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[ohne Titel]
in: Berliner Börsen-Zeitung, Heft 483, Freitag, 15. Oktober 1909, Morgen-Ausgabe. 1. Beilage, Rubrik »Kunst und Wissenschaft«, S. 6–7

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra

Lang, lang ist’s her, seitdem die Straußsche »Elektra« zum ersten Male auf der Bühne unserer Königl. Oper erschien. In merkwürdiger Zurückhaltung hat unser erster Kapellmeister bisher darauf verzichtet, sein Werk selbst zu dirigieren. Erst jetzt haben wir die Freude gehabt, eine »Elektra«-Vorstellung unter der persönlichen Direktion des Komponisten zu erleben. Es war in der Tat eine Freude! Nicht allein, daß in dieser Wiedergabe des Werkes die drängende Wucht der dramatischen Vorgänge, denen das Orchester eine so überaus scharf charakterisierende instrumentale Untermalung gibt, noch wesentlich verstärkt schien, es wurde zugleich auch die überreiche Polyphonie, das so komplizierte Motiven-Gespinnst [sic] des Orchestersatzes in durchsichtigster Klarheit bloßgelegt. Und das, trotzdem Richard Strauß die Tempi ungewöhnlich schnell nahm und häufig alle nur erreichbare Schallkraft aus dem Orchester zog. Von geradezu überwältigender Wirkung war die große Steigerung vor dem Erscheinen des Orestes und wieder die weichen, gesangvollen Episoden der Szene zwischen Elektra und Orestes leuchteten in den zartesten Farben.

Und wie Sänger und Musiker auf jeden Wink des Dirigenten reagierten, wie sie seine klaren, sprechenden Zeichen in klingende Tat umsetzten! Kein Zweifel, in solch’ einem großen, lebendig dahinströmenden Zuge ist uns die »Elektra« bisher noch nicht interpretiert worden. Im Orchester wie auf der Bühne schien jeder einzelne bis zur äußersten Grenze seiner Leistungsfähigkeit emporgehoben. Frau Plaichinger zeigte sich von Anfang bis Ende den fast ins Maßlose gesteigerten Affekten der Titelpartie völlig gewachsen und erzwang sich namentlich durch die Art, wie sie bei aller Betonung des Dramatischen, doch [7] überall die Schönheit des Tones wahrte, die Bewunderung des Hörers. Mit eindringlichster Kraft des Ausdrucks führte Frau Goetze die große Szene der Klytämnestra durch, während Frl. Rose den naiven Empfindungen der lebensfrischen Chrysotemis [sic] durch einen lebhaft bewegten Vortrag gebührend Rechnung trug.

Auch sonst war überall die Premieren-Besetzung beibehalten worden, und nur die Partie des Orestes, die damals Herrn Bischof [sic] zugewiesen worden war, ist jetzt an Herrn Hoffmann übergegangen, der die kurze, aber so gewichtige Szene des Orest in Ton und Ausdruck, namentlich aber auch im Gestus doch etwas wirksamer, eindrucksvoller zu gestalten weiß, als sein Vorgänger. Daß wie die Künstler, so auch das gesamte Publikum ganz im Banne des besonderen Ingeniums, des belebenden Fluidums stand, das vom Dirigentenpulte ausging, bedarf kaum besonderer Betonung. Es genügt, zu konstatieren, daß der Beifall nach dem Schlusse der Oper in der Tat kein Ende nehmen zu wollen schien und daß mit den Hauptdarstellern auch Richard Strauß unzählige Male auf die Bühne gerufen wurde.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz, Adrian Kech

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42595 (Version 2021‑09‑30).

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