Fl. aut.
»Indiskretionen über Richard Straussens ›Salome‹«
in: Dresdner Montagszeitung. für Fortschritt in Politik und Kultur, Jg. 1, Montag, 25. September 1905, Dresdner Morgenzeitung

relevant für die veröffentlichten Bände: I/3a Salome
[Indiskretionen] über Richard [Straussens] »Salome«.

Ein großes Kopfzerbrechen geht durch die Reihen der Künstler unsrer Hofoper. So ähnlich muß den Münchner Opernsängern 1868 zumute gewesen sein, als damals die Rollen zum »Tristan« verteilt wurden. Was aber sind alle Probleme des »Tristan« gegen die Nüsse, die Richard Straußens neue Oper »Salome« denen zu knacken gibt, so sich mit ihr beschäftigen müssen. Isolde wird zur Martha und Tristan zum Lyonel, wenn man an diese Salome und den Herodes denkt, welche zwei beide sich bereits am 20. November dieses Jahres dem aufs höchste gespannten Publico der Dresdner Hofoper vorstellen sollen … Nun aber im Ernst gesprochen: Die Dresdner Oper steht vor einem Kulturereignis. Ein provisorischer Klavier‑Auszug aus der »Salome« ist erschienen, gar nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt, nur zum Gebrauche für die Künstler, die berufen sind, das Werk hier aus der Taufe zu heben. Sie haben sozusagen die Noten noch naß vom Pulte des Komponisten erhalten. Aber schon der Einblick in den noch gar nicht endgültig redigierten Auszug genügt, dem unbefugt Neugierigen zum Erschrecken klar zu machen, daß es sich hier um das Werk handelt, das wohl die allerletzten und äußersten Konsequenzen der modernen Diatonik gezogen hat. Man ist eben nicht ungestraft neugierig. Strauß hat sich fast wortgetreu an die Vorgänge des Wildeschen Originals gehalten. Nur Weniges ist eliminiert, von Belangvollem eigentlich nur die Figur des römischen Gesandten Tigellinus, die so wundervollen Schlagschatten auf das Zeitkolorit des Ganzen wirft. Die Idee Straußens, Oskar Wilde wortgetreu in Musik zu setzen, wird anfangs Kopfschütteln erregen, aber nur so lange, bis man gesehen und gehört hat, daß Strauß sein Problem als ganzer Meister löste. Es ist ihm tatsächlich gelungen, die berauschende Pracht des Wildeschen Wortes musikalisch restlos auszuschöpfen. Dreiklangsgewohnte Ohren werden freilich Martern und Qualen dulden müssen unter der unaufhörlichen Wucht dieser Disharmonien, und Sittlichkeitsfanatiker werden toben, angesichts so viel Lasterhaftigkeit und Perversität der Musik. Glücklicherweise aber sind die Merkmale der unsittlichen Musik dem Zensor nicht so leicht kenntlich. Hätten sonst nicht das Tannhäuser‑Bacchanale und der zweite Akt des »Tristan« schon längst konfisziert werden müssen? So wollen wir auch hoffen, daß das Kunstwerk, das Strauß in seiner »Salome« geschaffen, heil vor das Forum der Oeffentlichkeit kommt. Mögen die noch immer nicht ausgerotteten Verfechter des »musikalisch Schönen« auch ein wenig aus dem Häuschen geraten, mögen die Mucker und Moralfexe außer sich sein – die Welt wird staunen über diesen durchaus neuartigen, üppigen Kult des Erotischen, über die unheilschwangere Dämonie der Akkorde, über die starke rezitativische Kraft der Reden des Johannes und über den herrlichen melodischen Schwung, den Strauß an den wenigen Stellen angebracht hat, wo er ihn anzubringen für gut hielt. Ein wichtiges Stück des Werkes fehlt noch in diesem von Straußens treuem Adlatus Singer verfaßten Klavier‑Auszug: Der Tanz der Salome. An Aufführungsdauer wird die »Salome« ca. 2 Stunden in Anspruch nehmen. Außer Rich. [Richard] Wagners »Rheingold« besitzt die ganze Opernliteratur keinen Einakter von ähnlicher Ausdehnung. Am 20. November soll die Premiere sein. Ob aber die Künstler bis dahin mit dem Studium ihrer Partien fertig sind, ist eine andre Frage. Die Salome wird Frau Wittich, den Herodes Burrian, den Jochanaan Perron verkörpern. Von dem oft bewährten Kunsteifer der Genannten ist mit Sicherheit zu erwarten, daß sie den Kampf dieses Studiums mit aller Energie aufnehmen werden und daß es Strauß nicht so gehen wird wie bei den vor nunmehr zehn Jahren erfolgten Vorbereitungen zur Münchner Premiere seiner Erstlingsoper »Guntram«, bei denen Künstler wie die Ternina, Heinrich Vogl und Otto Brucks einfach streikten. Sie streikten, trotzdem oder gerade weil Strauß damals Hofkapellmeister in München war und verlangten die Berufung einer Kommission von musikalischen Sachverständigen, die entscheiden sollte, ob sie kontraktlich verpflichtet wären, derartiges zu singen. Und die Kommission (sie bestand aus den konservativsten Musikern der Isarstadt) entschied damals mit – »nein«. Es fand sich jedoch Ersatz, aber der war so unzureichend, daß »Guntram« nach Ueberwindung der mannigfachen Hindernisse nur einmal hintereinander gegeben werden konnte, worauf Strauß München grollend den Rücken kehrte. Heute ist Richard Strauß eine zu anerkannte Autorität, als daß ihm Aehnliches passieren könnte. Aber die horrende Schwierigkeit der Aufgaben, welche die »Salome« stellt, läßt immerhin einige Opposition der zur Mitwirkung an der Aufführung Berufenen erwarten. Daß »Salome« den Clou der diesjährigen Opernsaison hier wie überall bilden wird, braucht nicht erst gesagt zu werden. Schon jetzt haben sich Gäste aus allen Gegenden zur Erstaufführung angesagt. Die Aufmerksamkeit der Welt ist wieder einmal auf Dresden gerichtet.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Claudia Heine

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42635 (Version 2019‑04‑12).

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