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»Richard Strauß und seine ›Elektra‹«
in: Berliner Lokal-Anzeiger. Zentral-Organ für die Reichshauptstadt, Jg. 26, Heft 480, Sonntag, 20. September 1908, 2. Beiblatt, S. [1–2]

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
Richard Strauß und seine »Elektra«.
Garmisch, im September.

In seiner Villa, die sich in Garmisch am Abhange des Kramergebirges in stolzer Einsamkeit erhebt, wollte ich Richard Strauß finden, und in den stillen Räumen einer Münchener Klinik mußte ich ihn aufsuchen. Er hatte sich einer leichten Operation unterziehen müssen. Nach einer Woche konnte er mit seiner Gattin, die ihm auch hier Gefährtin war, die Klinik verlassen, konnte er bereits wieder an seiner »Elektra«-Partitur als ein genesener Mann arbeiten und heute genießt er Regen und Sonnenschein, die auch in den bayrischen Bergen in den Septembertagen ein nichts weniger als anmutiges Wechselspiel trieben, in seinem ländlichen Tuskulum, das sich in seiner stilvollen Abgeschlossenheit als das Heim eines ernsten Künstlers präsentiert.

Richard Strauß ist ein geborener Bayer, und an der erhabensten und gewaltigsten Stelle seines Heimatlandes hat er sich von Emanuel Seidel ein Haus errichten lassen, in dem er, fern von der Welt, sinnen, schaffen und ruhen will. Eher öffnet sich die Pforte eines streng bewachten Schlosses als die der Straußschen Villa. Vollständig eingezäunt liegt der Besitz, den eiserne Tore schießen [sic]. Am Mittelportal ist außen ein Sprachrohr angebracht, durch das der Gast seinen Namen und seine Wünsche hineinzusprechen hat. Es dauert geraume Zeit, dann ertönt von innen die Antwort, die da kündet, ob die Herrschaften zu Hause sind oder nicht. Meistens sind sie natürlich »ausgegangen«. Aber hin und wieder öffnet sich doch die Pforte, und dann schreitet man durch eine wiesenartige Gartenanlage, an deren Ende die im modernisierten Biedermeierstil, von der traditionellen bayrischen zwiebelförmigen Kuppel gekrönte Villa sich wie eine zierliche Burg erhebt. Alles ist stilvoll an und in dieser Villa, die Einzelteile der Inneneinrichtung, die von dem Ehepaare Strauß gemeinsam entworfen wurden, sind wundervoll abgetönt und dem Charakter der Räume angepaßt. In erster und letzter Reihe interessiert natürlich das Arbeitszimmer, ein saalartiger Raum mit zahlreichen Fenstern, von denen man zur Majestät der Gebirgswelt emporblicken kann. Der Kramer mit seinen waldigen Terrassen, der Wendelstein, dessen lichtes Gestein selbst durch die Nebelschleier leuchtet, die Zugspitze, deren zackiger Thron von Wolken leicht umhüllt ist, als führe er hinauf zu Himmelshöhen, sie breiten sich feierlich vor der Schaffensstätte des Künstlers aus, der so das Gigantische vor sich sieht, das die gewaltigste und herrlichste Macht auf Erden, die Natur, erstehen ließ. Ein großer Arbeitstisch am Hauptfenster, neben ihm rechts der Flügel, links ein Lese- und Notenhalter. Ueber dem Flügel ein altitalienisches Bild, eine »Salome« aus dem 16. Jahrhundert, einige Landschaften, die Richard Strauß aus seiner Berliner Wohnung übernommen hat, und an der gegenüberliegenden Wand eine kleine Bibliothek. Direkt vom Treppenhaus geht’s zum Arbeitszimmer. Dieses Treppenhaus mit seinem wundervoll geschnitzten Geländer ist mit einer Sammlung geschmückt, die sich im Hause des Komponisten der »Salome« etwas wunderlich ausnimmt. Ueberall kleine Heiligenbilder und Bilder mit kirchlichen Motiven; sie sind auf Glas untermalt und leuchten transparentartig durch die schillernden Rahmen. Aus all der Heiligkeit und Frömmigkeit grüßt eine weltliche Gestalt, Friedrich der Große, ebenfalls transparentartig untermalt. Diese Sammlung ist in ihrer Art ein Unikum. Der Künstler Strauß hat sie in emsigem Sammeleifer zusammengestellt, die einzelnen Stücke in Bologna und Verona, dann in Murnau, Garmisch, Partenkirchen und anderen Orten des bayrischen Hochgebirges aufgetrieben.

Hier hat der Meister seine »Elektra« vollendet, hier beschäftigt er sich bereits mit einer neuen Bühnenschöpfung, deren Buch ebenfalls der Dichter der »Elektra«, Hugo von Hofmannsthal, verfassen wird. Der hervorragendste Vertreter der Neuromantik in unserer Literatur, der Verskünstler Hugo von Hofmannsthal, schreibt das Buch zu einer komischen Oper, und Richard Strauß, der Meister der gigantischen Orchestration, wird diese komische Oper komponieren. Der Musiker und der Poet sind bereits einig.

»Elektra«, so erzählt Richard Strauß, »ist fertig, ich bin gerade beim Korrigieren der Partitur, die bereits gestochen ist. Orchestral ist sie im gleichen Charakter wie die ›Salome‹ gehalten, textlich lehnt sie sich fast wörtlich an Hofmannsthals ›Elektra‹ an, ja, geht sie gewissermaßen noch über das Drama hinaus, denn der Poet hat auf meinen Wunsch noch einige Verse hinzugefügt, so namentlich in der Erkennungsszene zwischen Elektra und Orest. Die Gestalt der Elektra ist musikalisch eine ganz andere geworden, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Auch ich wurde durch die geniale Auffassung des [sic] Eysoldt beeinflußt, aber allmählich drang in mir die Erkenntnis durch, daß die Elektra den großen dramatischen Zug haben muß. Ich denke sie mir als die Personifikation der Rache, und als Rachegöttin habe ich sie musikalisch charakterisiert. Sie wurde, wie man zu sagen pflegt, eine Rolle für die hochdramatische Sängerin; wer sie bei der Uraufführung im Dresdener Hoftheater singen wird, ist noch nicht entschieden, trotzdem mich Generalmusikdirektor Schuch, der auch mein neues Werk dirigieren wird, bereits zweimal in meiner Villa besucht und von meiner Partitur Kenntnis genommen hat. Die anderen in Betracht kommenden Partien, die Chrysotemis [sic], die Schwester Elektras, der Orest und der Aegist [sic] sind für die jugendlich Dramatische, für Bariton und für Tenor komponiert. Mit unserem Generalintendanten Georg von Hülsen bin ich vollkommen d’accord; er billigt es durchaus, daß die Uraufführung in Dresden stattfindet. Es ist ein Gefühl der Dankbarkeit, das mich veranlaßt, dem Dresdener Hoftheater auch die Erstaufführung der ›Elektra‹ zu überlassen, denn diese Bühne hat es als erste gewagt, meine Oper ›Feuersnot‹ herauszubringen, hat den Mut gehabt, als erste all die künstlerischen Anforderungen, die meine ›Salome‹ stellt, zu erfüllen, und ich weiß, daß dieses vornehme Institut alles tun wird, um auch den Ansprüchen, die meine ›Electra [sic]‹ stellt, gerecht zu werden. Und dann, in Dresden kennt man die Erregungen und Parteistimmungen nicht, die mit der Premiere eines neuen Werkes in Berlin verbunden sind. Dort gibt sich das Publikum ruhiger. Im Januar 1909 wird die ›Elektra‹ in Dresden, im Februar im Königlichen Opernhause zu Berlin aufgeführt, und zwar unter Leitung von Leo Blech. Ich komme ja nächstens nach Berlin, um das erste Sinfoniekonzert der Königlichen Kapelle zu dirigieren. Ich bin zwar als Opernkapellmeister bis zum 1. September 1909 beurlaubt, aber ich habe die Verpflichtung, im nächsten Monat noch 22 Tage im Königl. Opernhause zu dirigieren. In dieser Zeit werde ich in Gemeinschaft mit Leo Blech die Vorbereitungen für die Berliner Aufführung der ›Elektra‹ treffen, und ich konstatiere mit Freuden, daß ich schon jetzt bei unserem Generalintendanten für meine neue Schöpfung das weiteste Entgegenkommen gefunden habe.«

Richard Strauß will fast ein Jahr lang dem Theater fernbleiben, in seinem ländlichen Heim arbeiten und ausruhen, aber der künstlerische Wanderbetrieb beseelt ihn doch zu stark, als daß er nicht hin und wieder das Bedürfnis fühlte, mit dem Taktstock in die weite Welt hinauszuwandern. Und so wird er außer den Sinfonie-Soireen der Kgl. Kapelle mehrere Konzerte in Rußland und Italien, einige Strauß-Musikfeste in Deutschland, von denen das bedeutendste in Wiesbaden stattfinden und vier Abende umfassen wird, dirigieren und mit seiner Gattin, die ja eine der besten Interpretinnen seiner Lieder ist, eine mehrwöchige Konzerttournee unternehmen. Auch nach Paris wird er gehen, denn die Große Pariser Oper hat sich die französische Uraufführung der »Elektra« vertraglich gesichert und dagegen Protest erhoben, daß das Werk zuerst in französischer Sprache unter Leitung des Komponisten im Theater von Monte Carlo in Szene gehe, da diese Bühne nach Ansicht der Pariser Direktoren als eine französische angesehen werden müsse.

Richard Strauß empfindet es voll Dankbarkeit, daß ihm der Kaiser den Titel »Generalmusikdirektor« verliehen hat, der ja bekanntlich auch seinem ausgezeichneten Kollegen Karl Muck zuteil wurde. »Ich habe mich durch die Verleihung dieses Titels hochgeehrt gefühlt, und wer da sagt, daß ein Titel nur etwas Aeußerliches und im Grunde genommen Wertloses sei, der heuchelt; ich und mit mir jeder aufrichtige Mensch wird die Verleihung eines solchen Titels als eine kaiserliche Würdigung dessen, was man geleistet hat, dankbar hinnehmen. Der Kaiser hat meiner Tätigkeit als Komponist mehr Interesse geschenkt[,] als meine Anhänger und Gegner wissen. Auf seine Initiative habe ich den ›Festmarsch‹ komponiert, der bei offiziellen Festvorstellungen im Königlichen Opernhause gespielt wird, sowie den ›Brandenburger Parademarsch‹, nach alten Melodien komponiert, und fernerhin zwei Kavalleriemärsche, die der Kaiser den Königsjägern in Posen verliehen hat; jetzt habe ich wieder zwei Märsche vollendet, einen [[2]] ›Defiliermarsch‹ und einen ›Kriegsmarsch‹, deren Widmung der Kaiser angenommen hat.«

Das war es, was Richard Strauß mir in Garmisch erzählte.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz, Adrian Kech

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42400 (Version 2021‑09‑30).

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