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»Elektra«
in: Münchner Neueste Nachrichten und Handels-Zeitung, Alpine und Sport-Zeitung. Theater- und Kunst-Chronik, Jg. 62, Heft 75, Dienstag, 16. Februar 1909, Vorabend-Blatt, S. 1

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
Elektra

In urgewaltiger Größe ist sie an uns vorbeigebraust. Eine rasende Mänade ist einhergejagt, Erinnyen und Thanatos vor sich, und im Taumel des Triumphes ist sie zusammengebrochen. War das noch eine Oper? War es noch Musik? Gewiß. Reinere und echtere sogar als manche, die nach der Tabulatur geschrieben worden ist. Richard Strauß hat neue Pfade gefunden, Sonnenpfade einer neuen tönenden Welt. Darüber kann kein Zweifel sein: Die Elektra bedeutet einen entscheidenden Markstein in der Musikgeschichte aller Zeiten – wie sich auch der einzelne zu dem Werk stellen möge! Strauß hat in der Elektra seine Salome überwunden. Zwar noch nicht ganz; in vielem fällt er stilistisch in sie zurück. Aber den Schritt über den Rubikon hat er getan! Und wir können heute Größeres von Richard Strauß erwarten, als wir nach der Salome je hoffen durften.

»Oper« – der Name ist leerer Schall und Rauch. Wer die Elektra als Oper oder auch als dramatische Symphonie betrachtet, wird nie den Geist begreifen, aus dem sie geboren ist. Auf der Bühne oben spielt sich ein Drama ab. Es ist in klingendes Leben übersetzt, losgelöst von allen bisherigen Gesetzen und Regeln. Musikalische Schulweisheit geht da zu Ende. Ihr Wissen verweht vor einem Willen. Vor einem unbeugsamen ehernen Willen, der mit seinem Feueratem alle musikalischen Grammatikal-Gebäude wie Kartenhäuser niederfegt und doch das öde Felsland befruchtend mit neuem Leben segnet. Noch begreifen wir es nicht, aber wir fühlen es, wir empfinden: Was an uns da vorbeigezogen ist, was uns in seiner titanenhaften Wucht und Schrecklichkeit in seltsamem Schauern das innerste Mark gefrieren ließ, das ist etwas Großes, das ist echte Kunst! So ahnen wir am Berg durch wallenden Nebel den sonnbeschienenen, leuchtenden Gipfel. Das Ungeheure, das Große steht vor uns und entschleiert sich erst zögernd dem erstaunten Blick.

Nicht die Sonne heiteren Griechentums strahlt über Hofmannsthals Elektra-Tragödie. Blutdunst liegt über den düsteren Kyklopenmauern des alten Mykene. In seinen Höhlen vertierte Menschen, die nur auf das Gräßliche warten, das in jedem Winkel lauert, Todesschatten, die in bleichem Zuge über das finstere Gemäuer kriechen, Gewissensbisse, erstickte Flüche, Haß, Rache, Blut und Mord – war das der Stoff zu einer Oper? Wie eine leise Ironie klingt es, wenn Elektra am Schlusse singt: »Liebe tötet! Aber keiner fährt dahin und hat die Liebe nicht gekannt.« Durch den Blutdampf der Elektra-Tragödie dringt kein Strahl der Liebe. Chrysothemis? Ihre brünstigen Gesänge künden nicht Liebe. Wäre man boshaft, man könnte von dem »Schrei nach dem Kinde« sprechen. Das mykenische Königstöchterlein steht nur auf der Szene, um zu versichern, daß sie Kinder gebären wolle. So lobenswert dies ist, man kann diese Figur in der Hofmannsthalschen Dichtung nur überflüssig finden. Dem Komponisten kam sie freilich recht gelegen. Sie gab ihm wenigstens die Möglichkeit, noch andere Töne in das Bild zu werfen als das düstere Schwarz und blutende Rot. Die Gefahr der Monotonie in diesen beiden Farben hat Strauß deutlich gefühlt. Darum schaltet er z. B. auch, als Elektra den Orest erkannt hat, einen breitflüssigen Orchestersatz ein und findet gleich darauf lyrische weiche Töne für die kurze Szene zwischen Bruder und Schwester. Im großen und ganzen aber liegt die blutdunstgeschwängerte Atmosphäre der Hofmannsthalschen Elektra, ihre Welt des Hasses und der Rache unserem musikalischen Empfinden doch recht fern. Und daß Strauß dieses Thema dennoch mit einer solchen Virtuosität behandelt hat, ist allein schon ein technischer Erfolg sondergleichen.

Wenn ich oben gesagt habe, Richard Strauß hat die Salome überwunden, so gilt dies vom Kern der Elektra. Wer die Musik nach dem übrigens ziemlich ungenießbaren Klavierauszug*) beurteilt oder sich an Aeußerlichkeiten hält, wird leicht Parallelen finden. Hier und dort das hysterische, dämonische Weib, hie Orest, dort Jochanaan, hie Klytämnestra, dort Herodes, hie die fünf Mägde, dort die fünf Juden und dergleichen mehr. Auch im musikalischen Aufbau ergeben sich manche Aehnlichkeiten. Vor allem das Uebereinanderkonstruieren verschiedener Tonarten, die organisch gar nichts miteinander zu tun haben, war von jeher eine Lieblingsbeschäftigung von Richard Strauß, der er auch in der Elektra treu geblieben ist. Der verehrte Leser setze sich an das Klavier und greife, so ihm seine Handschuhnummer diesen Luxus erlaubt, zwei Elektra-Akkorde: Im Baß Es, dazu in der Mittellage linke Hand C, D, Fis, A, dazu in der rechten Hand Eis, H, Cis, G. Die »Auflösung« ist: in der linken Hand Es, G, C, E, G, B, in der rechten Fis[,] Ais[,] Cis[,] Fis! Das ist eine kleine Probe aus der Klytämnestra-Szene. Am Klavier klingt das ja etwas überraschend. Im Orchester aber sind die Farben derart gemischt, daß die Dissonanz kaum als solche, sondern nur als Illustration zu den Worten Klytämnestras fühlbar wird. Auch empfinden wir die organische Zusammensetzung dieser Klänge im Orchester ganz anders als nach dem Klavierauszug, der in vielem geradezu ein Zerrbild des wahren Tongemäldes spiegelt. Und wer wollte Richard Strauß diese seitenlangen Kakophonien und Dissonanzen, gegen die die Salomemusik noch der reinste Haydn ist, nachrechnen und ausklügeln, was sich der Komponist da und dort gedacht hat? Ob er nicht doch manchmal mit uns Scherz getrieben hat? Ich kann es nicht glauben. Dagegen spräche der ganze Ernst, die stilistisch unvergleichlich höhere Stufe, auf der die Elektra gegenüber der Salome steht. Wer sich durch diesen Urwald von Tönen, die sich chaotisch ineinander schlingen und ranken, Bahn bricht, dem leuchtet manche Wunderblume. Leicht ist freilich der Weg nicht.

Vor mir liegt der Klavierauszug zur »Feuersnot«. Welch ein Riesenweg von ihr zur Elektra! Und doch, käme es auf Erfindung, auf bare musikalische Einfälle an, so müßte die Elektra bei dem Vergleich herzlich schlecht abschneiden. Aber Strauß läßt uns nicht zu Atem, nicht zum Nachdenken darüber kommen. Er breitet seinen Zaubermantel aus und führt uns in einem einzigen großen Zuge bis zum nervenpeitschenden Schluß des Dramas. Und in einer einzigen großen Steigerung! Die Kunst des Steigerns der Effekte hat Richard Strauß von jeher gut verstanden. Schade, daß er gerade an den Höhepunkten oft banal wird. Der Dreivierteltakt hat es ihm angetan. Beinah klingt es wie ein Haschen nach Popularität. Als wollte er nach all den zahllosen Tonkomplikationen sagen: »Seht, ich kann auch ganz gemütlich sein. Ruht einmal ein paar Takte aus!« Und wer die Dissonanzen nicht verstanden hat, freut sich über die vermeintliche Oase und glaubt, daß er jetzt Richard Strauß verstünde. Bald genug erkennt er freilich die Fata Morgana.

Erfreulicherweise sind diese Stellen in der Elektra so selten, daß sie gegenüber dem überwältigenden Gesamteindruck kaum in Betracht kommen. Ueberdies deckt sie eine glänzende Instrumentation. Strauß hat sich auch diesmal wieder als Trust-Magnat des modernen Orchesters erwiesen. Als Neuerung hat er dreifach geteilte Geigen und Bratschen und neue Schlaginstrumente wie Peitschen mitgebracht. Gegenüber den verhältnismäßig schwach besetzten Geigen mußte die Klangkonzentration in die Bratschen auffallen. Strauß wollte dadurch vermutlich den düsteren, unheimlichen Grundton schon in der Instrumental-Besetzung zum Ausdruck bringen. Jede Farbe hat er auf der Palette; er bringt sie nicht nur in großen, wuchtigen Strichen, die sich in der Nähe freilich manchmal etwas patzig ansehen, sondern auch in kleinen Detailmalereien, mit denen er oft ganz raffinierte Wirkungen erzielt.

Unser Orchesterraum war für Richard Strauß wieder einmal zu klein. Die Salome hat die erste Reihe Parkett verschlungen, die Elektra noch eine zweite. Wie wird’s bei Straußens nächster Oper werden? Ich hoffe, daß sie das ganze Parkett verschlingen möge. Dann werden wir sie vielleicht doch im Prinzregententheater hören, das auch für die gestrige Elektra-Aufführung der rechte Ort gewesen wäre. Die armen Singstimmen über dieses offene Orchester singen zu lassen, ist eine Barbarei. Man versteht kaum ein Wort und vermag den feineren Fäden nur schwer zu folgen. Daran änderten gestern auch die verzweifelten Bemühungen der Sänger und Sängerinnen nichts. Sie haben alle gestern fast übermenschliches geleistet und jedem einzelnen gebührt der herzlichste Dank. Fräulein Faßbender war eine erschütternde Elektra. Ein aufgescheuchtes, haßsprühendes wildes Tier. Mit Recht empfing sie für ihre grandiose Leistung am Schluß den besonderen Dank des Hauses. Dazu die Klytämnestra von Frau Preuse-Matzenauer. Ein stimmliches wie darstellerisches Meisterstück. Ausgezeichnet war auch Fräulein Fay in der schwierigen, ungewöhnlich exponierten Rolle der Chrysothemis. Ergreifend sang Bender die kurze Szene des Orest. Sein edler samtschwarzer Baß floß bei seinem Auftritt wundervoll in die düster schaurigen Klänge des Orchesters. Sehr gut gab auch Herr Walter den Aegisth. In den kleineren Rollen boten Bauberger, Kuhn und Lohfing, sowie die Damen Tordek, Höfer, Koch, v. Fladung, Kuhn und Ulbrig vom besten. Die Sängerinnen der Vertrauten und der Schleppenträgerin ließen in Spiel und Gesang an Charakterisierung zu wünschen übrig. Für eine ungemein feinsinnige, der Stimmung entsprechende Regie hatte Professor Fuchs gesorgt.

Felix Mottl hatte mit seinem unvergleichlichen Orchester seine ganze Kraft an das Werk gesetzt. Er war dem Werke ein begeisterter Führer. Ihm und Fräulein Faßbender galten am Schluß ganz besonders die Ovationen des Publikums. Das ausverkaufte Haus folgte dem Drama mit wachsender Ergriffenheit. Sichtlich besonderen Eindruck erzielte der erste große Monolog Elektras, das Orchesterzwischenspiel nach der Erkennungsszene und der mänadenhafte Triumphtanz des Schlusses. Diese Szenen bedeuten auch tatsächlich die musikalischen Glanzpunkte der Tragödie. Strauß selbst war nicht erschienen. Für ihn dankte Mottl mit seinen Künstlern vor der Rampe für den nicht endenwollenden Beifall.

Der gestrige Abend war ein Sieg auf der ganzen Linie. Wohl jeder fühlte, ein bedeutsames Ereignis der Musikgeschichte miterlebt zu haben[.]

*Erschienen bei Fürstner, Berlin. [Originalanmerkung].
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42128 (Version 2021‑09‑30).

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