Seitdem Richard Wagner sein eigner Dichter gewesen ist, bereitet den Opernkomponisten die dichterische Unterlage ihrer Werke besonders viele Schmerzen. Denn mit »Textbüchern« im landläufigen Sinne ist es nicht mehr getan und leider sind die guten Dichter selten, deren Ehrgeiz sich damit zufrieden gibt, gute Opernbücher zu schreiben. Besonders schlimm lag die Sache immer, sobald es sich darum handelte, aus einem rezitierenden Drama eine Oper zu machen. Da wurde die Originalschöpfung des Dichters von mehr oder minder geschickten Händen zu einem Textbuche zurechtgestutzt und dabei kam es oft genug zu Vergewaltigungen und Verballhornungen des Dichters, über die dann die Tonkunst ihren Mantel verhüllend breiten sollte, während ihr doch selbst infolge der Geringwertigkeit des Textes der feste künstlerische Untergrund mangelte.
Auch Richard Strauss hat mit unzulänglichen Textbüchern seine schlimmen Erfahrungen gemacht, ist doch z. B. das schnelle Verschwinden der »Feuersnot« zum grossen Teile auf die Mängel der Wolzogenschen Dichtung zurückzuführen. Darum hat der Tonsetzer, dessen Sinn immer nach dem Neuen und Eigenartigen stand, jetzt einen kühnen Versuch gemacht: er hat kurzerhand das ganze Oskar Wildesche Drama »Salome« (von unwesentlichen Kürzungen abgesehen) in Musik gesetzt und damit in der Tat die Frage, wie man die Mittelsperson des Textbearbeiters umgehen könne, mit einem Schlage gelöst. In diesem Falle ist ihm das Wagnis entschieden geglückt.
Die künstlerische Absicht Straussens war, als er sich in dieser Weise unmittelbar an den Dichter anschloss, gewiss wagnerisch im besten Sinne: es sollte die innigste, durch keine »Bearbeitung« unterbrochene Verbindung zwischen Dichtung und Musik hergestellt, die Musik sollte aus dem Geiste der Dichtung heraus geboren werden. Nun ist aber gegen eben diesen Geist der Wildeschen Dichtung mancher Widerspruch laut geworden. Man hat gesagt, diese Schilderung einer sexuellen Abnormität sei schon auf der Schauspielbühne unerquicklich genug und müsse in der durch die Komposition geschaffenen Verbreiterung der Handlung und Unterstreichung der grässlichen Momente noch weit mehr gegen die grundlegenden Forderungen der Ästhetik im allgemeinen und der Musikästhetik im besonderen verstossen.
Mit Verlaub, meine Herrschaften: die praktische Ausübung einer Kunst ist noch immer der Weisheit der Theoretiker um einige Meilen voraus gewesen. Das müssten wir eigentlich aus der Kunstgeschichte gelernt haben und uns darum hüten, ein Verdikt nach allgemein ästhetischen Grundsätzen zu fällen, die vielleicht gerade in dem Augenblicke, wo wir sie zur Richtschnur unseres Kunsturteils machen, innerlich bereits überwunden sind. Überdies hat Strauss sicherlich derartige Erwägungen schon selbst angestellt, ist aber doch an die Komposition der »Salome« gegangen, weil er, der reichste Orchesterkolorist aller Zeiten, just bei diesem Stoffe das fand, was ihn reizen musste: auf der einen Seite das faulige Milieu einer innerlich zerfressenen, dem Absterben verfallenen orientalischen Kultur, in die Johannes der Täufer (Jochanaan) wie der erste Mensch jener neuen, reineren Kultur hineinragt, [57] welche der von ihm verkündete Christus der Welt zu bringen damals eben im Begriffe war. Und zwischen diesen beiden Kulturen ein herrliches Weib, das in tiefster Seele ächzt unter der Schwüle der Atmosphäre im blutschänderischen Hause von Herodes und Herodias. Bei einem Gelage im Palast überkommt sie der Ekel so stark, dass sie hinausläuft aus der Halle in den nächtlich dunkeln [sic] Hof. Und da sieht sie den Propheten Jochanaan, vor dessen strafenden Worten alle zittern, der in seiner herben Keuschheit und asketischen Erscheinung so ganz anders ist als alle Männer ihrer Sphäre. Sie drängt sich liebesehnend [sic], nach Genuss lechzend, an ihn heran, und als er ihr Werben streng zurückweist und ihre Liebesworte mit Flüchen lohnt, da erwacht die Tigernatur dieses Weibes. Sie fordert von Herodes, den sie durch ihren Tanz aufs höchste entflammt hat, den Kopf des so grausam Geliebten, nur damit sie ihren Willen hat und den Mund des Jochanaan küssen kann. Dass ein Musiker von der Eigenart Richard Strauss’ sich von dem Gedanken lebhaft angezogen fühlen musste, in diesen Irrgarten von Liebe, Hass, Wollust, Grausamkeit und Wahnsinn, in dieses schwüle Milieu mit den tausend Lichtern seiner individualisierenden Musik hineinzuleuchten, ist so begreiflich, dass man darüber kein Wort zu verlieren braucht. Die Hauptfrage ist: hat Strauss die grosse, schwierige Aufgabe, die dieser Stoff ihm als Musiker bot, gelöst? Hat er auf diesem Boden ein Werk von dauernder Bedeutung geschaffen?
Die erste Frage ist ohne weiteres zu bejahen. Es ist dem Komponisten in der Tat gelungen, ein in modernster Farbenpracht schillerndes, von pulsierendem Leben erfülltes Werk zu schaffen und mit seiner Musik zum Ausdeuter all der Geheimnisse Salomes und ihrer Umgebung zu werden. Allerdings wendet er dazu Mittel an, die so ungeheuer sind wie das ganze Unternehmen. Ein Orchester von 110 Musikern fordert Strauss und an jeden dieser Musiker stellt er die höchsten Anforderungen; den Instrumenten, deren Zahl er um das »Heckelphon« (zwischen Englischhorn und Bassklarinette stehend) bereichert, verlangt er die scheinbar unmöglichsten Schwierigkeiten und Klangwirkungen ab; auch die Gesangskräfte zwingt er zu den höchsten Anstrengungen unter den schwierigsten Bedingungen. Der Schwerpunkt der Musik liegt im Orchester. Hier tauchen die Motive, die das ganze Werk durchlaufen, in den verschiedensten instrumentalen Einkleidungen, rhythmischen und tonalen Umformungen auf. Aber diese Motive sind meist sehr kurz, ausgeführte Melodieen [sic] finden sich sehr selten, jene Kurzatmigkeit der modernen Musik, die in ihr immermehr zur Herrschaft gelangt, finden wir auch bei der »Salome«. Nur an verhältnismässig wenigen Stellen, wie z. B. in den Gesängen des Jochanaan, der Szene, in der Salome auf den Todesschrei des Propheten wartet, dem Schleiertanz und dem Schlussgesang der Salome strömt der musikalische Fluss breit und längere Zeit unbehindert dahin. Wenn man die Musik zur »Salome« kurz charakterisieren will, so möchte man sagen, dass sie Ausdruckskunst im höchsten Grade, aber nicht Empfindungskunst ist. Mosaikartig aus kleinen und kleinsten Teilen zusammengesetzt, sucht sie zu individualisieren, zu schildern, nicht aber die Regungen der Seele in uns zu lösen. Es ist eine unruhevolle Musik, in der selbst das geübte Ohr kaum einige Male eine Tonart feststellen kann. Ein fortgesetztes Ineinanderfliessen von Akkorden, ein steter Wechsel von Zeitmass und Vorzeichnung, eine Häufung von raffinierten Effekten der Orchestration halten zwar das Interesse des Hörers immer wach und bereiten ihm immer neue Überraschungen, lassen ihn aber andrerseits [sic] zu einem ruhigen Genusse nur für Augenblicke kommen.
Das Orchester steht durchaus im Vordergrunde, während die Singstimmen wesentlich zurücktreten. Das letztere folgt nicht nur aus der durchaus deklamierenden Behand[58]lung der Singstimmen, die sich in den schwierigsten Intervallen bewegen, sondern auch daraus, dass sie durch das Riesenorchester in vielen Fällen vollständig übertönt und sehr oft wenigstens teilweise gedeckt werden. Organe von nicht aussergewöhnlicher Tragkraft werden gegen die Gewalt des Orchesters fast machtlos sein. Dadurch geschieht es, dass die Textworte nur zum allerkleinsten Teile verständlich sind, so dass in diesem Punkte ein bedauerliches Zurückweichen von dem Wagnerschen Grundsatze der Vorherrschaft der Dichtung festzustellen ist. Alle Übertreibung rächt sich. Weil Strauss in der »Salome« die Orchestersprache über die zulässige Grenze hinaus ausgebildet hat (er arbeitet auch sehr stark mit Effekten, die mehr Geräusche als Töne darstellen), deshalb muss schliesslich das Wort der Dichtung im Überschwall der Töne ersticken, obwohl der Komponist, wie zu Anfang dargelegt wurde, an seine Arbeit mit der festen Absicht herangegangen ist, die Dichtung im Wagnerschen Sinne zu Ehren zu bringen. Dass es an harten Dissonanzen, schrillen Missklängen nicht mangelt, erklärt sich leicht aus dem ausgesprochen chromatischen Charakter dieser Musik. Aber schliesslich klingt doch alles gut zusammen und man kann nur die Souveränität bewundern, mit der Strauss über all diese scheinbar so widerstrebenden Tongewalten gebietet. Der stärkste Beweis für die innere Kraft seiner Musik liegt für mich zunächst einmal in dem grossen Zuge, der das Ganze durchweht und ein Zerflattern in Teilwirkungen verhindert, und in der reinigenden Wirkung, die sie in der letzten Szene bewährt. Denn gerade diese in der Dichtung abstossendste Situation wird durch die Musik emporgehoben und verklärt, so dass sie das Widerwärtige verliert. Und das ist für mich die unwiderlegliche Bekundung dessen, dass wir es in »Salome« mit einem ernsten und echten Kunstwerke zu tun haben.
Freilich dürfte auch diese neueste musikdramatische Schöpfung des genialen Führers unserer Modernen kein dauerndes Leben auf der Bühne haben, denn es fehlt ihr der Ewigkeitswert. Wie die Handlung uns zwar mächtig erregt, aber nicht erhebt oder erschüttert, weil sie nicht das allgemein Menschliche und darum immer Gültige, sondern einen krassen Ausnahmefall menschlicher Dekadenz uns vorführt, so ist auch die Musik zu sehr individualisiert und spezialisiert, als dass sie eine für alle Zeiten verständliche Sprache reden könnte. Als Dokument der Musik unserer Zeit wird »Salome« immer genannt und vielleicht von Zeit zu Zeit auch wieder aus geschichtlichem Interesse neu einstudiert werden; auch die Musiker werden sie künftig mit Eifer studieren und schätzen als eine unerschöpfliche Fundgrube feinster Instrumentationskunst und haarscharfer musikalischer Charakteristik. Aber den grossen Dauerwerken der musikalischen Weltliteratur wird sich »Salome« nicht anreihen. Sie ist noch das geniale Produkt einer Übergangszeit, aber dabei doch ein Werk, das von dem grossen Wollen und Können seines Schöpfers deutlich Zeugnis ablegt und an dem man daher nur mit dem Hute in der Hand Kritik üben kann.
Die Aufführung stand unter Ernsts v. Schuch [sic] Leitung, der sich damit wieder als einer unserer allerersten Dirigenten erwies, und war eine Ruhmestat der Dresdener Hofoper, die ihre besten Kräfte einsetzte und dem Werke zu einem grossen ehrlichen Erfolge verhalf. Frau Wittichs Naturell liegt zwar weit ab von der dämonischen Salome, aber sie gab in dieser Hinsicht, was nur irgend in ihren Kräften stand; gesanglich war ihre Leistung höchster Anerkennung wert. Mustergültiges in Gesang und Spiel boten die Herren Burrian (Herodes) und Perron (Jochanaan). Von den übrigen Mitwirkenden seien noch die Damen v. Chavanne und Eibenschütz sowie die Herren Jäger, Rüdiger, Plaschke, Wachter, Nebuschka, Erl, Kruis, Grosch, Saville und Rains genannt. Die Königliche Kapelle hat an dem Erfolge des Tages einen gewaltigen Anteil.