angeregten Gefühlszustände werden, als auf eine concrete Ursache bezogen, nun selbst concreter. Gegen diese Art der Unterstützung der Musik durch die Sprache, welche schon Beethoven begonnen hat, ist merkwürdiger Weise am meisten geeifert worden, weniger gegen die Oper, am wenigsten gegen das Lied. Will man überhaupt, in einem gewissen Dogmatismus befangen, die Verbindung und gegenseitige Unterstützung von Musik und Sprache nicht gelten lassen, so müßte nicht nur die Programmmusik, sondern auch die Oper und auch das Lied mit Stumpf und Stil ausgerottet werden!

Was dieser »Kunstvermischung« der schon ein Lessing große Fruchtbarkeit voraussagte, Lebensberechtigung gab und giebt, ist der höhere Ausdruck welcher durch sie erzielt wird. Weder in der Oper, noch in der freieren Tondichtung scheinen mit alle Möglichkeiten der Musik in Hinsicht auf Stimmung und Charakteristik schon erschöpft zu sein. Die Programmmusik birgt jedoch eine große Gefahr in sich, der ein Berlioz fast nie und auch Liszt nicht immer entgangen ist. Man muß sich vor allem davor hüten zu vieles und dieses womöglich in buntem Mosaik durcheinander ausdrücken zu wollen. Wenn also ein genialer junger Tondichter, wie Richard Strauß, in seinem neuesten Werk den Don Juan-Stoff zum Vorwurfe nimmt und eine Präcision desselben in einigen Lenau’schen Versen dem Hörer mitgiebt, so hätte er, nachdem er das wirklich Ausdrückbare festgestellt, vor allem dafür Sorge tragen müssen, dieses in einer Anordnung zu geben, welche, sei es durch scharfes Contrastiren oder auch nach Art vieler Wagner’schen Vorspiele in logischer Entwicklung, ein [39] Nicht- und Mißverstehen ausschließen mußte. Das Ausdrückbare: der »Sturm des Genusses«, der »allmählig vertobt«, die Leidenschaft stets »neu entspringend«, das Sehnen, Schmeicheln und Seufzen des Liebestaumels, schließlich »Ueberdruß« und »Luftermattung« hätten sehr wohl in guten Fluß einer Entwicklung gebracht werden können. Für Wechsel und Contrastiren der Themata waren diese zu zahlreich. Leider hatte der Componist den letzten Weg eingeschlagen, vielleicht durch Neigung und Fähigkeit glänzend zu contrapunktiren verleitet, und weder der beinahe unerhörte Klangzauber seiner Instrumentation, noch die gute Themeaerfindung konnten über das Nichtverstehen der Hauptabsicht hinwegsehen lassen. Daß kein klares Verständniß erreicht war, davon gab gar ergötzlich die Kritik Kunde, welche mit seltener Mehrstimmigkeit auseinanderging. Der eine hatte sich zur Noth zurecht gefunden und war entzückt, für den anderen, der nicht so glücklich gewesen, war die schlimme Programmmusik an dem Unglück Schuld.

Nun – das Unglück ist nicht so groß. Rühmlicher als ein Erfolg in altem Geleise ist selbst ein nicht ganz gelungener Schritt auf neuer Bahn! Werden und sollen ihm andere auf gleichem Wege folgen? Leichter hinkt es sich schon auf den Krücken einer conventionellen Form dahin. Hier aber muß für jeden neuen Inhalt eine neue Form selbstgeschaffen werden. Jedenfalls liegt in der von Strauß verfolgten Richtung die Möglichkeit eines Fortschrittes: ein weiterer Ausbau der Ausdrucksfähigkeit. Eine ganz neue Kunst würde freilich auch eine ganz neue Zeit voraussetzen und einen neuen Inhalt. Wer uns sagen wollte, was und wie der nächste große Tonheros gestalten wird, vor dessen Prophetenauge müßte der Gang unserer ganzen Kulturentwicklung klar liegen. Die nächste Pflicht der Musikästhetiker von heute aber wird es sein, vor allem die Meister unserer Zeit richtig zu würdigen, das Erreichte und Errungene zu sichten und zu wahren, und es einem immer allgemeineren Verständniß zugänglich zu machen.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b44021 (Version 2018‑01‑26).

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