Wer vor reichlich drei Jahren hier der Uraufführung der »Salome« beigewohnt hat und sich erinnert, wie das Publikum atemlos den Verlauf des Werkes verfolgte und nach dem Fallen des Vorhangs in unendlichen Beifall ausbrach, der muß, wenn er damit die erste Aufführung der »Elektra« vergleicht, zugestehen, daß die Wirkung dieses Werkes eine bedeutend geringere war, was sich schon äußerlich darin kundgab, daß Generalmusikdirektor v. Schuch, der mit seinen Getreuen die ungeheuren Schwierigkeiten dieser neuesten Schöpfung siegreich überwunden und damit für andere Bühnen wieder das Vorbild aufgestellt hatte, lauter gerufen und stürmischer gefeiert wurde als Strauß selbst. Es war, als ob das Publikum die Empfindung hätte, daß in diesem Falle das Verdienst der künstlerisch vollwertigen Wiedergabe mehr Anerkennung finden müsse als das Werk selbst.
Nun ist zwar der Grad des äußeren Erfolges erfahrungsgemäß kein sicherer Maßstab für den Wert eines Kunstwerks, denn wie Stücke, die einst beifallumtost auf der Bühne erschienen, längst mit Fug und Recht vergessen sind, so haben sich andere Bühnenwerke, die der Unverstand der großen Menge zunächst ablehnte, im Laufe der Zeit dauernd die begeisterte Bewunderung aller Welt erobert. Im Falle der »Elektra« aber dürfte die kühlere Aufnahme, die ja für den Fernstehenden noch immer das Aussehen eines großen Erfolges hatte und als solcher auch allen Landen verkündet worden ist, doch eine symptomatische Bedeutung haben und dem Komponisten, der zu klug und zu ehrlich ist, um sich über die wirkliche Sachlage zu täuschen, zu mancherlei ernsten Gedanken Anlaß geben.
Bedenken erregen mußte schon die Tatsache, daß Strauß abermals zu einem so grausigen und entsetzlichen Stoffe griff, nachdem er doch schon mit »Salome« dem blutrünstigen, auf pathologische Anomalieen und nervenpeitschende Erregungen lüsternen Geschmack unserer Zeitgenossen ein dampfendes Opfer gebracht hatte. Denn es kann dafür nur zwei Gründe geben: entweder hält es Strauß für richtig und vorteilhaft, dem Sherlock Holmes-Geschmack der großen Menge sich anzubequemen (und das fürchterliche Titelbild des Textbuchs, ganz im Stile der bekannten gruseligen Detektivhefte gehalten, läßt diesen Gedanken leider aufkommen), oder er ist allen Ernstes der Ansicht, daß die Entwickelung des musikalischen Dramas sich nur nach der Richtung der ins Riesenhafte gesteigerten Effekte bewegen könne. Vielleicht auch wirkten beide Gründe zusammen, um ihn in »Elektra« ein Werk schaffen zu lassen, das zwar an Grauen und Entsetzen »Salome« noch weit übertrifft, aber an musikalischem Werte, an künstlerischer Einheitlichkeit ganz bedeutend hinter ihr zurücksteht.
Ich habe in meiner Besprechung der »Salome« an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß Strauß, indem er Wagner überwagnern will und ganze Trauerspiele sozusagen mit Haut und Haaren in Musik setzt, Gefahr läuft, dem Grundprinzip der [244] Wagnerschen Kunst zuwiderzuhandeln, da von all den Worten der Dichtung infolge der ungesanglichen Schreibweise und des ungeheuren Aufgebots an motivischer Mosaikarbeit und Orchestermitteln kaum der zehnte Teil verständlich bleibt, also jener Zustand durch Übertreibung wiederkehrt, von dessen lähmenden, weil das Drama großenteils zur Pantomime herabdrückenden Folgen uns Wagner mit Heldenkraft befreit hat. Und weiter: gewiß soll die Kunst auch vor dem Grausigen und Entsetzlichen nicht zurückbeben, da ihr ja die Macht innewohnt, das Häßliche zu verklären und das Unreine zu adeln. Aber gegen die Praxis, nun aus Grundsatz das Grauenhafte zu suchen und die Muse dauernd im Blute waten zu lassen, muß gerade um der Freiheit der Kunst willen energisch Einspruch erhoben werden, da das Beispiel eines anerkannten Führers stets Nachahmungen zu Hunderten veranlaßt und die Strauß-Epigonen dieser Richtung uns in eine wahre Kunstbarbarei hineinführen müßten.
Ein Fehlgriff war die Wahl der Hofmannsthalschen Dichtung auch insofern, als sie nicht, wie Wilde’s »Salome«, ein wirkliches Drama mit Entwickelung, Konflikt, Katastrophe und Sühne bietet, sondern im Grunde nur das Endbild einer Tragödie darstellt und den verschiedenartigen Wahnsinn dreier Frauen uns vor Augen führt. Elektra ist vom Rachewahnsinn befallen; sie hat alles andere vergessen, jedes weiche, menschliche Gefühl in sich ertötet in dem glühenden Durst nach Rache an Ägisth und Klytämnestra. Tanzen will sie durch deren Blut, jauchzen über deren Leichen, und sie beginnt am Schlusse wirklich diesen schaudervollen, fast kannibalenartigen Triumphtanz, bis sie dabei zusammenbricht. Ihre jüngere Schwester Chrysothemis ist just das Gegenbild. Ihr Wahnsinn äußert sich darin, daß sie alles Geschehene vergessen und vergeben will, nur um das Glück der Gattin und der Mutter zu genießen, und sei’s auch in den Armen des niedrigsten Knechts. Es liegt etwas Liebliches in diesem Wahn, aber es bleibt dennoch ein Wahn. Und Klytämnestra steht unter dem Banne des Wahnsinns, den die Gewissensnot und die Todesangst des Verbrechers erzeugt. Sie fühlt sich von innen heraus verfaulen und will doch leben, will die fürchterlichsten Blutopfer schlachten, nur um ihrer Qualen ledig zu werden. Das Auftreten des Orest ist demgegenüber nur eine Episode, und das des Aegisth gibt Anlaß zu einer Szene, die den Rachewahn Elektras in ganz besonders abstoßendem Lichte zeigt.
Diesen Gegenstand durch die Musik zu einem wirklichen Drama zu erheben, ist unmöglich, denn der Musiker wird sich dabei stets durch die Fehler der Dichtung gehemmt sehen. Strauß hat sich also damit begnügt, einerseits das Milieu der Handlung zu verstärken, andererseits aber die Geschehnisse auf der Bühne musikalisch auszumalen. Aber er bringt zu beiden nicht dieselbe Kraft mit, wie bei »Salome«, obwohl der Orchesterapparat womöglich noch größer und die Virtuosität in der Erzielung eigenartiger Instrumentaleffekte noch gesteigert ist. Aber daß Richard Strauß des Orchesters unumschränkter Meister ist, das wußten wir längst; nicht minder, daß es ihm gelingt, an den Höhepunkten seiner Partitur eine ungeheure Kraft zu entfalten und aus kleinen und kleinsten Motivteilchen orchestrale Bilder zu schaffen, deren kaleidoskopartiger Wechsel sowohl interessiert als auch blendet und hypnotisiert. Wir wußten, daß er in seinen bisherigen Opern Ausdruckskunst in reichem Maße dargeboten hatte, und trugen nun endlich Verlangen, von ihm einmal Empfindungskunst zu erhalten. Aber wir wurden schmerzlich enttäuscht. Die nervöse Unruhe der Musik ist in »Elektra« noch größer als in »Salome«, die Motive selbst sind noch spröder und fragmentarischer, der Verzicht auf Tonalität ist noch vollständiger. Bisweilen scheint es, als suche der Komponist eine neutrale Mischtonart, in der alle [245] Tongeschlechter zusammenfließen. Melodien gibt es vielleicht vier in dem ganzen, sieben Viertelstunden dauernden Werke, davon klingt die eine stark an den Gesang der Rheintöchter an, und die anderen wirken im Grunde nur darum, weil sie inmitten der sonstigen Erfindungsarmut besonders auffallen müssen. Immerhin begrüßt man diese Ruhepunkte, an denen der Komponist für kurze Zeit den Versuch macht, zu unseren Herzen zu reden, mit lebhafter Freude, denn außer diesen Stellen (Auftritt Elektras, Liebessehnsuchtssang der Chrysothemis, Auftritt Orests und Erkennungsszene zwischen diesem und Elektra) bewegt sich die Musik meist nur in Tonmalereien, die auf die Gesetze des Wohlklangs keinerlei Rücksicht nehmen, sondern lediglich darauf berechnet sind, Effekt zu machen. Die schon früher bemerkte Neigung des Komponisten, mit Geräuschen zu arbeiten, tritt noch weit deutlicher zutage und verleitet ihn mitunter zu Tonverbindungen, Akkordfolgen und Instrumentalkombinationen, die mehr Erstaunen als Freude hervorrufen müssen. Und trotz aller dieser Bemühungen, trotz dieses unruhevollen Schwankens zwischen Extremen, trotz dieser rücksichtslosen Anforderungen an das Sängerpersonal und das Orchester erzielt Strauß weder die zwingende Gesamtstimmung, die unverkennbare stilistische Einheit, die wir an »Salome« bewundern, noch die reinigende Kraft jener Töne, mit denen er die Schlußszene der »Salome« in eine höhere Sphäre emporzuheben vermochte. Wir sehen und hören diese »Elektra«, aber wir können nicht an sie glauben, sie bleibt trotz aller Übermodernität der musikalischen Mittel für unsere durch Wagner geläuterten Anschauungen eine Oper jener Art, die wir eigentlich bereits längst endgültig begraben wähnten. Daran kann alles Aufgebot ungeheurer Ausdrucksmittel nichts ändern; dagegen versagt selbst die Erwägung, daß Strauß auch hier eine Partitur geschaffen hat, die auf viele Jahre hinaus eine Fundgrube für jeden Musiker sein wird, weil sie das Ausdrucksvermögen der Tonkunst aufs neue bereichert. »Elektra« wird als musikalisches Dokument unserer Zeit einen gewissen Wert beanspruchen dürfen, aber von bleibender Bedeutung wird sie noch weniger sein als ihre Vorgängerin »Salome«. Ein genialer Kolorist, ein kundiger Bühnenmann, ein gewaltiger Könner – das ist Richard Strauß, aber als Seelenkünder, als Spender edler, reiner musikalischer Freuden hat er, dem doch auf dem Gebiete der musikalischen Lyrik so manches herrliche Lied gelang, und in dessen symphonischen Dichtungen so viel echte Musik ruht, sich noch mit keinem seiner Bühnenwerke erwiesen. Es ist vielleicht mehr als ein Zufall, daß die drei modernen Opern, die er uns gab, Einakter sind und in der Dunkelheit spielen; dies ist beinahe von symbolischer Bedeutung für sein Schaffen. Denn dem Einakterwesen entspricht die Kurzatmigkeit seiner dramatischen Musik, und die Nacht ist ja die Mutter von Schreck und Grauen, von Wildheit, Wahn und dunklen Taten. Möchte doch Strauß einmal ein Werk schaffen, das sich aus mehreren Akten aufbaut und schon dadurch eine breitere und klarere Musik erfordert, und in dem die Sonne scheint. Recht hell und klar, damit die dunklen Nachtgespenster in ihr Grab schlüpfen. Denn wir brauchen Sonne in unserer Kunst, leuchtende, wärmende Sonne.
Die Aufführung war abermals eine Großtat der Dresdner Hofoper. In der Titelrolle, die ungewöhnlich hoch liegt und an die gesangliche und darstellerische Kunst ihrer Vertreterin gleich hohe Ansprüche stellt, errang sich Frau Krull einen Triumph, der ihren Namen in die allererste Reihe gerückt hat. Neben ihr standen Frl. Siems (Chrysothemis) und Frau Schumann-Heink (Klytämnestra) mit hervorragenden Leistungen. Mit prachtvoller Charakteristik und einem Anflug von antiker Größe und Ruhe, die man leider sonst in dem Werke vergebens suchte, gab Herr Perron den Orest. Die Regie des Herrn Toller hatte dafür gesorgt, daß sich all das Beiwerk dem Rahmen des Ganzen einfügte, freilich konnte auch er es nicht [246] verhindern, daß die Stimmung des Ganzen mehr einem orientalischen als einem griechischen Königshofe der Heroenzeit entsprach; das liegt im Text Hugo von Hofmannsthal. Die Königliche Kapelle, an deren Leistungsfähigkeit »Elektra« die höchsten Anforderungen stellte, wurde diesen in der bewundernswürdigsten Weise gerecht, und ihr Leiter, Ernst von Schuch, führte sie und die Darsteller mit so viel Feuer und Hingabe, daß ihm ohne Zweifel der vollste Lorbeer des Abends gebührt.
Wenn man aber überlegt, daß die Vorbereitungen zu »Elektra« seit zwei Monaten den gesamten Spielplan ungünstig beeinflußt, die Darsteller, Korrepetitoren und das Orchester überlastet und den Gedankengang aller Mitwirkenden fast ausschließlich beherrscht haben, so kann man beim besten Willen nicht behaupten, daß das Ergebnis all der Mühen und der Hintansetzung anderer Aufgaben wert gewesen sei.