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Bekker, Paul
[ohne Titel]
in: Die Musik, Jg. 8, Heft 11, März 1909, Erstes Märzheft, Rubrik »Kritik. Oper«, S. 289–290

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
Berlin: Königliches Opernhaus. Zum erstenmal: »Elektra« von Richard Strauß.

Ein Zufall spielte mir in diesen Tagen einen Brief Heinrichs von Kleist an Ludwig Tieck in die Hände: »Unaussprechlich rührend«, heißt es da, »ist mir alles, was Sie über die ›Penthesilea‹ sagen. Es ist wahr, mein innerstes Wesen liegt darin und Sie haben es wie eine Seherin aufgefaßt: der ganze Schmerz zugleich und Glanz meiner Seele. Jetzt bin ich neugierig, was Sie zu dem ›Kätchen [sic] von Heilbronn‹ sagen werden, denn das ist die Kehrseite der ›Penthesilea‹, ihr anderer Pol, ein Wesen, das ebenso mächtig ist durch Hingebung als jene durch Handeln. Ob es bei den Forderungen, die das Publikum an die Bühne macht, gegeben werden wird, ist eine Frage, die die Zeit entscheiden muß … Wenn man es recht untersucht, so sind zuletzt die Frauen an dem ganzen Verfall unserer Bühne schuld, und sie sollten entweder gar nicht ins Schauspiel gehen, oder es müßten eigene Bühnen für sie, abgesondert von den Männern, errichtet werden. Ihre Anforderungen an Sittlichkeit und Moral vernichten das ganze Wesen des Dramas, und niemals hätte sich das ganze Wesen der griechischen Bühne entwickelt, wenn sie nicht ganz davon ausgeschlossen gewesen wären.« So dachte Kleist, der Schöpfer der »Penthesilea«, einer Dichtung, die (um die Schlagworte unserer heutigen Moralfexe zu gebrauchen) an »Perversität«, »Blutwahnsinn«, »furchtbarer Ausartung sexueller Triebe« usw. mehr enthält als »Salome« oder »Elektra« zusammengenommen. Wer Eckermanns Gespräche mit Goethe kennt, weiß, daß Goethe sich dort einmal in ganz ähnlicher Weise äußert wie Kleist. Immerhin lebten beide Dichter in einer besseren Zeit als wir – sie durften wenigstens auf eine vernünftige Kunstauffassung seitens der männlichen Zuschauer rechnen. Heute dagegen sind auch die Männer bereits so unter den Sittlichkeitspantoffel geraten, daß sie unsere dramatische Kunst »entheiligt«, »beschmutzt« glauben, wenn die dargestellten Begebenheiten und Charaktere nicht den moralischen Ansichten der unsterblichen deutschen Tante entsprechen. Aber es ist ja nicht nur das »Unsittliche« der Vorgänge, es ist zugleich die »Fälschung« des sophokleischen Originals durch Hofmannsthal, über die man Zeter schreit. Ich habe [290] so viel schwatzen hören über die absolute »Reinheit« und »Erhabenheit« der griechischen Dichtung, daß ich vermuten muß, die meisten unserer Lobredner der Antike kennen diese nur vom Hörensagen und würden sich gewaltig wundern, wenn man ihnen die ganzen Scheußlichkeiten und Roheiten [sic] (ich zitiere nur) der Stoffwelt jener Alten vorrechnete. Und gefälscht nennt man Hofmannsthals Dichtung? Wohl – dann aber müssen diese Verfechter philologischer Treue auch konsequent sein und Grillparzers »Medea«, Goethes »Iphigenie« ebenfalls als Fälschungen erkennen und ablehnen. (Ich greife hier nur ein paar markante Fälle heraus – die Literaturgeschichte aller Zeiten bietet unzählige andere Beispiele. Nahezu der ganze Shakespeare würde auf diese Weise literarisch unmöglich gemacht, denn die Mehrzahl seiner Dramen sind freie Umarbeitungen.) Es ist mir leider nicht der Raum gegeben, an dieser Stelle die Partitur des Straußschen Werkes ausführlich zu charakterisieren. Ich würde sonst zu begründen versuchen, daß ich nicht nur die Hofmannsthalsche Dichtung, sondern auch deren musikalische Einkleidung weit höher schätze[,] als dies seitens der Mehrzahl der Beurteiler und des größeren Teiles des Publikums geschieht. Ich finde gerade in der »Elektra« jene Einheitlichkeit des Stiles, jene Übereinstimmung von Gewolltem und Erreichtem, die ich in der »Salome« streckenweise (besonders in den Jochanaan-Szenen und in dem – angeblich »erlösenden« – Schluß) vermisse. Ich bewundere hier eine weit strengere, größere Art der Linienführung, einen unvergleichlich tieferen Ernst in dem Erfassen der ganzen Aufgabe und ein noch gereifteres Können. Fast möchte ich sagen: ich freue mich, daß der äußere Erfolg des Werkes hinter dem der »Salome« zurückbleibt. Ich will auch keineswegs behaupten, daß dieses Verhältnis sich in Zukunft zugunsten der »Elektra« verschieben wird. Es gibt Schöpfungen, die nie – auch wenn sie noch so oft aufgeführt und angepriesen werden – festen Fuß auf der Bühne zu fassen vermögen. Wir schätzen sie deswegen nicht geringer. Vielleicht gehört »Elektra« zu ihnen. Die außergewöhnliche zeitliche Dauer der Aufführung ist eine gefährliche Klippe. Ob wir uns daran gewöhnen werden, ebenso wie an die einst so vielgetadelte Breite der Wagnerschen Dramen? Eine zweite, ebenso bedeutsame Schwierigkeit liegt in den horrenden Anforderungen, die Strauß an die Vertreterin der Titelpartie stellt. Weder in Dresden noch in Berlin hat mir die – wenig beneidenswerte – Künstlerin zugesagt, der man die Elektra-Partie zugeteilt hatte. Frau Plaichinger insbesondere war stimmlich wie darstellerisch, mit Ausnahme weniger Momente, sehr matt, gänzlich ohne das Wilde, Tigerhafte, Mänadische, das der Elektra wesentlich ist. Besser bewährte sich Frl. Rose als Chrysothemis, während Frau Götze als Klytämnestra sowohl hinsichtlich der Deutlichkeit ihrer Deklamation wie der scharfen darstellerischen Charakteristik und musikalischen Sicherheit zweifellos die imposanteste solistische Leistung bot. In den weniger bedeutenden Männerrollen betätigten sich die Herren Grüning (Ägisth) und Bischoff (Orest), dieser, ohne die vornehme Ruhe, die tragische Größe des Dresdeners Perron zu erreichen. Die Regie war zuweilen übermäßig aufgeregt und aufdringlich; um so glanzvoller hielt sich das Orchester unter Leo Blech. Ich stehe nicht an, diese prachtvolle Leistung für die vollendetste Reproduktion der Partitur zu halten, die ich mir vorstellen kann. Obwohl der seit der Erstaufführung der »Salome« an der Orchesterbrüstung angebrachte Schalldeckel entfernt war, obwohl der Klang frischer, farbiger war als in Dresden, wo ich mehrfach den Eindruck einer künstlichen Abdämpfung empfing, dominierte das Orchester doch nur da, wo dieses Ziel vom Komponisten fraglos bezweckt war. Der äußere Erfolg der Aufführung übertraf den in Dresden an Lebhaftigkeit – trotzdem glaube ich nicht an die Nachhaltigkeit der Wirkung auf die Masse. Immerhin wurde Strauß nebst seinen Künstlern sehr gefeiert. […]

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz, Adrian Kech

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Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42490 (Version 2021‑09‑30).

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