Weimar ist eine Stadt von ca. 25,000 Einwohnern. Wenn alle Städte von solcher Einwohnerzahl in unserem lieben Deutschland so viel Musik machen wollten, könnte es um unser deutsches Musikleben nicht schlecht bestellt sein. 7–8 grosse Theater-( Orchester-), einige Kirchen-Concerte, eine Reihe von Musikschul-Concerten, 4 officielle Kammermusik Soiréen, mehrere Privataufführungen und Solistenabende ziehen neben dem Theaterrepertoire, das in der Woche etwa 2–3 Opernvorstellungen bringt, während einer Saison an uns vorüber; dazu hat Weimar vor anderen Städten seines Gleichen, und selbst grösseren Haupt- und Residenzstädten, den hohen Vorzug voraus: eine Anzahl Componisten, deren Namen vom besten Klange (Strauss, Lassen, Sommer etc.), einen Dirigenten wie Strauss, zwei Solisten von der Qualität eines Bernh. Stavenhagen und Halir und Concertsänger wie Giessen oder R. v. Milde in seinen Mauern zu beherbergen. Es lässt sich also wohl denken, dass wir zu Weimar hinsichtlich des Wie dieser Aufführungen nicht etwa an letzter marschiren, wenn wir begreiflicher Weise auch z. B. Orchesterbesetzung mit etwas beschränkteren Mitteln vorlieb nehmen müssen. Und ganz ebenso als das Wie darf sich auch das Was der Darbietungen in seiner Mannigfaltigkeit modernen Reichhaltigkeit anderen Städten gegenüber gar wohl sehen lassen. Ich denke, es genügt eine kurze, mehr statistische Zusammenstellung in gedrängter Form, um den Beweis hierfür, ganz im Allgemeinen wenigstens, hier anzutreten. So war z. B. Haydn in der vergangenen Saison vertreten mit einer Symphonie und dem Largo aus dem Ddur-Quartett; Mozart aus Anlass des Jubiläumsjahres mit der Symphonie in Gmoll, dem Clavierconcert in Dmoll, einem Doppelconcert für zwei Claviere (ganz vorzüglich und überaus stilvoll, in erfreulichster Einhelligkeit gespielt von den HH. Capellmeistern Dr. Lassen und Rich. Strauss), mit einer Concertarie, dem Streichquartett Gmoll, dem Streichquintett in Gmoll, dem Allegretto aus dem Fdur-Quartett und mehreren Opernarien; Beethoven mit den Symphonien in Ddur und Cmoll, dem Violinconcert (Hr. Halir), dem Clavierconcert in Gdur (Frau Margarethe Stern aus Dresden), der Ouverture »Zur Weihe des Hauses«, der Romanze für Violine in Fdur, sowie dem Quartett in Fmoll Op. 95; Schubert (ausser mit mehreren seiner besten Lieder) mit der unvollendeten Hmoll-Symphonie und dem Trio Op. 99 in Bdur; Mendelssohn mit dem Violinconcert (Joachim) und dem Cmoll-Scherzo für Clavier (Stavenhagen); Schumann mit der Bdur-Symphonie (NB. unter Direction von R. Strauss, der damit seine Befähigung auch zur Aufführung solcher Meister ein für allemal erwies), dem Clavierquintett in Esdur Op. 44, sowie einigen Liedern; Chopin mit Clavierpiècen (Stavenhagen, Frau Stern); Brahms mit dem Quartett Op. 51, No. 1, dem Quintett Op. 111, den bekannten Ungarischen Tänzen und Liedern; Lassen mit seiner Symphonie in Ddur, der »Faust«-Musik (gegeben alljährlich gelegentlich der Aufführung beider Theile des Dramas zum Osterfest), sowie Liedern; Berlioz (ausser mit »Benvenuto Cellini« in der Oper) mit der dramatischen Symphonie »Romeo und Julie« und dem grandiosen Requiem (Letzteres sogar zwei Mal aufgeführt); Liszt neben Liedern und einer seiner Rhapsodien (Frau Stern) mit dem Esdur-Clavierconcert (Stavenhagen), den symphonischen Dichtungen »Les Preludes« und »Mazeppa«, sowie der »Legende von der heiligen Elisabeth« (alljährlich in scenischer Vorführung zu Liszt’s Geburtstag); Wagner mit der Faust-Ouverture, dem Kaiser-Marsch, Liedern und Arien (in der Oper: »Rienzi«, »Der fliegende Holländer«, »Tannhäuser«, »Lohengrin«, »Die Meistersinger« und »Tristan und Isolde«); Cornelius (dessen »Barbier von Bagdad« und »Gunlöd« sich auf dem hiesigen Repertoire dauernd erhalten) mit Liedern und Gesängen; Ritter (neben seinen beiden kleinen Opern in der Oper) mit einer »Seraphischen Phantasie« (die mir übrigens ihrer Erfindungsarmuth wegen weniger behagte) und Liedern; endlich Rich. Strauss mit dem noch jugendlichen, aber sehr frischen und pathetischen Clavierquartett Op. 13, den Mädchenliedern und der nachgerade berühmt gewordenen »Don Juan«-Tondichtung (die – vielleicht grossartiger im Wurf wie in der genialen, souveränen Beherrschung aller harmonischen und instrumentalen Mittel – doch, was die Abgeklärtheit der Form wie des Inhaltes anlangt, an »Tod und Verklärung« noch lange nicht hinanreichen dürfte). Dies nur der äussere Rahmen, dem sich dann zeitweilig noch gar manche dii minorum gentium – wenn wir so sagen dürfen – mit einfügten: so Gade mit den »Ossian-Nachklängen«, Goldmark mit der »Sa[370]kuntala«-Ouverture, Bruch mit seinem neuesten Violinconcert (das durch Hrn. Concertmeister Halir’s süssen Geigenton nur gewinnen konnte), endlich E. Humperdinck mit einer Ballade »Die Wallfahrt nach Kevlaar« (der man das edle, schöne Streben anerkennen darf, auch wenn man in solcher Wiederbelebung einer bereits von Schumann vergriffenen Form durch die mittlerweile gewonnenen modernen Instrumentalmittel nicht das Heil erblicken kann). Auch das interessante amerikanische Componisten-Concert, welches zu beurtheilen später auch Leipzig noch Gelegenheit hatte, hörten wir hier; dagegen bliebe allerdings wohl zu wünschen, dass wir von den Slaven, den Skandinaviern (namentlich Grieg, Sinding), am Ende auch von den Franzosen und Slaven hier mehr zu hören bekämen. Italien ist ja durch Mascagni’s neueste Opern auch in Weimar bereits gar wohl vertreten, es wäre aber doch vielleicht von Sgambati und Martucci gelegentlich Notiz zu nehmen, und entschieden vermisst haben wir vollends noch von den Deutschen die beiden Wiener: Anton Bruckner und Hugo Wolff. Das muss im nächsten Jahre nachgeholt werden!
Besonders dankbar sind wir den Veranstaltern der regelmässigen Kammermusikabende – Lassen-Halir und Genossen – sowohl für die geschmackvollen Programme, als auch für die innerhalb derselben geübte Berücksichtigung der einheimischen Lyriker. Wenn man Capacitäten auf diesem Gebiete, wie Sommer, Lassen, Strauss, auch Lindner, zu seinen Mitbürgern zählt, braucht man den Vorwurf des »Localpatriotismus« bei Aufnahme ihrer Namen in die Concertprogramme gewiss nicht zu scheuen, und gratuliren darf man sich obendrein, wenn man hierzu wie in Hrn. Giessen einen Liedersänger sich gewonnen hat, der die Rücksicht auf den Stimmerfolg nicht über die ernste künstlerische Verpflichtung stellt, solcher Namen, auch wenn sie weniger dankbar und dem Publicum schwerer zugänglich sein sollten, mit überall gleich grosser Hingabe und Treue sich anzunehmen. Es thut dem Werthe dieses Urtheils keinen Abbruch, im Gegentheil, erhöht diesen sogar, wenn man dabei constatiren muss, dass ihm am allerbesten doch immer Lassen’sche Weisen liegen und er mit seinem Organ und seiner Vortragsweise immer noch bei diesen Nummern den Vogel abgeschossen hat.– Ein von Hrn. Concertmeister Roesel und einigen Herren des Hoforchesters ausnahmsweise veranstalteter besonderer Musikabend fand reichen Beifall und bot ein erhöhtes Interesse einerseits durch die pianistische Mitwirkung des Hrn. Capellmeister Richard Strauss bei seinem eigenen Quartett, andererseits auch durch die Vorführung eigener, zum Theil sehr gefälliger Compositionen der concertirenden HH. Roesel und Gutheil. Um den Vortrag der eingestreuten Lieder und Gesänge machte sich Hr. Hofopernsänger Bucha mit seinem prächtigen Organ verdient, der – nach seinem bisherigen raschen Wachshum zu schliessen – noch Grosses zu versprechen scheint.
(Schluss folgt.)