Fiege, Rudolf
»Elektra im Königlichen Opernhause«
in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Jg. 48, Heft 40, Mittwoch, 17. Februar 1909, Unterhaltungs-Beilage, S. 9

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
Ich kann den Geist der Musik nicht anders fassen als in der Liebe. Richard Wagner.
Elektra im Königlichen Opernhause.

Hugo v. Hofmannsthals Tragödie Elektra mit Musik von Richard Strauß war bereits in Dresden, Frankfurt a. M. und München auf die Szene gelangt, als sie am Montag in Berlin gegeben wurde. Ueber das Werk im ganzen ist nach seiner Erstaufführung in unserer Zeitung so zutreffend berichtet, daß uns nur übrig bleibt, das dort Gesagte näher auszuführen und dabei einige Bemerkungen über die Entwicklung des Musikdramas und die Stellung der Elektra in demselben zu machen.

Wie glücklich ist doch Richard Strauß, namentlich, wenn man ihn mit Richard Wagner vergleicht! Der schrieb unter Sorgen und Not erst seine Dichtungen und deren Musik, dann reiste er im Lande umher, geeignete ausführende Künstler zu suchen und zu gewinnen, und dann erbettelte er sich die Mittel zur Aufführung seines Festspiels in einem Hause, das er selbst erst hatte erbauen müssen. Viele Jahre der Mühe und Arbeit kostete das alles. Und kaum hatte das Werk »der Welt sich offenbar gemacht«, da war es mit der ganzen Herrlichkeit einstweilen wieder zu Ende. Aufs neue drang die Sorge auf den vielgeprüften Mann ein. Aufs neue mußte er ein großes Bühnenwerk schaffen, das Glück sich zu erraffen. Und als er der Welt das neue Wunder vorgeführt hatte, da – wie es im Lohengrin heißt – »zog er ein in der Seligen Frieden«. Wie ist das so ganz anders bei Richard Strauß! Er braucht nicht zu suchen, man sucht ihn. Die Bühnen drängen sich nach seinen Stücken, die Künstler nach deren Rollen. Und dabei sind die Werke so kurz und die Rollen so schwierig, wie es bei Wagner nie der Fall war. Aber Richard der Erste hat die Künstler diesseit und jenseit der Bühnengardine für die Aufgabe des zweiten Richard so trefflich vorbereitet, daß sie die gewaltigen Schwierigkeiten seiner Werke frag- und klaglos überwinden. Man glaubt es heute kaum, daß die Wiener Hofoper im Jahre 1863 Tristan und Isolde nach siebenundsiebzig Proben als unaufführbar zurücklegte. Und wie glücklich ist auch Strauß, daß er nicht mit dem Klingelbeutel umherzugehen braucht! Für ein Werk, das kürzer ist, als der erste Akt der Götterdämmerung, kommen ihm Millionen zugeflossen.

Einst durfte man spotten: »Was zu dumm ist, gesprochen zu werden, das singt man und nennt es eine Oper.« Der Text war damals bedeutungslos. Die Musik trat selbstherrlich auf. Der selbständig erstandenen Melodie wurde ein Text »untergelegt«, und sie war für ihn dann oft zu kurz oder zu lang. War das letztere der Fall, so wurden Worte wiederholt, oder es wurde auf ah und oh weitergesungen, wie man das noch in des Thomas Hamlet finden kann. War die Melodie zu kurz, so verstümmelte man den Text. Gluck aber verlangte, das Wort solle herrschen, und Mozart sagte, er suche beim Komponieren zu vergessen, daß er Musiker sei. Das soll heißen, die Tätigkeit des Tonsetzers habe sich der vorhergegangenen des Dichters anzupassen. Eine Operndichtung muß schon im Hinblick auf die Vertonung verfaßt sein. Denn es läßt sich nicht alles singen, was für das gesprochene Wort geeignet ist. Die meisten Dramen sind in ihrer literarischen Fassung für die Oper schon wegen des bedeutenden Zeitunterschiedes nicht zu gebrauchen, der zwischen dem Singen und Sprechen besteht. Man nehme beispielsweise den Vers: »Es war ein König in Thule«. Gesprochen währt er kaum zwei Sekunden, in geeigneter Musik gesungen aber fünf! Man könnte ihn auch in zwei Sekunden singen, dann würde er jedoch nur ausdruckslos oder ausdruckswidrig erklingen. Wenn es bei David in den Meistersingern heißt: »Hab’ ich das Leder glatt geschlagen, lern’ ich Vokal und Konsonant sagen«, so ist das schon im Hinblick auf die Musik geschrieben, die dann auch durchaus bezeichnend und auch melodiös ist. Spricht aber gleich anfangs in der Elektra die Magd: »Ist doch ihre Stunde, die Stunde, wo sie um den Vater heult, daß alle Wände schallen«, so hat der Wortdichter da nicht Rücksicht auf den Tondichter genommen, und der weiß mit der Phrase nichts Rechtes anzufangen. Die Dichtung darf nicht despotisch die Musik beherrschen, sondern hat mit ihr ein [sic] Kompromiß zu schließen. Geht der Musiker dennoch an ein Wortdrama, wie diese Elektra es ist, so muß er die musikalischen Formen verstümmeln und zerreißen. Er gibt die zarten, edlen Glieder der Musik dem Gedichte nicht zur Vermählung, sondern zum Vergewaltigen hin. Dann findet man in der Partitur die Melodiefäden zerschnitten und die Motive zerpflückt. – Bei der Salome wollte es uns bedünken, als habe das Gedicht im Entstehen schon die Musik geahnt und sich auf eine Verbindung mit ihr eingerichtet. Bei der Elektra fanden wir das nicht. Daß in beiden Werken dem Tonsetzer zuliebe kleine, der Musik günstige Aenderungen vorgenommen sind, kann die Behauptung nicht hinfällig machen, daß ein Wortdrama in seiner Ganzheit sich zum Komponieren nicht eigne. Dem Sinne und Geiste nach soll zwar das Wort im Musikdrama herrschen, in Form und Ausdruckweise jedoch kann und darf die Musik sich der Dichtung nicht sklavisch unterordnen. Das bedeutete das Aufgeben ihrer Seele, die in der Melodie sich äußert, bedeutete das Verzichten auf formale Schönheit, die mehr Zeit zu ihrer Entfaltung gebraucht, als ihr ein von Haus aus auf sich selbst allein gestelltes Wortdrama vergönnt. – Das wären Bedenken wegen der Form des neuesten Musikdramas. Nun aber haben wir auch gegen den Stoff Einwendungen zu machen.

Als Wagner an seinem ernstesten, tiefsten Werke, dem Tristan, arbeitete, meinte er, sterben zu müssen, wenn es nun zu Ende gebracht sei, so sehr war er mit ihm verwachsen. Da wurden ihm die Meistersinger der Wille zum Leben. Wie anders bei Strauß! Der läßt auf die grausige Salome die gräßliche Elektra folgen. Jene bleibt uns indes ein merkwürdiges, großes Werk. In ihm wirkte der Musiker mit der Macht seiner Kunst befreiend, ja erhebend. Was Wilde jedenfalls nicht wollte, das hat Strauß vielleicht auch nicht gewollt. Aber ist es nicht auch sonst schon geschehen, daß jemand fluchen wollte und mußte doch segnen? – Weit steht die Salome als Dichtung über der Elektra. Dort erblüht aus dem Sumpfe eine Blume. Ueber der verrotteten Welt bricht das Morgenrot einer neuen schönen Zeit herein. Im Hintergrunde der mit Sünden und Schmach erfüllten Vorgänge steht der Prophet des neuen Bundes. Die Sinnenluft wird besiegt durch die Heilandsliebe. Die Männer aus Galilea verkünden den Wundertäter, und Jochanaan ruft die im Lasterleben Verkommenen zu ihm. Unter ihnen ist am verderbtesten und trotzigsten die Prinzessin Salome, und ihr wird der lüsterne Sinn gewandelt und des Herzens Bosheit gebrochen. Verklärt erklingt ihr Preisgesang am Schlusse, und wieder einmal hat der Nazarener gesiegt.

Wie so ganz anders ist alles in der modernisierten Elektra! Da sind die Personen nicht mehr Ausführende des Willens der Götter, die der Menschen Schicksale lenken, und strafen können, wen und wie sie wollen. Da bestimmen die Menschen sich selbst, denn sie haben ihren eigenen Willen und sind verantwortlich für ihr Tun. Und diese Menschen erscheinen jeder edlen Regung bar. Sie folgen den ungebändigten niedrigsten Trieben. Gemeine Sinnenlust haben sie im Auge oder grausigen Mord. Den grausigsten unter allen, den Muttermord! Die sich berechtigt wähnen, ein Verbrechen zu strafen, machen sich eines weit entsetzlicheren Verbrechens selbst schuldig. – Dazu kommt noch die widerwärtige Gier der Chrysothemis nach dem Manne. Sie ist das moderne Mädchen, das sein »Recht auf das Kind« geltend macht. Die Sehnsucht nach einem männlichen Wesen kleidet sie in die wüsten Worte:1 »Kinder will ich haben, und wär’s ein Bauer, dem sie mich geben!« Der Dichter hat sie der Elektra zur Schwester erfunden, damit die von Rachedurst fast schon wahnsinnig gewordene aus ihrer strotzenden Gesundheit neue Kraft schöpfen und an ihrem frischen Körper sich erquicken könne. Allzulange hält sie sich freilich beim Preise dieses Körpers auf. Und bedenklich klingen ihre Worte: »Sehnen hast du, wie ein Füllen. Wie schlank und biegsam deine Hüften sind! Laß mich deine Arme fühlen, wie kühl und stark sie sind. Du könntest mich oder einen Mann in deinen Armen ersticken. Ranken will ich mich rings um dich, versenken meine Wurzeln in dich.« Wilderes noch sagt sie, bis Chrysothemis davonläuft, der sie dann nachruft: »Sei verflucht!« Wollte Elektra, um sie zur Gehülfin ihrer Tat zu gewinnen, nur ihr Rachegefühl erwecken und ihren Mut entfachen, was schwärmt sie so bedenklich für die Reize ihres Körpers? – Indes bezüglich der v. Hofmannsthalschen Dichtung brauchen wir nur zu wiederholen, was im Dresdener Berichte unserer Zeitung gesagt wurde: »Man soll vor allem das pathologische Moment ahnen, und fühlen, wie diese Elektra fast wahnsinnig geworden ist aus ihrem wilden Begehren … Nichts weiß die Antike von solchen korrupten Wallungen. In ihr herrscht die schlichte und große Linie der Schicksalstragödie. Ihre Menschen sind die Werkzeuge zürnender Götter.«

Die Musik erhält dadurch ihren Charakter, daß sie sich von vornherein ganz dieser Dichtung hingibt. Bis auf das Ausmalen einzelner Worte geht das Binden des Tones an den Text. Die Musik umflutet das Gedicht, während sie es durchdringen sollte. Es ist schon von anderer Seite die Stelle: »Ihr sollt nicht den Schaum meiner Kräfte schmatzen« als ein Beispiel dafür angeführt, wie wenig solche Worte sich für den Gesang eignen. Man könnte in der Elektra durchweg nachweisen, daß unter der unbedingten Herrschaft dieses für eine Verbindung mit der Musik weder verfaßten, noch geeigneten Dramas der Musik Gewalt angetan wird. Und so kann sich oft nur ein feiner Kunstverstand und ein erstaunliches kontrapunktisches und instrumentalistisches Können zeigen, wo man ein Entfalten der musikalischen Phantasie wünschte. Der Komponist hat das wohl eingesehen, denn er läßt ein paarmal die Musik auf eigener Spur einhergehen und hat auch am Schluß des Werkes einige Textänderungen veranlaßt, so daß die Tonwellen in breiter Flut dahinziehen können. Der Schlußhymnus der Schwestern paßt zu dem Drama stilistisch freilich nicht, aber er ermöglicht es, daß die Musik aus einer Sklavin zur Freien wird. Wesensgleich ist ja die Musik der Elektra derjenigen der Salome. Diese ist der Form nach mannigfaltiger und dem Ausdrucke nach farbiger. Der Elektra-Stoff heischt größere Einheitlichkeit der Form und weniger, auch dunklere Färbung. Es sind daher die tiefen Holz- und Blechbläser recht ausgiebig verwandt, was dem ganzen Orchesterklange etwas Finsteres, Unheimliches verleiht. Wie alle Instrumente behandelt, wie ihre Klänge »komponiert«, d. h. zusammengesetzt sind, das fordert unsere Bewunderung. Nur töten die mehr als hundert Instrumente im Orchester die einzelnen oder auch gedoppelten Singstimmen auf der Bühne. Aber die sind und bleiben doch die Hauptsache. Nie darf die Orchesterflut sie ersticken, was in der Elektra meist geschieht. Nie aber sollte eine Partie auch so anspruchsvoll geschrieben sein, wie die der Elektra. Bei übergroßer Länge verlangt sie einen Umfang von zwei und einer halben Oktav, nämlich vom kleinen g bis zum dreigestrichenen c. Und anhaltend bewegt sie sich in der höchsten Lage, um dann häufig in der sprunghaft zu nehmenden Tiefe zu verweilen, was, wie jeder Sänger weiß, die Stimme am meisten anstrengt. Durchaus instrumental wird das Gesangsorgan behandelt. Wie selten kann es sich in einer fließenden Kantilene ergehen! Dazu kommt die große Treffsicherheit der Intervalle und eine Harmonisierung, bei der ein Ton richtig sein könnte, wenn er nicht falsch, d. h. anders als die Notierung wäre. Denn wo e, fis, g, a, ais zusammenklingen, kann jeder andere Ton noch dazukommen. Für das Ohr des Laien gibt es in Elektra ungezählte Mißklänge, für den schulgerechten Musiker zahlreiche Ungeheuerlichkeiten. Aber wir haben so großen Respekt vor dem Genie, daß wir uns daran erinnern, wie einst auch Beethovens Musik als mißklingend gegolten habe, und daß wir zugeben, die Regeln der Harmonie und des Kontrapunktes, von einem Meister der alten Schule aufgestellt, könnten von einem Meister der neuen Schule wieder umgestoßen werden. Einstweilen jedoch wirkt für unser Empfinden vieles in dieser Elektra-Musik peinlich und abstoßend. Mußte das so sein? Darauf lautet die Antwort aus Strauß’ Seele gewiß: »Ja!« Und denen mögen wir nicht zustimmen, die da annehmen, es sei ihm nicht bitterer Ernst um die Sache, er wolle vielmehr nur zeigen, was er könne und – dürfe. Freilich, wer in Mendelssohns Walpurgisnacht noch heute eine große und charakteristische Musik sieht, dem muß schon des Strauß Till Eulenspiegel ein Greuel sein. Einstweilen steht uns vieles im Klavierauszuge der Elektra noch sehr fragwürdig gegenüber. Da lesen wir z. B., wie Durdreiklänge in paralleler Fortschreitung aufeinander folgen, während darunter sich gleichzeitig in derselben Weise reine Quinten bewegen, die dazu gar nicht zu passen scheinen, weil die Grundtöne zu einander verminderte Septimen bilden. Bedenklich ist es uns auch, daß alle Personen der Elektra im gleichen Charakter singen, ebenso, daß weit überwiegend nur Frauenstimmen erklingen. Erst von der Mitte des Werkes an hört man vorübergehend auch einen Tenor oder Baß. Das soll nun aber doch gesagt sein, daß das Ohr anders urteilt, als das Auge. Was den Noten nach ungeheuerlich erschien, war im Klange doch nicht so schlimm. Manches allerdings kam beim Ertönen nicht zu der erwarteten bedeutenden Wirkung. Ueberhaupt rückt die Musik das Drama in eine andere Sphäre. Es berührt dann nicht so unmittelbar und mildert alles. Der Widerwille, den die gesprochene Elektra bewirkt, muß bei der gesungenen in geringerem Maße selbst dann wachgerufen werden, wenn man den Text genau versteht. Und diesen anbelangend, so erscheint es uns merkwürdig, daß Strauß seine Musik in der Fassung ihm vollständig unterordnet, ihn dann aber im Klange von der Musik ganz beherrschen läßt, da deren Tonwellen ihn nahezu ersticken. Er kann lange melodische Fäden spinnen und tut es, wo sich ihm Gelegenheit dazu bietet, so z. B. gleich beim Auftreten der um den Vater klagenden Elektra, auch beim Erscheinen der lebensdurstigen Chrysothemis, die fast lieblich singt und sich so lebhaft im Dreivierteltakt bewegt, daß man schon von einem Chrysothemis-Walzer gesprochen hat. Die Szene zwischen Mutter und Tochter ist grausig. Die zitternde Angst der einen und der unbändige Haß der anderen sind im Orchester bewundernswert in ihren Motiven und Wirkungen ausgedrückt. Aber es ist in dieser Szene auch unerquickliche Musik, für die uns der kurze Orchestersatz entschädigt, der den Auftritt der Fackeln tragenden Dienerinnen begleitet. Wenn Elektra die Schwester umschmeichelt, so hat die Musik dafür eindringliche, heißatmige Klänge und Töne. Doch man wird ihrer nicht recht froh. Das geschieht indes, wenn Orest erscheint, und die Geschwister sich erkennen. Das ist der einzige erfreuliche, ans Herz greifende Zug des ganzen Stückes. Da haben wir edles Empfinden, das in fesselnden Tönen zu uns spricht. Mit allem Grauen stellt sich die Katastrophe dar. Sie ist genial erdacht und wirkt schaurig. Wie denn überhaupt neben unangenehmen, auch öden Strecken der genialen Einzelheiten genug in der Komposition vorhanden sind. Der Jubel beim Opfertanze der Elektra und Chrysothemis bildet ein abschließendes Prunkstück, das uns deshalb wenig erfreute, weil wir nicht vergessen konnten, wer das Opfer war, und wer es brachte.

So also hat sich die Oper gestaltet seit 1594, da man sie in Florenz konstruierte, um wieder zum dramatischen Stil der alten Griechen zu gelangen. In den dürftigen, dünn begleiteten Einzelgesang, die Monodie, brachte Monteverdi die Empfindung, durch Pergolesi wurde dann die Oper ein Ergötzungsgebilde. Gluck erst schuf ihr die Größe und die Wahrheit des Ausdrucks, Mozart gestaltete die unterschiedlichen Individualitäten, Weber gab ihnen das deutsche Gemüt, Wagner erweiterte und vertiefte den Stoff, steigerte das Ausdrucksvermögen und vervollkommnete die musikalische Form. Von Peri bis Wagner also ein steter Fortschritt! Von der Daphne über Monteverdis und Glucks Orpheus zum Don Juan und Parsifal edle, erhebende Stoffe! – Richard Strauß kehrt insofern zum Anfange zurück, als er dem Worte des Dichters die unbeschränkte Herrschaft überläßt, es aber freilich in unerhörter musikalischer Mannigfaltigkeit umspielt. Darin aber weicht er von fast allen Vorgängern ab, daß er das Widerwärtige und Grausige auf die Bühne bringt. Er überkünstelt auch die kunstreichste Instrumentation. Wer unterscheidet noch die so fein differenzierten Klänge seiner oft dreifach geteilten Instrumentengruppen? Wie vermag sich die Menschenstimme den Stimmen der 110 Instrumente des Elektra-Orchesters gegenüber geltend zu machen? Schon Wagners Orchester ist zu stark, und es hat nicht genügt, daß es darum in den »mystischen Abgrund« verwiesen wurde. Aber Wagners Singstimmen sind gesanglich behandelt, die Straußschen instrumental. – Für wen ist denn nun Elektra eigentlich geschrieben? Orpheus, Zauberflöte und Parsifal gehören der ganzen Welt. Sie wirken beglückend und erhebend. Wen aber beglückt Elektra? Wen erhebt sie?

Die Aufführung des neuen Musikdramas – an dem die Musik das Drama weit überragt – zeigte die Leistungsfähigkeit der Königlichen Oper im vorteilhaftesten Lichte. Herr K.-M. Blech hatte es aufs sorgfältigste einstudiert und hielt die teils sehr verwickelten, teils zerflatternden Musikfäden in sicherer Hand. Frau Plaichinger erwies sich als der gewaltigen, unerhörten Aufgabe, die die Titelrolle stellt, durchweg gewachsen. Unermüdet war sie noch beim letzten Tone. Sie charakterisierte recht gut, wennschon vielleicht nicht immer im Sinne des Dichters. Die bedenkliche Szene mit Chrysothemis faßte sie edel auf. Es ging ein großer, einheitlicher Zug durch ihre künstlerische Darbietung. Die Rolle der Schwester sang Fräulein Rose mit überraschend voller runder Stimme, und neben Elektras Wildheit flossen die Wellen ihres Gesanges sanfter und daher wohltuend dahin. Frau Goetze war eine sehr interessante Repräsentantin der Klytämnestra, hervorragend in Gesang und Spiel. Die Herren Bischoff und Grüning gaben ihren Rollen des Orest und des Aegisth das erforderliche Gepräge und verdienen dafür – besonders der Vertreter der undankbaren Königsrolle – alle Anerkennung, auf die auch die Sänger und Sängerinnen der Diener und Mägde vollen Anspruch machen können. – Die Vorstellung dauert eindreiviertel Stunden. – Der Beifall war am Schlusse recht lebhaft. Es mischte sich auch Zischen hinein. Beides ist natürlich. Aber beides ist bei einer Erstaufführung für eine Schätzung des Wertes eines Werkes belanglos. Der Vollständigkeit wegen sei noch gesagt, daß der Herr Generalmusikdirektor wohl mehr als ein Dutzend mal hervorgerufen wurde, und daß auch der leitende Herr Kapellmeister wiederholt dankend vor dem Vorhange erscheinen mußte.

1Vgl. für den vollständigen Wortlaut der folgenden, vom Rezensenten gekürzt wiedergegebenen Zitate die Dokumentation der Gesangstexte auf dieser Plattform.
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42564 (Version 2021‑09‑30).

Versionsgeschichte (Permalinks)