Der mit 24 Jahren komponierte »Don Juan« steht am Anfang einer Entwicklung, die dank der Summierung der von Liszt-Berlioz-Wagner ererbten Instrumentalkräfte im »Heldenleben« und in der »Elektra« zu unerhörter Schärfe der Orchestersprache führen wird. Nicht nur die Kühnheit, ja Verwegenheit in der Wahl der Stoffe verblüfft, sondern die durch keine falsche Pietät getrübte, denkklare Weise, wie sie für die neue Operationsbasis zurechtgelegt wird, bedeutet den vollständigen Bruch mit der Vergangenheit, ein unerbittliches Veto gegen die ausgediente Rolle der allein nach Gefühlswerten eingeschätzten, sozusagen einzig legalisierten Affektmusik. Es gibt kaum einen wesentlichen Straußschen Registerzug, der nicht im »Don Juan« bereits feststellbar wäre. Die Selbstherrlichkeit der Dissonanz, die zuweilen ganz ins Koloristische verlegte und vermehrte Orchesterpolyphonie, sich überkreuzende Thematik, melodische und harmonische Sequenzen, dazu Kontrapunktieren im alten Sinne und konzertante, respektive melodische Führung der einzelnen Instrumente – das alles wird schon in dieser leidenschaftlich aufgewühlten Partitur offenbar, und hinter dem intellektualistisch und artistisch betonten Erneuerungswerk regt sich das Elementare seiner Musiziernatur, regt sich, in erdhafter ungekünstelter Größe und Wahrhaftigkeit, der – Romantiker.
Unter den etlichen Tonschöpfungen, die sich, mit oder ohne szenische Hilfe, des Don-Giovanni-Problems zu bemächtigen suchen, ist Straußens op. 20 die fulminanteste und wohl auch konzentrierteste. Das von keckem Wagemut überschäumende Stück, das mit seinem von C-Dur sofort in die Haupttonart E-Dur umbiegenden wilden Ansprung (Beisp. 32) die bisherigen musikalischen Don-Juan-Kommentare förmlich über den Haufen rennt, ist insofern ein echtes Zeitdokument, als es, selber mit ungeheuren Genußenergien geladen, mit einer Hochblüte des literarischen Materialismus zusammenfällt. Man hat hier auch den Maler Makart zum Vergleich herangezogen, was in bezug auf die von Strauß verschwendete orchestrale Farbenfülle seine Richtigkeit haben mag. Indessen ist zu sagen, daß es dem Komponisten selbst bei der Schilderung entfesselter erotischer Gier immerhin noch um höhere, geistigere Ziele zu tun war, als dem Maler strotzenden Fleisches und berauschender Draperien beim Ausbreiten seiner sinnlichen, aber innerlich toten Akte.
Die der Partitur vorgedruckten drei Abschnitte aus Lenaus fragmentarischer Dichtung »Don Juan« vermitteln uns nicht etwa ein vollständiges »Programm« der in der Straußschen Komposition kommentierten Vorgänge und Situationen, sondern geben nur ein ungefähres Bild vom Gemütszustand des Helden, der, von unersättlicher Lust getrieben, die Eine im Genuß der vielen suchend, zwischen Anreiz und Ekel sein dämonisches Liebesverlangen in das Bekenntnis zusammenfaßt:
[18]Von vielfach reizend schönen Weiblichkeiten
Möcht’ ich durchziehn im Sturme des Genusses,
Am Mund der letzten sterben eines Kusses.
Sie läßt sich nicht von der zu jener bringen,
Und kennt sie sich, so weiß sie nichts von Reue.«
Nun hat freilich der Musiker seine Hauptaufgabe darin erblickt, die in diesen Versen sich spiegelnde Hybris in musikalische Zeichen umzudeuten, wie das durch die beiden triumphalen, mit der Person des Helden in Verbindung stehenden ritterlichen Hauptthemen erfolgt (Beisp. 33 und 34). Darüber hinaus aber entrollt uns Strauß eine Bilderreihe, die sich an reale Vorkommnisse knüpft und den unglücklichen Hildalgo in seiner vollen Aktivität zeigt. Er charakterisiert die einzelnen Frauengestalten, beleuchtet die Karnevalszene und malt das düstere Ende, so daß also Straußens Tongemälde in nuce doch den Inhalt von Lenaus dramatischer Rhapsodie enthält.
Weil die Figur der Donna Anna im Mittelpunkt der Tragödie steht, als sozusagen einzige Widerkraft dem Verführer entgegentritt, hat auch der Komponist mit besonderem Nachdruck bei dieser Gestalt verweilt. Sie bald schmachtend, bald drohend zu umgarnen und zu Fall zu bringen, ist das eigentliche Spannungsmotiv des im Gleichschritt seiner Teilepisoden sonst ziemlich einförmigen Dramas. Sie, die erhoffte Engelgleiche und Erlöserin, allein fähig, »Überdruß« und »Lustermattung« des stürmischen Kavaliers zu bannen, läßt Strauß im Mittelteil seiner Partitur mild und allein herrschen (Beisp. 35). Aber nicht lange dauert es, so mischt sich auch in diese überströmende Zärtlichkeit jenes chromatische »Motiv des Überdrusses«, das zuvor schon den Weg des an lauter Siege Gewöhnten gekreuzt hat und auf die trostlose Öde, die den Sterbenden umfängt, hindeutet. Flüchtiger, ihrem rein episodischen Charakter entsprechend, sind Don Juans Begegnungen mit Zerline und der gräflichen Witwe gestreift. Aber auch hier geht Strauß, in bewußter Abkehr von Liszt und ohne alle theoretische Umständlichkeit, geradenwegs aufs Porträtieren menschlicher Schwächen und Torheiten los, um schließlich, wenn »der schöne Sturm vertobt«, »der Brennstoff verzehrt« ist, in einer grausig erhabenen Koda des zermarterten Helden Untergang zu schildern:
Ich fühle mich schon gleichsam angemodert.«
Diese Erkenntnis treibt Don Juan in die nächtliche Einsamkeit zwischen den Kirchhofmauern, wo ihm, dem selbst die Gewalt über den Todfeind kein Gefühl der Lust mehr zu erwecken vermag, Don Pedros Stahl den Gnadenstoß versetzt. Strauß machte es kurz mit diesem resignierten Endkampf, jedoch die [19] zwei Partiturseiten, auf denen der Unglückliche sein Leben verhaucht, besagen mit ihrem in Geigentremoli verebbenden und dem letalen e-Moll-Akkord zustrebenden Diminuendo mehr als die weitläufigsten Kommentare zur Höllenfahrt des vom Komponisten so lebenswahr erschauten Genußhelden.
Auch im »Don Juan« sehen wir die Beziehungen zum Schema des Sonatensatzes kaum gelockert. Natürlich handelt es sich hier um eine zwanglose Ausgestaltung, und die Lizenzen, die Strauß für diese erweiterte Ouvertürenform beansprucht, erstrecken sich auf die Relationen der führenden Themen untereinander sowohl wie auf ihre polyphonen Entwicklungen. Dem »Don Quixote« und dem »Heldenleben« zum Trotz bleibt »Don Juan« Straußens virtuosestes Orchesterstück, weil sich hier das impulsive Ergreifen des Stoffes, die blitzartige Vehemenz der Konzeption in Flammenschrift auf die orchestrale Hülle übertrug. Diese stählerne Schlankheit im Aufstellen der maskulinen Themen hat der Meister kaum jemals überboten, wie überhaupt die im Munde des Melancholikers Lenau sich so seltsam ausnehmende Devise:
Solang der Jugend Feuerpulse fliegen!«
musikalisch kaum drastischer kommentiert werden könnte. Eher wird man in den späteren Werken einen Nachklang der die Ritterthemen umkreuzenden weiblichen Symbolismen finden, die sich (Zerlinchen) bald zu einem kokett [20] verlegenen Lächeln kräuseln, dann wieder (Gräfin) im üppigsten Nonenakkordglanz einherschweben, im Maskenspiel mit der Frechheit der Venus vulgivaga locken oder (Donna Anna) die ganze Süße einer zwischen Abwehr und Hingabe kämpfenden Mädchenseele ausströmen. Und wo immer man das Kapitel »Strauß als Chromatiker« zur Diskussion stellt, da wird die Untersuchung vom »Don Juan« aus ihren Ausgang nehmen müssen.