Pierson, Edgar
»›Elektra‹ und die Richard Strauss-Woche in Dresden«
in: Bühne und Welt. Zeitschrift für Theaterwesen, Literatur und Musik, Bd. 21, Jg. 11, Heft 1, 1909, S. 441–447

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
»Elektra« und die Richard-Strauss-Woche in Dresden.
Elektra:
Ob ich nicht höre? Ob ich die Musik nicht höre? Sie kommt doch aus mir heraus.
Hofmannsthal, »Elektra« (Schlußszene).

Vorübergerauscht sind die festlichen, einem deutschen Tondichter geweihten Tage, mächtige Eindrücke sind geblieben, neue Gebiete in der Welt der Töne haben sich erschlossen und hohe künstlerische Aufgaben sind glänzend gelöst worden.

Schon einmal war die Dresdener Oper dazu ausersehen, einem großen deutschen Musikdramatiker die Wege zu bahnen. Richard Wagners »Rienzi«, »Der fliegende Holländer« und »Tannhäuser« erlebten hier ihre Uraufführung. Damals galten diese Opern für revolutionär und unerhört schwer, man fand sie unmelodiös, stimmörderisch und wer weiß, was sonst noch. Eine begeisterte Minorität schwur aber zur neuen Fahne, die schließlich den Sieg behielt. Merkwürdig ist es, [442] daß der berühmteste deutsche Musikdramatiker unserer Zeit, Richard Strauß, ebenfalls Dresden als Ausgangspunkt gewählt hat. »Feuersnot«, »Salome« und jetzt »Elektra« wurden hier zuerst gegeben. »Revolutionär« und »unerhört schwer« findet man diese Werke auch, mit Ausdrücken aber, wie »unmelodiös«, ist man vorsichtig geworden, seitdem es sich gerade an dem Beispiel »Wagner« gezeigt hat, wie wandelbar die Ansichten über »Melodien« sind. Die Dresdener Festspiele konnten nicht besser eingeleitet werden als durch Professor Oskar Bies geistvollen Vortrag »Die moderne Musik und Richard Strauß«. Wenn ein so feinsinniger Gelehrter, ein so glänzender Causeur wie Oskar Bie das Publikum präpariert, so ist für das Unternehmen selbst schon viel gewonnen. Der Erfolg war indessen ohnedies gesichert, denn die Strauß-Verehrer aller Länder bildeten die Majorität im Opernhause.

Der auswärtigen Gäste wegen konnte die Generaldirektion bei den Aufführungen nicht chronologisch vorgehen. Sie mußte zuerst die »Elektra« geben, das mit fieberhafter Spannung erwartete jüngste Werk von Richard Strauß, denn auf dieses konzentrierte sich das Hauptinteresse des Publikums. Hofmannsthals aus unserm Zeitempfinden geborene Neudichtung der »Elektra« bot sich dem »Salome«-Komponisten als die geeignetste Unterlage für sein neues Musikdrama.

Der Bühnenerfolg der Dichtung war erprobt, die Konzentration der Handlung in einen atemlos spannenden Akt kam den Wünschen des Komponisten entgegen, auch hatte er wohl damit gerechnet, daß in unserm Zeitalter der Sensationen und Ekstasen der Kontrast zwischen der verführerischen, in allen Farben schillernden judäischen Prinzessin Salome und der sich in Rache verzehrenden, unheimlich düsteren mykenischen Königstochter Elektra von großer Wirkung sein würde.

Um eine Kritik der Musik zu geben, müßte man eine ausführliche Abhandlung schreiben und es bliebe dann auch noch fraglich, ob der Leser daraus klug würde. Man könnte im allgemeinen sagen, die »Elektra«-Musik ist echter Richard Strauß, durchaus impressionistisch und von unendlich blühender Polyphonie. Zahllose, kunstvoll verwebte, geistvoll variierte Motive und Themen charakterisieren Gefühle, Gedanken und Stimmungen, manche in weihevollem Pathos, wie Elektras Anrufung des Vaters oder die Ankunft des Orestes, andere in blühender Schönheit, der Ausdruck der lebensfreudigen Chrysothemis. Aber auch reine Aeußerlichkeiten werden musikalisch illustriert, es gibt das Motiv der »Beilhiebe«, das »ewige Gemorde und Glitschen im Blute«, »das Schleppen und Schleifen des Opferzuges unter Peitschenhieben«. »Die Edelsteine, mit denen Klytämnestra behangen ist, glitzern und klirren«, selbst »das Knarren der Türen« wird imitiert. Die Treffsicherheit interessiert aber; wir ergötzen uns an der meisterhaften Behandlung des Orchesters, an neuen Klangmischungen und originellen harmonischen Kombinationen. Gewiß stellt Richard Strauß das Charakteristische über alles, er scheut vor keinem Mißklang zurück, wo die Situation ihn erfordert, er nimmt mit selbstverständlicher Freiheit die Ausdrucksmittel, wie er sie braucht, er malt das Grauenvolle und Fürchterliche mit grellen Farben, wir fühlen aber, daß er immer aus dem Vollen schöpft[,] und es lebt trotz der minutiösen Detailzeichnung in dem ganzen Werke ein großer Zug, der in der mächtigen Schlußsteigerung gipfelt und bei guter Aufführung den Erfolg sichert.

In Dresden fand »Elektra« eine Aufführung ersten Ranges und infolgedessen eine glänzende Aufnahme. Von den Ausführenden sind die Königliche Kapelle und ihr genialer, ewig junger Führer Ernst von Schuch zuerst zu nennen. Beide bewährten wieder ihre anerkannte Meisterschaft. Richard Strauß liebt sein Orchester, es ist bei ihm noch mehr als bei Wagner der bevorzugte Hauptfaktor. Freilich verfügte er hier über ein Riesenorchester, das unerhörte Klangwirkungen hervorbrachte, gegen das anzukämpfen aber für die Sänger keine leichte Aufgabe war. Annie Krull leistete als Elektra beinahe Uebermenschliches. Die Partie [443] ist wegen der hohen Lage, wegen der fortwährend wechselnden Tonarten und der zahlreichen ungewöhnlichen Intervalle überaus schwierig, und da das Drama beinahe zwei Stunden spielt und die Elektra während dieser Zeit nur wenige, kaum nennenswerte Pausen hat, anstrengender als jede andere Opernrolle. Die treffliche Künstlerin blieb aber frisch bis zum Schluß. Annie Krull hat sich mit ihrer Elektra einen Weltruf gemacht, den die Darstellerin der Klytämnestra, Ernestine Schumann-Heinck [sic], bereits mitbrachte. Die gefeierte Altistin begann ihre Laufbahn an der Dresdener Oper. Leider ließ man sie ziehen. Seitdem hat die Schumann-Heinck sich [444] mit ihrer Kunst die Welt erobert, Dresden aber deshalb keineswegs vergessen und die Uebernahme der Klytämnestra freudig zugesagt. Frau Schumann-Heinck traf den Stil der Tragödie vollkommen. Sie zeichnete die von schweren Träumen geängstete, dem krassesten Aberglauben verfallene Königin mit schauerlicher Realistik. Ihre große Szene mit Elektra, in der auch die Krull schauspielerisch Hervorragendes bot, gehörte zu den Höhepunkten des Abends. Die dritte große Frauenrolle war mit Fräulein Siems glänzend besetzt. Sie gab die sich nach Liebe sehnende Chrysothemis [445] mit leidenschaftlichem Temperament und prächtiger, frischquellender Stimme. Perrons Orest machte starken Eindruck. Man fühlte, daß jetzt der Rächer im Hause sei. Für den Aegisth paßte der helle, durchdringende Tenor Sembachs sehr gut, und auch die kleinen Rollen waren mit ersten Kräften besetzt. Die fünf Mägde wurden von den Damen Nast, Seebe, Zoder, Tervani, Bender-Schäfer, die Aufseherin von Fräulein Eibenschütz und die Schleppträgerin von Frau Boehm-van Endert gegeben.

[446] Der zweite Abend brachte einen großen und vielleicht den ungetrübtesten Kunstgenuß der Strauß-Woche, die »Salome«, unter Leitung des Komponisten und mit Aino Ackté in der Titelrolle. Die Musik erschien mir berückender als je. Vielleicht war es persönliche Stimmung, ich glaube aber noch eher, daß der Komponist nur selbst die Schönheiten seines Werkes ganz enthüllen kann. Er nahm die Zeitmaße im allgemeinen langsamer als wir sie hier gewohnt sind, und dadurch kamen die melodischen Linien eindringlicher heraus. Aino Ackté war eine rassige Salome. [447] Sie kam uns nicht als Primadonna, die ein bißchen Komödie spielt, den Schleiertanz aber der Balletteuse überläßt und damit jede Illusion zerstört. Nein, die Ackté gab sich ganz als verführerisches, wahnsinnig sinnliches Weib, als unverfälschtes Produkt ihrer entarteten Zeit und in ihrer Darstellung wurde der glühende, Liebesluft atmende Schleiertanz zum Höhepunkt des Dramas. Sembach war zu jugendlich für den Herodes, charakterisierte aber den König nicht ohne Glück und bestand gesanglich natürlich sehr gut. Der Jochanaan gehört zu den berühmtesten Rollen Perrons, seine Stimme klang wie Orgelton.

Das Publikum bereitete dem Komponisten bei seinem Erscheinen eine Ovation und rief ihn am Schluß mit der Ackté wohl ein Dutzendmal auf die Bühne. Am dritten Abend kam das Singgedicht »Feuersnot« unter Leitung von Ernst von Schuch und die »Symphonia Domestica« unter Leitung des Komponisten zur Aufführung. In »Feuersnot« schaut der Komponist mit einem Auge nach den »Meistersingern«, mit dem andern nach einem neuen Stil. Es geht etwas bunt zu in dem originellen Einakter, der aber im ganzen doch erfreut durch seine lyrischen Schönheiten und durch frische volkstümliche Melodien. Die Aufführung war schwungvoll und glänzend. Eva von der Osten und Karl Scheidemantel sangen bei vorzüglicher Disposition die Hauptrollen, und das Orchester spielte ganz prachtvoll. In seiner »Symphonia Domestica« zeigt sich Strauß ebenso als genialer Erfinder wie als souveräner Beherrscher des Orchesters, und da es viele Leute gibt, die den Sinfoniker Strauß über den Opernkomponisten stellen, fand die »Domestica« eine besonders warme Aufnahme.

Einen glanzvollen Abschluß fand die Richard-Strauß-Woche durch eine nochmalige Aufführung der »Elektra«. Die Besetzung war dieselbe wie bei der Premiere, nur daß Irene von Chavanne an Stelle der erkrankten Frau Schumann-Heinck die Rolle der Klytämnestra übernommen hatte. »Elektra« machte wieder starken Eindruck, und das Publikum bereitete am Abschiedsabend dem Komponisten, dem unermüdlichen Schuch und der tapferen Frau Krull stürmische Ovationen. Auch der verdiente Regisseur Georg Toller konnte auf der Bühne erscheinen.

Bemerkung

Der Artikel enthält mehrere Abbildungen außerhalb des Textflusses mit folgenden Bildunterschriften:

S. 443: »Klytämnestra (Ernestine Schumann-Heinck) und Elektra (Annie Krull). Dresdener Hofoper«

S. 444: »Elektra (Annie Krull) und Orestes (Carl Perron) Dresdener Hofoper«

S. 445: »Chrysothemis (Margarete Siems) und Elektra (Annie Krull) Dresdener Hofoper«

S. 446: »Elektra (Thila Plaichinger) und Aegisth (Wilhelm Grüning) Berliner Kgl. Opernhaus«

Über jeder Abbildung befindet sich der Nachweis »Phot.: Zander & Labisch, Berlin.«

Die Abbildungen sind über die bereitgestellten Digitalisate der SUB Hamburg einsehbar: https://resolver.sub.uni-hamburg.de/kitodo/PPN774616555_0011.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz, Adrian Kech

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42280 (Version 2021‑09‑30).

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