Der Text, an dem sich dieser neueste Salome-Adebt entzündete, ist das kleine, feine Drama von Oskkar [sic] Wilde, das meine Leser kennen, weil es eines der vorzüglichsten literarischen Dokumente ist für eine bestimmte[,] an den letzten Grenzen der Sinnlichkeit spielende Vorstellungswelt, die man sich gewöhnt hat, pervers zu nennen. Salome ist seit einigen Jahrzehnten in unserer Kunst die erklärte Liebhaberin des Johannes geworden, und sie liebt ihn mit der rauschenden Inbrunst eines in Lüsten aufgewachsenen Weibes, dessen letzte Sensation ein schmutziger Heiliger, ein moralischer Keuscher, ein Märtyrer in Blut und Schrecken ist. Es ist das höllische Feuer, das die antike Welt verbrennt, indem es die moderne entzündet. Wilde hat den Stoff so gefaßt und ihn groß gesehen und menschlich durchempfunden und mit einem Teppich wunderbarer orientalischer Bilder und gleiche, die in eine süße wohlklingende Sprache aufgehen, wieder sanft zugedeckt.
Richard Strauß sitzt nun vor diesem Texte. Wer ist er? Er ist kein Dramatiker, kein Lyriker, kein Komponist, kein Opernmacher – er ist ein Orchesterpoet. Ihn reizen die Instrumente, sie stacheln ihn, sie erfüllen ihn mit Phantasie und Klangeffekten und drängen ihn, aus ihrem Material in ungebundenster Freiheit diese inneren tonlichen dynamischen, rhythmischen Vorstellungen zu gestalten. Er ist also kein Beethoven, der seine unaufhaltsame Kraft den widerwilligen Instrumenten und Kehlen aufdrängt; kein Wagner, der aus der Symphonie sich zu den äußersten Bühnenexperimenten entwickelt und ein sich wandelndes Lebensgefühl in seinen Opern wie in einem Memoirenband niederlegt, sondern er ist von der Familie der Berlioz, die von dem schönen Klavier, vor dem sie sitzen, gereizt werden, zu schaffen, zu dichten, zu revolutionieren. Einmal in der Symphonie, dann im Orchestergesang, dann im a capella-Chor [sic], dann in der Oper. Man nennt diese Familie leicht Techniker, und sie sind es in der Tat, weil ihre Hände auf dem Orchester mit erstaunlicher Leichtigkeit spielen, aber sie sind dies doch nur im selbstverständlichen Handwerk, sie sind Wecker und Rufer großer Geheimnisse und Offenbarungen, die in unserem Material schlafen und auf ihren originalen Gestalter warten. Sie machen nicht Adam, aber sie machen Eva aus dem Adam.
Nun liest dieser Orchesterdichter Wildes »Salome«, und mehr als in dem halbwagnerischen »Guntram«, mehr als in der spröden und etwas doppelzüngigen »Feuersnot« fühlt er hier sein Organ stark und nachhaltig anklingen. Der Juwelenladen, der hier aufgetan wird, spielt seine Künste in seiner Seele und es rauschen die Harfen, fluten die Flöten, wiegen sich die geteilten Streicher, die Holzbläser geben das tiefe Kolorit, die Bleche rufen zur Leidenschaft, die große Pauke und das Becken erschüttern die Welt und das Korps der Hörner findet sich in einer neuen religiösen Romantik um die asketische Pracht des Johannes zusammen. Ist es noch die Wildesche »Salome«? Dem Texte nach bleibt sie es, mit nur geringen Zusammenziehungen, dem Charakter nach wird sie aus Wilde in Strauß verpflanzt. Warum nicht? Sein »Zarathustra« ist kein Nietzsche, seine Salome vielleicht kein Wilde. Ist er ein Opernkomponist? Wilde reizt ihn, wie die Stadt Argenteuil an der Seine Herrn Monet reizte. Der malt sie nach seinem Ebenbilde, jener komponiert sie nach dem seinen. Er komponiert sich selbst, das hohe Lied auf den Dionysos des Orchesters und Herodes, Johannes, Salome singen ihm dazu mit den Worten Wildes. Ich habe gemerkt: Musiker finden Wilde so schön und musikalisch und reich, daß sie meinen, er brauche oder vertrage diese Musik nicht. Literarische Menschen finden Wilde ein wenig flach und wortreich und sehnen sich nach dem Tone. Ich gebe beiden recht, erlaube aber, mich als einen Sektirer [sic] vorzustellen, der sich bei Wilde nur für Wilde, bei Strauß nur für Strauß interessiert, diesen Text in seiner formellen, stilisierten Rhythmik und seiner blumigen Sprache und straffen Dramatik für das Muster eines modernen Operntextes hält und sich um der lieben Kunst willen herzlich freut, daß sich Strauß über ihm hat ausleben können. Ich weiß nicht, ob Straußens »Salome« so »pervers« ist wie Wildes, da ich gar nicht weiß, wie weit es diese ist. Nur das scheint mir wertvoll, daß der Tondichter hier einen Stoff fand, so geeignet, seine eigentümliche musikalische Anschauungsform und Sprache einheitlich und konsequent zum Ausdruck zu bringen, wie bisher keinen.
16 erste und zweite Violinen, 12 Bratschen, 10 Celli, 8 Bässe, drei große und eine kleine Flöte, 2 Oboen, englisch Horn und das neue Heckelphon, das die Oboengruppe nach der Tiefe vervollständigt, eine Es-Klarinette, 2 A-Klarinetten, 2 B-Klarinetten, eine Baßklarinette in B, 3 Fagotte und das Kontrafagott, 6 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen und die Tuba, 4 Pauken und eine kleine Pauke, Tamtam, Becken, große und kleine Trommel, Tambourin, Triangel, Xylophon, Kastagnetten, Glockenspiel, 2 Harfen, die Celesta (ein Stahlplattenklavier, das in dem modernen Orchesterapparat eine große Rolle zu spielen beginnt), Harmonium und Orgel – das ist die nicht üble Heerschau seiner Instrumente. Es beginnt (der Vorhang geht sofort auf) gleich mit der Celesta und Harfenflageoletts, und zuletzt beim Tode des Johannes schrauben die Bässe die E-Seite herunter, teilen sich in Solistengruppen, und einige bringen den von Berlioz erfundenen Effekt, durch Zwicken der höchsten Seite unter dem Griffbrett einen schaurigen, weinerlichen Ton zu produzieren. Es ist nicht zu beschreiben, wie viele technische Raffinements, Kombinationen, Teilungen, Stopfungen, Dissonanzenverstaffelungen zwischen diesen Polen liegen. Man soll es auch nicht beschreiben, denn es erweckt den Anschein eines Kunststücks, wo doch für den Hörer nur Kunst wahrzunehmen ist und ein kühnes, aber meisterliches Beherrschen des instrumentalen Körpers. Etwas über hundert Orchestermitglieder sind hier der Apparat für einen Künstler, der mit der Sicherheit des Impressionisten, tausendfältige Mischungen zu setzen weiß, ohne an irgend eine Tradition sich gebunden zu fühlen. Wer sich für die Orchestertechnik von Strauß interessiert, wird hier einen gewaltigen Schritt vorwärts beobachten, hinein in das neue Land der unendlichen, vibrierenden, viellinigen Polyphonie, die sich von der Musikarchitektur des achtzehnten Jahrhunderts in ungeahnte, impressionistische Fernen verliert. Den Musiker reizen sie. Sie eröffnen Perspektiven und lassen Zukünfte ahnen. Sind sie das Letzte, sind sie nur ein Weg oder ein Ziel? Wer weiß es. Doch wissen wir alle, daß die Welt nicht stille steht.
In der musikalischen Erfindung herrscht dieselbe Freiheit und Ungebundenheit wie in dieser Technik. Strauß scheute ja nie vor letzten Konsequenzen und Wahrheiten, hier aber, durch einen kongruenten Stoff beflügelt, ließ er seiner Phantasie rücksichtslos die Zügel schießen und erlaubte sich Kühnheiten, die nur durch die vollendete Sicherheit seines technischen Könnens auf dem Wege der Musik sich zurechtfanden. Durch eine vielfache neue Verwendung des Trillers kombiniert er benachbarte Tonarten, er legt verschiedene Tonalitäten frech übereinander, läßt zweite Violinen und Oboen in Sechsviertel- über einem Viervierteltakt verlorene Töne stechen, bringt mit den Holzbläsern in weiter Dimension fremdartige mystische Farben heraus und öffnet lachend die Tore jenes Juwelenladens, der ihn von Anfang an fasziniert hatte. Man muß die Partitur lesen, um die geistreichen Einfälle dieser sprühenden Kunst sich übertreffen zu sehen. Die Verarbeitung, die prismatische Brechung im schiebenden Licht der Situationen ist das Interessante, nicht das »Thema«. Noch lieben wir Leitmotive, aber wir leben nicht mehr in ihnen. Strauß kennt nicht die Wagnersche Systematik der eng verstrebten Motivwelt, obwohl er sie innerlich wandelt und kombiniert. Er ist zu malerisch dafür, zu flüssig. Er läßt die Motive auf dem Meere seiner leuchtenden Wasser schaukeln. Das Terzenmotiv, ein zitterndes Greifen, der Salome gewinnt mehr rhythmischen, als melodischen Charakter; ihr aufsteigend gieriges Motiv ist nur eine polyphone Farbe; ihr tänzerisches Motiv eine chromatische Süßigkeit. Manche melodische Wendungen entbehren der Originalität und Schärfe, aber sie werden schön gesetzt und wundervoll ausgebreitet. Allein das Johannesmotiv ist von neuer Prägnanz, die glücklichste aller Straußschen Motivführungen. In dreimaliger Quarte schneidet es scharf von oben ein und wühlt sich dann romantisch sehnsüchtig durch die zitternden Hüllen wechselnder Tonarten. Es ist schön. Es ist für Strauß die beste musikalische Entdeckung in der »Salome« geworden. Der Tanz der Salome ist eine sich steigernde wilde orgiastische, über eine Melodie hinüberrauschende freirhythmische, sehr ausgedehnte Orchesterdichtung, in der auch die Motive der Salome und des Johannes charakteristisch verwebt sind. Aber es ist ein Schauspiel. Die Johannes-Episode ist mehr. Sie ist ein tiefer seelischer Eindruck, von einer seltenen Größe der Empfindung, unmittelbar und erschütternd, der wahre tragische Moment dieses Stückes und in Weltendimensionen gedacht. Frei von jedem Parsifal-Einfluß, hat Strauß hier eine romantisch-religiöse Musik geschaffen, die die positivste Frucht und auch dramatisch der entscheidende Moment seiner »Salome« wurde.
Denn in dem Augenblick, da Johannes über der Zisterne erscheint, ist der Konnex mit dem Zuhörer hergestellt. Während Strauß selbst bis dahin wie versuchend in seinem Material spielt, gewinnt er hier mit einem Mal die sichere Hand, die feste Faust, und hält nun sein Stück gepackt. Es kommt die große Steigerung der Buhlschaft von Salome und Johannes, es kommt der Fluch des Johannes und das gewaltige Orchesternachspiel, das Auftreten des gierigen Herodes, das Scherzo der Juden, der Tanz, die gesteigerte Bitte um das Haupt des Propheten und die breit und schön ausklingende Szene (Strauß kennt die Wirkung dieser breitfließenden Schlüsse) der Salome mit der Silberschüssel und dem blutenden Haupt. Das charakteristische Motiv ihrer Sinnenekstase »laß mich deinen Mund küssen« geht in breiter Leidenschaft auf. Breit, rhythmisch gedehnt, mit wirklichen oder heimlichen Pausen, so legt sich die dynamische Kurve nach wahnsinniger Spannung in natürlichen Maßen wieder. In jeder Aufführung, auf jeder anderen Bühne wird diese Dynamik sich variieren. Die Ansprüche, die Strauß an die Bühne und Sänger stellt in dieser völlig chorlosen Oper, die nicht einmal die Reize des Rheingoldensembles hat, sind zu neuartig und aufregend. Er behandelt die Singstimme als selbständige, naturalistische Ausdrucksform, häufig im eigenen Takt, in einer eigenen Tonart, die beinahe zum Sprechton führt und nur in der lyrischen Ekstase mit dem Orchester fortreißend zusammengeht. Wagner ist gegen ihn ein Liedkomponist. Es gehört die letzte musikalische Freiheit dazu, wie […] Burrian in Dresden hat, der den Herodes mit einer erstaunlichen Stilsicherheit und ebenso großer musikalischer Intelligenz als schauspielerischer Gewandtheit verkörperte.
Das war ein weichlicher Tyrann, ein überhitzter Wüstling, ein unruhiger Angstmensch, zwischen Furcht und Geilheit gepeitscht, wie man ihn für diese Rolle nicht bald wieder finden wird. Er war das zweite Wunder des Abends neben dem ersten des Dirigenten Schuch, der mit unglaublicher, jugendlicher Freude sich in diese schwierigste aller Partituren eingearbeitet hatte. Er beherrschte die Szene. Von Frau Wittich konnte man es nicht sagen. [Seitenwechsel] Sie ist nun mal zu bürgerlich für Fräulein Salome. Sie lebt nicht in der Sinnenwelt. Sie gibt sich die größte Mühe, läßt alle ihre dramatischen Kräfte spielen, die ganze Schönheit ihres künstlerischen Gesanges, die uns schon so oft begeisterte und rührte, aber diese Rolle wird bei ihr oft unnatürlich und gewaltsam. Ich möchte die Bewegung der Gutheil-Schoder und die Stimme der Destinn für die Salome zusammentun. Nun, es ist eben nicht leicht[.] Und es hängt so viel davon ab. Frau Wittich wollte oder sollte nicht selbst tanzen (ich erzähle hier, was kein Geheimnis mehr ist), und so schob man eine Tänzerin ihr unter, die sehr geschickt und unmerklich an ihre Stelle trat, dieselbe Figur, dasselbe Kostüm. Sie mußte nun recht einfach tanzen, um die Illusion nicht zu stören. Schade – so kam d[e]r Tanz um seine Wirkung. Der Tanz war in Dresden nicht gut, er war nicht der Höhepunkt. Eine phantasielose Tänzerin bewegte sich vor einer eiskalten Herodesgesellschaft. Ich denke mir, wenn diese Szene mit der letzten orientalischen Leidenschaft und einem rasenden Kreszendo [sic] der Sinne hüben und drüben durchgeführt würde, daß sie dann uns schütteln könnte. Es wäre für die dynamische Kurve des Werkes von unermeßlicher Bedeutung. Und man könnte sich dann wirklich entschließen, eine Tänzerin offen dafür einzustellen. Der Mangel an Illusion würde durch die Erhöhung der Mitleidenschaft mehr als ausgeglichen.
So wird jede einzelne Bühne ihre Erfahrungen mit der Wirkung der »Salome« machen, wie sich jeder einzelne Hörer verschieden dazu stellen wird. Der eine wird darin eine Revolution und Offenbarung einer neuen Kunst sehen, der andere für die Bühne sich kaum interessieren und nur Aufmerksamkeit haben für die geniale technische Seite dieser Musik; der dritte den echtesten Strauß darin erkennen und studieren, ohne sich viel den Kopf zu zerbrechen, ob die Musik sich nun auf diesen Bahnen weiter bewegen soll oder nicht; der vierte von der ungewohnten Kühnheit sich abgestoßen fühlen, aber der Persönlichkeit die Achtung und das Interesse nicht versagen; der fünfte gar nichts merken und stumpf bleiben und mit der Herodias, wenn der Tetrarch meint, der Mond sei heut’ wie ein seltsames Bild, nur sagen: Nein, der Mond ist wie der Mond, das ist alles – oder wenn er sagt, es wehe ein Wind und er höre in der Luft etwas wie das Rauschen mächtiger Flügel, nur antworten: Nein, es weht kein Wind.
* | Von den vielen Kritiken, die in den Zeitungen über die Dresdner Premiere erschienen sind, scheint uns diese (in der Neuen Freien Presse veröffentlicht) am feinsten und klarsten das Wesen des Strauß’schen Kunstwerks empfunden und dargestellt zu haben. [Originalanmerkung]. |