Vor anderthalb Jahrzehnten gelangte das erste Musikdrama von Richard Strauß, der »Guntram«, am Weimarer Hoftheater zur Uraufführung. Draußen im Lande wurde nicht viel Aufhebens davon gemacht. Als habe es sich um eine Weimarer Lokalangelegenheit gehandelt. Ein kleiner Kreis Nahestehender nur war voll froher Zuversicht. Rudolf Steiner gab dem bei der »Nachfeier« beredten Ausdruck. Eine Hoffnung sei uns geworden und ein Glaube an ein bedeutsames Kommendes. Und Paul Winke fügte in seiner menschlich-sympathischen Weise den Wunsch hinzu, daß »unserm Freunde Richard« der Kampf mit Mißerfolgen erspart bleiben und die Zukunft ihm hold sein möge.
Die Zeit war ihm hold. Eine Straußpremière gilt heute in der ganzen Kunstwelt als ein Ereignis. Ja, als am vorigen Montag die stolze königliche Hofoper zu Dresden ihre Richard Strauß-Woche mit der Uraufführung der »Elektra« eröffnete, da konnte man Stimmen hören, die angesichts der stattlichen internationalen Zuhörerschaft vermeinten, selbst die ersten Bayreuther Ereignisse hätten nicht ein gleiches teilnehmendes Interesse wachgerufen. Gar manchem der Strauß‑ und Kunstfreunde mag das laute Um und An dieser Première bedingt nur zugesagt haben; gar mancher wird sich schon darauf freuen, die »Elektra« zum fünften, sechsten Male zu hören, um alsdann konzentriert, ohne durch festlichen Trubel und die Erhitztheiten des großen Tages irritiert zu werden, in die Eigenheiten des Werkes einzudringen. Freilich, die angeregte, festtägliche Stimmung möchte man schon jedem für das erste Anhören des Stückes wünschen, denn mit kühlem Kopf und mattem Herzen ist dieser Musik ebensowenig beizukommen, wie der Dichtung, aus der sie erwachsen ist.
Wie bei der »Salome« hat Strauß in der »Elektra« ein fertig vorliegendes Wortdrama seiner Komposition zugrunde gelegt. Wenige, geringfügige Partien nur sind aus der Dichtung ausgeschieden und ein paar Zeilen den Wünschen des Musikers entsprechend hinzugefügt worden. Der Inhalt der Hofmannsthalschen Tragödie darf wohl als bekannt vorausgesetzt werden. Die Art, wie Strauß den Stoff musikalisch zu bewältigen gewußt hat, bietet gegenüber der Vertonung der Salome-Dichtung zwar nichts wesentlich Neuartiges, zeigt aber in einigen Punkten eine noch entwickeltere Kunst in der Anwendung der Ausdrucksmittel, sowie eine konsequentere Durchführung des Stils. Sehr sorgfältig geht Straußens nervöse Tonsprache dem Inhalt der Verse nach, kaum eine Gelegenheit versäumend, wo Einzelheiten, selbst Wortinhalte, tonmalerisch wiederzuspiegeln [sic] sind. Allein während in der »Salome« da und dort noch ein Zerbröckeln zu beobachten ist, verursacht durch allzu liebevolle Detailarbeit, fügt sich in der »Elektra« das Einzelne doch leichter und flüssiger zusammen, ist die Grundstimmung der einzelnen Szenen und der seelische Werdegang doch mit einer Sicherheit und Energie betont, daß von gelegentlicher Mosaikarbeit kaum noch etwas zu bemerken, wohl aber mit Genugtuung die Entwickelung kraftvoller Linien und breiter Flächen zu beobachten ist. Situation, Wort und Musik erscheinen an gar vielen Stellen des Werkes in einer Verschmelzung, die dem Ideal näher kommt, als dies meines Erachtens in irgend einem andern Tondrama des Autors der Fall ist.
So in der ruhig anhebenden, dann sich fiebrisch steigernden ersten Szene der Elektra, ferner in dem schönen, sehnsüchtig vom höchsten Weibesgeschick handelnden Gesang der Chrysothemis, in dem packenden Schluß der unheimlichen Unterredung zwischen Elektra und Klytämnestra; dem wie ein Feuerstrom dahinziehenden Abschluß des Zwiegesanges zwischen den beiden Schwestern; in der ergreifenden Erkennungsszene zwischen Elektra und Orestes; in der Szene zwischen Elektra und dem totgeweihten Aegisth; in den Momenten, da das verruchte Mörderpaar seinem Schicksal verfällt und in dem hinreißenden Siegesgesang[,] mit dem das Stück ausklingt, den Hörer völlig darüber hinweghebend, daß dieser wahnsinnige Jubel eigentlich des rechten, wahrhaftigen Grundes entbehrt, insofern, als durch die neue Greueltat keineswegs schon aller [sic] Seelen entlastet sind.
Als ein Gipfelpunkt erschien mir die Zwiesprache zwischen Elektra und Orestes. Wie die nach Rache Hungernde inne wird, daß der todgeglaubte [sic] Bruder, das ersehnte Werkzeug ihres Vergeltungsplanes, leibhaftig vor ihr steht, da erhebt sich im Orchester ein Aufruhr, ein Durcheinandertosen rasender Gefühlsausbrüche, daß einem der Atem stockt. Hier tritt auch eine Eigentümlichkeit der Elektrapartitur am effektvollsten zutage: die äußerst farbenreiche und beredte Verwendung der Blechbläser. Nirgends hat Strauß das Blech so phantasievoll ausgenutzt wie in dieser Oper; ja der Blechsatz in diesem Werke scheint mir noch interessanter zu sein als der koloristisch so ergiebige Holzbläsersatz in der »Salome«. Es sind verwendet: 4 Hörner, 2 B‑ und 2 F-Tuben (die auch 5.–8. Horn zu übernehmen haben), 6 Trompeten, Baßtrompete, 3 Posaunen, Kontrabaßposaune und Kontrabaßtube; dazu treten nebst reichem Schlagzeug 2 Harfen und Celesta, Flöten und Oboen vierfach (mit Heckelphon), 5 Klarinetten (Es, B, A), 2 Bassethörner, Baßklarinette, 3 Fagotte und Kontrafagott sowie endlich als Grundlage ein Streicherchor mit je dreigeteilten I. und II. Violinen, wie Bratschen, zweigeteilten Violoncelli und Kontrabaß. Es sollen 111 Musiker im Orchester gesessen sein. Bewundern muß man, wie der Komponist bei diesem Aufgebot an Instrumenten durchaus der Versuchung widerstanden hat, den Orchestersatz zu überladen, wie er auf weite Strecken mit den geringsten Mitteln haushält und vielfach seinem schönen, saftigen Streichersatz nur bescheidene Lichter aufsetzt durch Einfügung etwelcher Bläsernüanzen.
Nicht verhehlen will ich, daß sich an einigen Stellen ein Decrescendo an Wirkung bemerkbar zu machen schien (nach einmaligem Anhör eines so komplizierten, schwer zu übersehenden Werkes kann man sich natürlich nur mit aller Reserve ausdrücken). So vermißte ich die überzeugende Ausdruckskraft zu Beginn der Szene, in welcher Elektra die Schwester umschmeichelt, um sie an Stelle des totgesagten Bruders zur Rache zu entflammen; dann glaubte ich eine für den Eindruck nachteilige Breite in der Szene zwischen Elektra und Klytämnestra zu bemerken und von der Traumerzählung des furchtbaren Weibes hatte ich mir eine stärkere Wirkung versprochen. Sogar eine Andeutung dieser Szene, die mir der Tondichter gelegentlich am Klavier gab, hatte mich tiefer gepackt, als die lebendige Wiedergabe. Schwer zu entscheiden, worin hierfür die Gründe lagen.
Frau Schumann-Heink sang die Klytämnestra. Sollte ihr Konto zu belastet sein? Spätere Aufführungen werden den Aufschluß geben müssen. Bei aller Anerkennung für die Leistung der hervorragenden Künstlerin, neige ich persönlich der Anschauung zu, daß diese wichtige Figur des Dramas wesentlich schärfer und eindringlicher wiederzugeben ist. Frau Krull wurde der Rolle der Elektra, obwohl ihrer schönen Stimme der wünschenswerte Modulationsreichtum nicht ganz eigen ist, eher gerecht, auch in der Darstellung, und überraschend gut gab Frl. Siems die Chrysothemis. Die kleine Episode des Aegisth ließe sich vielleicht auch noch effektvoller gestalten, als es Herrn Sembach gelang. Würdig und im großen Stil verkörperte aber Herr Perrron den Orest.
Natürlich sind die erwähnten kleinen Einwände durchaus zu verstehen unter Festhaltung des Standpunktes, daß der Dresdner [97] Hofoper der höchste Maßstab geziemt. Die Aufführung als Ganzes nahm unter der Regie des Herrn Toller einen der Bedeutung dieses vornehmsten Kunstinstitutes unbedingt angemessenen Verlauf. Insbesondere bot das herrliche Orchester unter der nicht genug zu rühmenden Führung des bewundernswerten Generalmusikdirektors Ernst v. Schuch eine Leistung voll Glanz und Feuer. Die Dresdner Hofoper darf wahrlich stolz darauf sein, nun zum dritten Male einem höchst anspruchsvollen dramatischen Werke von Richard Strauß den Weg in die Oeffentlichkeit gebahnt und sich dabei des begeisterten Beifalls eines glänzenden Auditoriums erster Fachleute aus aller Welt erfreut zu haben.