Es scheint nur noch Novitätenkonzerte zu geben. Das Novitätenkonzert ist das Modekonzert oder möchte es gern sein. Auch konservative Konzertgesellschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das dreimal gesiebte Beste vom Guten und Mittelmäßigen zu sichten und in strenger Absonderung zu erhalten, werden ihrem ehemals oft allzu rigoros und einseitig betätigten Prinzip untreu, als fürchteten sie, besiegt von der zunehmenden Konkurrenz, die Gunst ihres angestammten Publikums zu verlieren. Neues um jeden Preis! ist die Losung des Tages, und was der Tag bringt, geht und vergeht auch meist wieder mit dem Tage, so daß schließlich alles beim alten bleibt. Wer sich die vielen neuen Erscheinungen, auch nur dem Namen nach, merken wollte, müßte ein vorzügliches Gedächtnis haben. Das Gehirn eines liebhaberischen Musikkonsumenten wird von all den Oratorien, Messen, Symphonien, Kammermusikwerken, Klavierstücken und Liedern, die sich ihm einbohren, durchlöchert wie ein Sieb, und mit der Spreu fällt der Weizen hindurch in die Leere des Vergessens. Uebler ist der verpflichtete Musikreferent daran, der mit den einander überstürzenden Ereignissen Schritt halten und ihnen einen Platz in losen Blättern seines Merkbüchleins einräumen soll. Wenn er sich das Kritisieren nicht längst abgewöhnt hätte, um nur noch als hinkender Berichterstatter dem Dagewesenen nachzukeuchen, so müßte er angesichts der Ueberzahl von Novitäten, die zu studieren, anzuhören und zu besprechen ihm obliegt, verzweifeln. Am übelsten aber fahren die Künstler dabei, weil die durch den Ueberfluß hervorgerufene Not sie zu spät erkennen lehrt, daß sie in dem vielgeschmähten und gefürchteten Kritiker einen aufrichtigen Freund besaßen, mit dem sich noch immer besser leben und auskommen ließ, als mit ihren eifersüchtigen Nebenbuhlern, die den mörderischen Vernichtungskrieg aller gegen alle erklärt haben. – [Giambullari] sagt in Cosimo Bartolis »Ragionamenti Accademici« von 1567: »Alle Dinge, welche unsere Sinne erfreuen, wie es die Musik zu tun scheint, schaden, wenn sie unmäßig betrieben werden; mäßig betrieben, nützen sie nicht nur dem Ausführenden, sondern auch dem Hörer«, und sein Widerpart in diesem akademischen Gespräche, Lorenzo Antinori, fügt hinzu: »Also der Fehler entsteht durch die Unwissenheit der Menschen, welche die Dinge nicht zu benützen verstehen.« Wir entnehmen dieses zeitmäßige Zitat einem fein geschriebenen, quellenreichen Buche »Die Musik im Zeitalter der Renaissance«, das Max Graf in der von Richard Strauß herausgegebenen Serie illustrierter musikalischer Monographien erscheinen ließ, einem Vademekum für jeden gebildeten Freund der Musik.
Als Herausgeber musikalischer Literatur geht Richard Strauß nicht so wild ins Zeug, wie als symphonischer Dichter, und auch seine Mitarbeiter machen keinen solchen Lärm, wie das Orchester seines »Macbeth«, den wir im vierten Philharmonischen Konzert in erster Aufführung zu hören bekamen. Die Hexen haben daran mitkomponiert, und der Endreim ihres schauerlichen Eröffnungsliedes (»Fair is foul, and foul is fair«) kann für das Motto des Straußschen Orchesterwerkes gelten. Aber diese zur Symphonie erweiterte Macbeth‑Ouverture, die den symphonischen Dichter in der Vollkraft seiner jugendlichen Erfindung zeigt, hat doch auch ihre Prachtstellen, wo Wüst und Schön im gelben Nebel der Heide noch nicht durcheinanderquirlen, sondern die Aussicht auf fruchtbaren Saaten und grünende Wälder frei wird. Die vier gewalttätigen Durchführungen des Werkes sind zu viel für die Auffassungsfähigkeit des Zuhörers, immerhin für uns interessanter als die in endlosem Zirkeltanze sich nicht vom Flecke rührenden Wiederholungen der Brucknerschen Es‑Dur‑Symphonie, der »Romantischen«, die mit ihren »überraschend glänzenden« und »glanzvollsten Modulationen«, »höchst bestimmten Abbrüchen«, »geheimnisvollen« Orgelpunkten, »kühnen«, »trotzig‑kühnen«, »cyklopisch kühnen« und »kühnsten kontrapunktischen Kombinationen« und »ganz eigens stimmungsvollen Rückblicken« (vide das schwärmerische Programmbuch!) eine hypnotisierende Wirkung auf unser möglicherweise allzu profanes, für Brucknersche dekompositorische Heilsoffenbarungen wenig empfängliches Gemüt ausüben. Auch hier begegnen uns hervorragende Schönheiten, die wir bei Bruckner überall finden und von jeher anerkannt haben, Stücke aus dem Ganzen unter heillosem Flickwerke. […]
[2] War das Arrangement schlecht, so war die Aufführung um so besser, und Felix Mottl, der auch den Werken von Strauß und Bruckner ihre Geheimnisse mit einer an Unerbittlichkeit grenzenden Energie abforderte, wurde zusamt dem Orchester enthusiastisch akklamiert. Besonders schlugen die Mittelsätze der Brucknerschen Symphonie ein und das Orchester erhob sich zweimal wie Ein Mann, um den Dank der Zuhörer stehend zu empfangen.
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