An vierter Stelle* hat nun auch die Berliner Hofoper die vom Kampf der Meinungen umtobte »Elektra« zur Aufführung gebracht. Man weiß, daß das Zurückstehen der Berliner Bühne diesmal nicht Säumigkeit, sondern Rücksichtnahme auf die Dresdner Hofoper bedeutete, der Richard Strauß aus schönen Motiven der Dankbarkeit heraus das Recht der Uraufführung nicht vorenthalten wollte. Der Berliner Premieren-Erfolg war vielleicht größer und jubelnder als der in Dresden. Natürlich! Hier spricht für Strauß und sein Werk der ungestüme Enthusiasmus seiner zahllosen Verehrerschar gewichtiger mit als irgendwo anders. Hier ist er zu Hause, hier schafft er, hier umweht ihn heut bereits ein starker Hauch von Popularität. Und der Erfolg war berechtigt, wenn er auch vielleicht an sich nicht ganz echt, nicht ganz aus der Sache selbst herausgeboren sein mochte. Der Stoff, das Werk selbst, insbesondere die Musik ist, wenn man ganz ehrlich zu Werke gehen will, nicht dazu angetan, Eindrücke hervorzurufen, die sich in solch überschwänglich jubelnden Tönen auslösen[.] Ich glaube vielmehr, das – wenn auch vielleicht unklare – Bewußtsein, einer Schöpfung von ungeheurem Ernst, von außergewöhnlicher Größe des Wollens gegenüberzustehen, und die freudige Genugtuung, Zeuge solch titanenhaften künstlerischen Ringens zu sein und mit dem Meister, der solche Tat unerschrocken durchzufechten wagt, geistig und räumlich in engster Fühlung zu stehen, bewirkte die spontane Kraft der Begeisterung.
Der Erfolg war berechtigt. Denn großen Taten gebührt großer Ruhm. Auch wenn sie in sich nicht die B[e]dingungen zur Vollendung tragen. Die »Elektra« ist ein gewichtiger Quaderstein für den kühnen Zukunftsbau des musikalischen Dramas, nach welchem wir seit Wagner streben. Sie ist eine wichtige Etappe auf dem Wege der Verheißung. Sie trägt Ewigkeitskeime in sich, wenn auch nicht Ewigkeitswerte. Wenn Strauß der Bühnendramatiker Sieger sein wird über Strauß den psychologischen Sinfoniker, wenn das sichere Auge des dramatischen Schöpfers Macht gewinnt über die komplizierte Psyche und das nervöse Temperament des Musikers, dann [dürfen] wir wohl auf goldene [Früchte] hoffen.
Mancherlei wichtige Errungenschaften weist die Elektra-Partitur auf. Die Technik der Mittel ist vereinfacht, die des Ausdrucks vertieft. Die Kompliziertheit der musikalischen Detailarbeit ist eingeschränkt; es gibt mehr Ruhepunkte, auch harmonisch bestimmtere Haltepunkte. Der Atem strömt nicht wie in der »Salome« unausgesetzt fieberheiß, der Wirbeltanz der Affekte wird durch ruh[i]gere Flächen unterbrochen. Freilich nur scheinbar herrscht Ruhe[.] Unter der Asche glimmen die Funken der Leidenschaften, äußerlich künstlich verdeckt, umso heißer. Das liegt im Stoff, dem furchtbaren, düsteren, blutschweren, dem ekstatisch peitschenden, grausam marternden. Diese nervenzuckende Kunst, sie ist der faszinierende Magnet für Strauß[.] Die geheimen Gefühlsfäden dieses Dramas durch die psychologisch schärfer zeichnende Musik klarzulegen, zum Mitklingen zu bringen, reizte ihn. Man staunt über die suggestive Gewalt dieser Seelensprache. Der glühende Strom des tönenden Meeres reißt den Hörer mit fort und er übersieht in solchen Momenten der ekstatischen Ausdruckssteigerung ganz, daß nicht die Handlung selbst, nicht das[,] was auf der Bühne vor sich geht[,] Wirklichkeit unser [160] Interesse fesselt, uns in Bann schlägt. Die gespielte, die gesungene Tragödie tritt zurück vor dem sinfonischen Seelendrama. Nicht immer wird diese Wirkung erreicht. Und dann spürt man die Mängel dieses musikdramatischen Stils um so fühlbarer. Da drängt sich auch die in der Elektra ebenfalls nicht vermiedene Diskrepanz zwischen Orchester und Singstimmen schmerzlich auf. Hier kommen wir auf das Gebiet der technischen Mängel der Elektra-Partitur. Daß Strauß sie nicht vermieden hat, liegt keinesfalls daran, daß ihm die Fähigkeiten[,] sie zu vermeiden[,] fehlen. Er hat sie bisher nicht erkennen wollen. Die gleichen Schwächen kehren in fast allen Straußschen Schöpfungen wieder; sie sind Ausflüsse seiner ureigenen Persönlichkeit. Strauß’ Schaffen ist ganz das Spiegelbild seiner Individualität. Diese aber wird sich auch in ihren Schwächen nicht ändern, und darum – so fürchte ich – werden wir »das« Musikdrama der Zukunft aus Strauß’ Händen nicht zu erwarten haben.
Die Elektra aber sei uns trotzdem willkommen. Sie ist das Dokument, das ehrliche Bekenntnis eines aufrecht stehenden Charakters, eines kühnen, unerschrockenen Künstlers, eines Schöpfers, der den Drang hat, in die Tiefe zu greifen und nach neuen Werten zu schürfen.
Die Berliner Aufführung muß als eine hervorragende bezeichnet werden. Frau Plaichinger war in der gewaltigen Titelpartie darstellerisch von überzeugender Größe, stimmlich leistete sie ebenfalls das Aeußerste, vermochte jedoch (kein Wunder!) gegen die erdrückenden Tonmassen des Orchesters nicht immer erfolgreich anzukämpfen. Die freundlicher gezeichnete Chrysothemis hat in dieser Hinsicht eine günstigere Position. Frl. Rose löste die Aufgabe, besonders auch gesanglich, ganz überraschend. Imponierend war die Leistung von Frau Götze als Klytämnestra. Sie verkörperte das fürchterliche Weib mit zwingender Charakteristik und bewältigte den anspruchsvollen Gesangspart ohne irgendwelche Zeichen stimmlicher Anstrengung. Herr Bischoff (Orest) schien etwas unsicher, dagegen sang Herr Grüning den Aegisth vortrefflich. Auch die kleinen und kleinsten Partien waren durchweg mit ersten Solisten besetzt. Die Aufführung leitete Leo Blech mit sichtlicher Hingabe. Das Orchester war aufs klarste ausgearbeitet[.] Daß im Klang vieles zu grob und zu massig geriet, dafür dürfte Blech nicht verantwortlich zu machen sein. Die Regie führte ihre relativ kleine Aufgabe mit viel Geschick durch. Sehr glücklich und in seiner rauhen Monotonie doch ungemein wirksam und die Stimmung unterstreichend war das szenische Bild. Alles in allem eine Aufführung, die den Intentionen des anwesenden Komponisten gewiß entsprochen haben mag.
* | Dresden, Frankfurt, München, Berlin. [Originalanmerkung]. |