Dresden, 25. Januar.
Es wurde gejubelt heute in der Hofoper bei der Uraufführung der »Elektra« von Richard Strauß, aber ein so intensiver Erfolg, eine solche, man ist versucht, zu sagen, verblüffende Wirkung, wie vor drei Jahren bei der »Salome« ist nicht zu konstatieren. Natürlich nicht, denn es fehlte die Ueberraschung des absolut Neuen. Die Straße, die er damals eingeschlagen hat, schreitet Strauß mit großer, hin und wieder allzu großer Kühnheit weiter. Aber er zeigt auch, daß er nicht nur einen, sondern mehrere Wege kennt, die nach Rom führen. Er widerlegt in diesem neuesten Werke die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, als ob er sich nur in der Behandlung grausiger oder gar perverser Stoffe wohlfühle, und als ob er sich klüglich eine Kompositionsmethode ersonnen hätte, die es ihm ermögliche, durch blendende Technik über den Mangel an melodischer Empfindung hinwegzutäuschen. Seine Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen, erst der Historiker wird feststellen können, ob sie sich einheitlich vollzogen hat, ob sie trotz aller zeitweiligen Neigungen nach rechts oder links einem Ziele zugestrebt ist.
Strauß, der sein dramatisches Schaffen mit dem lehrhaften »Guntram« begann, schwimmt heute in den D-Strömungen der modernen Kunst, der nichts Menschliches fremd ist. Gleich den Malern, Bildhauern und Dichtern schreckt er auch vor dem Furchtbarsten, schreckt er auch vor der Perversität nicht zurück. Doch er geht darin nicht auf. Wenn er im Strudel zu versinken scheint, dann klingt ein Unterton mit, aus dem man es hören kann, daß seine Sehnsucht einer reineren Sphäre gilt. In der »Elektra« deutlicher noch als in der »Salome«. Hat er deren Seele ganz am Schluß mit milderen Gefühlen erfüllt, von denen Wilde nichts weiß, so bringt er uns zuletzt auch das Empfinden, [sic] der Elektra menschlich näher, als es Hugo von Hoffmannsthal [sic] gelungen ist, dessen Spuren er sonst getreulich folgt, getreulich, nicht sklavisch. Wie das Wildesche, hat Strauß das Hofmannsthalsche Drama im wesentlichen unverändert vertont, nur hat ihm der Dichter, weil sein musikalisches Bedürfnis es verlangte, gelegentlich eine Kleinigkeit hinzufügen müssen … Sein musikalisches Bedürfnis! Ja, in der »Elektra« wird es evident, wie der Programmusiker Strauß am letzten Ende aus dem musikalischen Empfinden und Denken heraus gestaltet, so daß der Schein zunächst dagegen ist. Im größten Teil des Werkes schließt sich der Komponist wieder aufs engste den Worten des Textes an, sucht sozusagen jede Silbe besonders zu charakterisieren. Und nicht nur jede Silbe des Textes, sogar [2] szenische Anordnungen des Dichters sollen womöglich in der Musik zu ihrem Rechte kommen. Da kann man denn nicht mehr mit dem Komponisten Schritt halten. Da will er einen [sic] mitunter nicht als Tondichter, sondern als Tonsetzer erscheinen, der nicht innerlich nachschafft, sondern äußerlich abkonterfeit. Er spielt mit dem Motiv Fangball, wirft Motive, wirft Harmonien zusammen, daß man trotz der Kunst, mit der [er] es tut, doch nur den Eindruck gewinnt: Hier wird gräßliches mit gräßlichen Tönen geschildert.
Doch er hat zum Glück auch andere auf seiner Leier, und er wendet sie in der »Elektra« häufiger an. Er hat mehr Sinn für die Charakteristik und Sinn für die Schönheit vom Erscheinen des Orestes an. Namentlich aber, nachdem das Furchtbarste überstanden, nachdem Klytämnestra und Aegisth hingemordet sind, trägt die Musik ein neues Gepräge. Zwar hört die Detailmalerei nicht auf, auch die musikalische Arbeit geht weiter, aber sie wird verschlungen von einem breiten Strom der Melodie. Bei Hofmannsthal höre ich immer noch, wie die Kinder des Agamemnon mit einer gewissen Wollust von Blut und Finsternis reden, bei Strauß kommt mir immer mehr zum Bewußtsein, daß sie den Mord als eine Pflicht und deren Erfüllung als eine befreiende Tat ansehen, die in ihrer Brust den Haß zum Schweigen gebracht und für die Liebe Raum geschaffen hat. Der Tanz, den uns die Musik in höherem Maße versinnbildlicht als die Behandlung der Elektra, ist jetzt am Platze. Es ist nicht ein Bacchanal, sondern ein Dithyrambus, eine Hymne der Begeisterung und des Triumphs. Ich will nicht sagen, daß die Straußsche »Elektra« geeignet wäre, jene Katharsis hervorzurufen, die die Alten vom Drama gefordert haben, aber die Straußsche Musik hält uns doch nicht so weit davon entfernt, wie die Hofmannsthalsche Dichtung ohne sie. Nach der Pein des Vorausgegangenen bringt der Schluß doch eine befreiende Wirkung, weil bei Strauß – in Erinnerung der bekannten sinfonischen Dichtung möge der Ausdruck gestattet sein – auf den Tod die Verklärung folgt. Und das ganze Werk mutet an, wie der leise Beginn einer Verklärung trotz aller Uebertriebenheit. Strauß geht, wie erwähnt, mitunter über die Grenze hinaus, bis zu der ihm gewöhnliche Sterbliche folgen können, aber eben nur an einzelnen Stellen, und wo er immer noch mehr Sinfoniker als Dramatiker in dem Sinne ist, daß er die menschliche Stime [sic] durchaus instrumental behandelt und nicht mit der Rücksicht auf ihre Eigenart wie die anderen Instrumente. Wenn man von einigen Malen absieht, wo er gerade die von ihm gewählte Note geschrieben hat, wenn man meint, die handelnde Person könnte da ebensogut sprechen, so gibt es in der »Elektra« sehr erhebliche Strecken, die gesungen werden sollen und gesungen werden können.
Es war nicht das kleinste Verdienst der glänzenden Aufführung unter Schuchs genialer Leitung, daß er den Sängern ihre schwere Aufgabe nach Möglichkeit erleichterte, und den Sängerinnen, die man in diesem Falle an erste Stelle setzen muß. Die Männer, selbst der Orest, bleiben ja so sehr im Hintergrunde in dieser Tragödie, die fast ganz auf den Schultern der Trägerin der Titelpartie ruht: Frau Krull führte sie, wenn man ihr auch zuweilen mehr Größe gewünscht hätte, musikalisch und darstellerisch in einer Weise aus, daß man ihrem Eifer und ihrer Ausdauer nur die höchste Anerkennung zollen kann. Daß Frau Schumann-Heink eine gräßliche1 Klytämnestra sein würde, war ja zu erwarten, während Fräulein Siems wenigstens allen denen, die sie nur von ihrem Berliner Gastspiel als Koloratursängerin kannten, mit ihrer Chrysothemis eine angenehme Ueberraschung bereitete. Die Rolle des Orest war bei Herrn Perron, die des Aegisth bei Herrn Sembach wohl aufgehoben. Allein soviel Lob man auch auf die Solisten häufen mag und auf die geschickte Regie des Herrn Toller: die Palme gebührt doch Schuch, der Wunder von Energie und feiner Abtönung des Klanges verrichtete.
1 | Vgl. dazu H. Neumanns »Nachklänge von der ›Elektra‹-Premiere in Dresden«, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 27.01.1909, S. 2. |