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Dr. Paul Pfitzner
»›Salome.‹. Drama in einem Aufzuge nach Oskar Wilde’s gleichnamiger Dichtung in deutscher Übersetzung von Hedw. Lachmann. Musik von Richard Strauss. Uraufführung im Dresdner Hoftheater am 9. Dezember«
in: Musikalisches Wochenblatt. Organ für Musiker und Musikfreunde, Jg. 36, Heft 50, Leipzig, Donnerstag, 14. Dezember 1905, Rubrik »Musikbriefe. Dresden«, S. 901–903

relevant für die veröffentlichten Bände: I/3a Salome
»Salome.«
Drama in einem Aufzuge nach Oskar Wilde’s gleichnamiger Dichtung in deutscher Übersetzung von Hedw. Lachmann. Musik von Richard Strauss. Uraufführung im Dresdner Hoftheater am 9. Dezember.

Seit langem ist kein Werk mit solcher Spannung erwartet worden wie diese »Salome«. War es doch ein offnes [sic] Geheimnis, dass in Wien das angebliche Zensurverbot nur eine Bemäntelung der Tatsache bedeutete, dass die Sänger sich entschieden geweigert hatten, diese wahnwitzig schweren Aufgaben zu bewältigen; und so fürchtete man auch hier noch Hindernisse in letzter Stunde. Aber kein Hindernis trat ein, alles verlief ohne Zwischenfall, und der wackre Hausdiener, der sich, mit einer Schlafdecke bewaffnet, Donnerstag abend um 9 Uhr auf den kalten Treppenstufen vor dem Hoftheater häuslich einrichtete, um am andern Morgen beim Kassenöffnen um 10 Uhr der erste zu sein, hat nicht vergeblich geduldet. Aber auch unsre Darsteller und Musiker, die wahrlich Übermenschliches leisteten, haben sich nicht vergeblich geplagt, denn erstlich bereitete ihnen das begeisterte Publikum am Schlusse eine Ovation von ca. 10 Minuten mit 20 Hervorrufen und zweitens haben alle die massgebendsten Geister Deutschlands auf dem Gebiete der Theaterkunst, die Intendanten fast aller grösseren Bühnen, ihren Triumph mit angesehen.

Richard Strauss ist verhätschelter Liebling, nicht eigentlich des Dresdner Publikums, wohl aber der leitenden Persönlichkeiten, vor allem Schuch’s, unsers Generalmusikdirektors. Wir kennen daher nicht nur alle seine Symphonien und symphonischen Dichtungen, sondern vor allem seine »Feuersnot« die auf unsrer Bühne vorzüglich gegeben wurde und daher das naturgemässe Vergleichsobjekt bildet. Glaubte man schon da an der letzten Grenze des Möglichen angekommen zu sein, sowohl hinsichtlich der Schwierigkeiten für Sänger und Orchester wie der Auflösung aller festen musikalischen Form, der ungeheuerlichsten Häufung schreiendster Dissonanzen, so muss man heute erklären, dass die »Feuersnot« – und das liegt ja zum Teil an dem verhältnismässig einfachen, psychologisch durchaus klaren Stoff – wie ein Kinderspiel anmutet gegenüber der »Salome«, deren kompliziertes Seelengemälde an sich schon eine Steigerung der Ausdrucksmittel bedingt. Was aber Strauss hierin leistet, übersteigt alles bisher Dagewesene, also auch seine »Feuersnot«, so gewaltig, dass das erste und überwältigendste Gefühl das des Staunens ist; erst bei mehrmaligem Hören [902] wird man tiefer eindringen können. Zwar ist, auch rein musikalisch genommen, der erste Eindruck ein faszinierender, Sinn und Nerven aufwühlender, so dass man in atemloser Spannung bis zum letzten Moment gefesselt bleibt, aber man hat soviel Neues aufzunehmen an Klangkombinationen, ungeahnten Instrumentaleffekten – ich will nur einen nennen: um einen unheimlichen Laut zu erzeugen, kurz bevor das Haupt des Johannes fällt, lässt Strauss die Saiten der Kontrabässe nicht mit dem Finger der Linken niederdrücken, sondern mit zwei Fingerspitzen umfassen, wodurch ein Ton erzeugt wird, den man sich zunächst gar nicht erklären kann – und die Auflösung aller bisher üblichen Harmoniegesetze ist eine so weitgehende, dass ein volles Erfassen beim ersten Hören ausgeschlossen ist. Unsre Kammermusiker erklären selbst, dass sie oft nicht wissen, ob sie falsch oder richtig spielen; verschiedene Instrumentengruppen spielen z. B. lustig in Tonarten, die um einen halben Ton von einander abweichen; einmal spielt das Orchester B dur, Salome singt aber ausgeprägt in H dur – aber derartige Gewaltsamkeiten mildern sich für den entfernter sitzenden Hörer und verschmelzen sozusagen zu einer höheren Einheit – wenigstens meint dies Strauss jedenfalls. Sicher aber ist, dass nur an sehr vereinzelten Stellen einige Takte lang dieselbe Tonart innegehalten wird, die Regel ist, dass aller halben Takte die grellsten Sprünge kommen, dass selbst kurze Phrasen der Sänger mit Vorliebe himmelweit entfernt von der Tonart endigen, in der sie begonnen haben. Was diese unsagbaren Schwierigkeiten für die Sänger noch ins Ungemessene erhöht, ist, dass sie meist nicht den geringsten Anhalt dafür am Orchester haben und vor allem, dass der Begriff des Rhythmus sich völlig verflüchtigt hat – womit ich natürlich nicht das Vorhandensein eines Rhythmus überhaupt läugne [sic], dieser ist im Gegenteil oft äusserst scharf und eigenartig – aber jede Phrase steht für sich, unbekümmert um die benachbarten, so dass Vieles den Eindruck allerfreiester Improvisation macht. Mag sein, dass es dann bei den freideklamatorisch gehaltenen [Stellen] auch nicht darauf ankommt, ob die Notenwerte peinlich innegehalten werden, unerhört schwer und geradezu aufreibend bleibt es sicher, diese Partien zu lernen und auszuführen.

Schwierig, ja wirklich peinlich ist es, ein Urteil über die Dichtung abzugeben, und doch muss dies geschehen, wenn man der Musik gerecht werden will, die gerade das Unheimliche, um nicht zu sagen Verbrecherische des Stoffes kongenial erfasst und wiedergibt. Man weiss, warum der Dichter Oskar Wilde sechs Jahre im Zuchthause zu Reading absitzen musste, und hierin liegt die scharfe Grenze für die, die in Wilde’s Dichtung den feinsten, wenn auch krankhaften Reiz intimer Seelenkündigung spüren, und die andern, die »in der Schaubühne eine moralische Anstalt« – noch immer! – erblicken möchten und es für eine Versündigung an Volksmoral und Anstand erklären, dass man diese Perversitäten auf die Bühne bringt. Damit der Leser selbst urteile, will ich möglichst kurz den Gang des Dramas skizzieren.

Herodes, der Vierfürst von Judäa, der seines Bruders buhlerisches Weib Herodias an sich riss, nun aber nach Salome, deren Tochter aus erster Ehe, die lüsternen Augen richtet, feiert ein Fest. Beim Aufgehen des Vorhangs erblickt man die Terrasse vor dem Palast: der Söldnerhauptmann Narraboth, der Salome inbrünstig liebt, starrt in den Prunksaal des Festgelages, wo er Salome beobachten kann. In der Mitte der Terrasse sieht man das Deckgitter einer Zisterne, in welcher Jochanaan (Johannes der Täufer), von römischen Söldnern bewacht, gefangen sitzt. Man hört seine unheimliche Stimme aus der Tiefe; er kündet das Nahen und Wirken des Messias. Das hört Salome, die das Gelage verlassen hat, um den gierigen Blicken des Herodes zu entgehen; sie erfährt von den Söldnern, dass der gefangene Prophet noch jung sei, und will ihn sehen. Mit Trotz und List erzwingt sie, dass der Prophet, gegen Herodes’ Befehl, herausgeführt wird, und betroffen über das männlich stolze Antlitz und den Feuerblick des keuschen Fanatikers wird sie plötzlich von leidenschaftlichem Verlangen erfüllt; sie will erst seinen weissen Leib berühren, dann, nach schroffer Ablehnung, sein Haar, dann verlangt sie seinen Mund zu küssen. Der vor eifersüchtiger Liebe wahnsinnige Narraboth ersticht sich, sein Leichnam stürzt zwischen ihr und Jochanaan zu Boden, und unbekümmert darum, fast auf die Leiche tretend, wiederholt Salome immer stürmischer: »Lass mich deinen Mund küssen, Jochanaan!« Dieser wendet sich, sie verfluchend, verachtungsvoll zur Zisterne zurück, nachdem sein Hinweis auf die Gnade des Messias unverstanden oder unbeachtet an Salomes Ohr abgeglitten ist. Salome ist starr über den Fluch und die Ablehnung durch den Propheten, und dann wächst riesengross, alles überwältigend, der Rachegedanke in ihr auf und dies schildert in einem längerem Zwischenspiel das Orchester in so wunderbarer Weise, mit Akkorden und Harmonien so rasend leidenschaftlicher Art, dass man das Gefühl hat, einem Geniestreich allerersten Ranges gegenüberzustehen. Bis zu diesem Punkt ist überhaupt die Musik verständlich, verhältnismässig durchsichtig, die Stimmung eines schwülen Abends im Orient äusserst treffend gezeichnet; die Worte des Propheten sind ungemein pathetisch und klangvoll, soweit sie sich auf den Messias beziehen, voll starrer fanatischer Hoheit, soweit sie gegen Salome und ihre blutschänderische Mutter gerichtet sind; nur Salome bewegt sich schon jetzt in einer allerdings äusserst charakteristischen Melodik, die ebenso ungewöhnlich und apart ist wie Salomes Wesen. Jetzt kommt Herodes mit Herodias und der Festgesellschaft heraus, halb trunken, und macht Salome in aufregend lüsterner Weise, aber erfolglos den Hof, während Herodias, von eifersüchtiger Wut gepeinigt, noch durch die lauten beschimpfenden Worte des in der Zisterne für sich predigenden Propheten angestachelt wird. Sie verlangt seine Hinrichtung, aber vergeblich, da Herodes den Gottgesandten fürchtet; vergebens erheben auch die jüdischen Festgenossen ihre Stimmen – ein Ensemble, welches an ausgesuchter Hässlichkeit und Dissonanzenhäufung wohl das Tollste darstellt, was bis jetzt existiert, wenn auch zugegeben sei, dass dieses Geplärr, das in der Aufführung stark jüdisch gefärbt wurde, sehr charakteristisch wirkt. Da nimmt Herodes, unbekümmert um die grausigen Weissagungen, die aus der Zisterne erklingen, seine Bemühung um Salome wieder auf, sie soll vor ihm tanzen – sie willigt ein, wenn er feierlich schwört, ihr alles zu geben, was sie verlangt; sie tanzt – : der Höhepunkt des Werkes von ca. 10 Minuten Dauer; während die Singstimmen schweigen, erklingen wunderbare Klangkombinationen, die mit langgezogenen Tönen einer Oboe echt orientalisch beginnen und mit einer gross aufgebauten Steigerung endigen, mit Zuhilfenahme aller erdenklichen Klänge, – gestopfte Blechinstrumente, Harfenglissando, Geigenflageolett mit sehr hohen Trillern, Glockenspiel, Kastagnetten etc. Jedenfalls ist das sinnlich aufregende Element, wie es bei den orientalischen Tänzerinnen tatsächlich zur Geltung kommt, ganz virtuos getroffen. Nun fragt der exaltiert verliebte Herodes nach Salomes Wunsch – : »Ich will den Kopf des Jochanaan!« und dies wiederholt sie mit starrer Beharrlichkeit nicht weniger als achtmal, als einzige Antwort auf die langatmigen Bitten und Beschwörungen des verzweifelten, unsanft aus seinem Liebestaumel geweckten Herodes. Er muss seinen Eid halten, das Haupt des Propheten wird auf silberner Schüssel aus dem schwarzen Schlund der Zisterne heraufgereicht. Salome empfängt sie triumphierend, vergisst alles, die grosse Festgesellschaft, die Söldner um sich her, ergeht sich in langen Reden des wahnsinnigsten Liebes- und Racheparoxysmus und küsst schliesslich die erstarrten Lippen ihres Opfers, ja, beisst hinein »wie in eine reife Frucht«, indem sie die Schüssel auf den Boden stellt und sich dazu kauert oder legt, von perversen Wollustkrämpfen in Ekstase versetzt. Als dies Herodes sieht, der bis dahin sein Haupt verhüllt hatte, schreit er auf: »Man töte dieses Weib!« – und die Söldner zermalmen sie mit ihren Schildern. –

Unsre vorzügliche Frau Wittich, die ideale Brünnhilde und Fidelio, konnte natürlich ein unnatürliches Scheusal wie diese Salome nicht restlos darstellen, so wenig als ein normaler, kerngesunder Mensch den Gefühls- und Gedankengang eines Perversen nachfühlen kann; aber immerhin hat sie auch darstellerisch erstaunlich Gutes geleistet, wenn auch der schlüpfrige Tanz ihr erspart blieb, indem eine Ballettkünstlerin (Frl. Korb), die ihr sehr ähnlich ist, geschickt und unbemerkt an ihre Stelle trat. Aber gesanglich hat sie geradezu Übermenschliches geleistet und die unerhörten Schwierigkeiten an Intonation und Höhe glänzend überwunden. Ganz grossartig, über alles Lob erhaben, darstellerisch wie gesanglich, war Hr. Burrian als Herodes, für dessen fabelhafte Begabung musikalische Schwierigkeiten überhaupt nicht zu existieren scheinen; diese Sicherheit, diese Schärfe der Deklamation – er war der einzige Sänger, von dem trotz des auf 120 Mann verstärkten, oft äusserst lauten Orchesters fast jedes Wort zu verstehen war – und dieses charakteristische Spiel (allerdings stark jüdisch gefärbt, wenig königlich, aber offenbar mit Strauss’ Billigung, da dieser den letzten Proben beiwohnte) sind nicht zu übertreffen. Hr. Perron ist wie geschaffen für den düstern Propheten und [903] brachte dessen Worte mit dem wunderbaren dunklen Timbre seiner herrlichen Stimme zu höchster Wirkung. Frl. v. Chavanne als Herodias und Hr. Jäger als Narraboth führten ihre weniger dankbaren Rollen mit Hingebung aus, ebenso wie die Darsteller der Juden und Söldner, deren Aufgaben bei ihrer enormen Schwierigkeit ebenfalls nur von hervorragenden Künstlern erfüllt werden konnten. Das grösste Verdienst aber hat natürlich Hr. von Schuch, der – man mag sonst über ihn urteilen wie man will, – doch ein Talent sondergleichen besitzt im Erfassen des Wesentlichen, des Charakters, der Höhepunkte einer Partitur und im Beherrschen aller zusammenwirkenden Faktoren. Er musste mit Strauss und den Hauptdarstellern, wie schon eingangs bemerkt, unzählige Male sich dem jubelnden Publikum zeigen.

Eine andre Frage ist nun die: was wird nun weiter? Kein Zweifel, dass die ersten Bühnen Deutschlands nun »Salome« geben werden, und ich sehe Hunderte von beklagenswerten Sängern und Orchestermusikern, die fluchend und stöhnend in monatelanger aufreibender Arbeit sich in diese überstiegenen Harmonien und Tonfolgen einwühlen, bis das widerwillige Gehirn sie sich zu eigen gemacht hat; und das Publikum wird gepackt und [verblüfft] sein, und kundige Lebemänner wie zarte Jungfräulein werden, wie man dies hier beobachten konnte, mit seltner [sic] Übereinstimmung sich die Hände wundklatschen, obwohl man von den letzteren sagen dürfte: Den Teufel spürt das Völkchen nie, auch wenn er sie beim Kragen hätte! Das glaube ich aber, trotz der Misslichkeit derartiger Prophezeiungen, doch bestimmt behaupten zu können: erstlich ist es ein Zeichen bedrohlichster Dekadenz, dass solche Werke perversen Sinnenkitzels, die als psychologisches Dokument ihren Wert haben mögen, derartigen Beifall finden, und zweitens, nach der rein musikalischen Seite hin, dürfte Strauss und in ihm die neuere Musik, an der Grenze angelangt sein, wo alle Gesetze ins Haltlose, Ungewisse zerflattern, wo es nun wirklich nicht mehr weiter geht, wo die ausgesuchte Hässlichkeit grellster Disharmonien als Sport betrieben wohl Überraschung und Staunen erwecken kann, wo die bewunderungswürdige Häufung der Effekte und Ausdrucksmittel wohl als charakteristisch empfunden werden mag – wo aber alles, was bisher als abgeklärt, beruhigend und künstlerisch erhebend galt, aufgegeben und geopfert wird. Sollte wirklich diese Richtung siegen, so ist es sehr fraglich, ob damit die Kunst an sich gewonnen hat; die Kluft zwischen dem natürlichen Empfinden des Volks und der aufs äusserste differenzierten Kunstauffassung der Fachleute wird jedenfalls immer grösser – und kein Geringerer als Richard Wagner mit seinem Hans Sachs hat darin einen schweren Schaden erblickt.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Claudia Heine

Bibliographie (Auswahl)

  • Auszug in Franz Messmer (Hrsg.), Kritiken zu den Uraufführungen der Bühnenwerke von Richard Strauss (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft, Bd. 11), Pfaffenhofen: Ludwig, 1989, S. 46, 49.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42690 (Version 2019‑05‑27).

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