Krebs, Carl
»Elektra. Von Hugo v. Hofmannsthal und Richard Strauß. Erstaufführung am Königlichen Opernhaus«
in: Der Tag. Illustrierter Teil, Heft 40, Mittwoch, 17. Februar 1909, Ausgabe A (mit Nachrichten-Teil), S. 1–2

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
»Elektra.«
Von Hugo v. Hofmannsthal und Richard Strauß.
Erstaufführung am Königlichen Opernhaus.

So hat denn auch unser Opernhaus die »Elektra« gebracht; zu spät, um die Sensationscreme abzuschöpfen, früh genug, um Berlin das Kunstwerk zu vermitteln.

Hugo v. Hofmannsthals Stück ist bekannt genug. Es ist öfters geschrieben worden, der Dichter habe die Sophokleische Tragödie ins Moderne übertragen, habe den antiken Persönlichkeiten moderne Empfindungen auszusprechen gegeben. Ich begreife nicht, wie diese Meinung hat aufkommen können. Die Gefühle des Hasses und des Rachedurstes sind wohl zu allen Zeiten die gleichen gewesen, und ihre Äußerungen werden sich im elften Jahrhundert vor Christo nicht anders ausgenommen haben als heute, nur daß sie sich damals vielleicht, uneingeschränkt durch eine Religion der Liebe, noch schroffer und rücksichtsloser freimachten.

Hofmannsthal folgt nun dem Grundriß, den Sophokles gegeben hat, ziemlich treu, aber er drängt zusammen, er scheidet den anteilnehmenden und betrachtenden Chor aus, entfernt alles, was mildern und umhüllen könnte, und verschärft alles Schreckliche, Grausame und Häßliche. So könnte man denn viel eher sagen, daß er das antike menschliche – nicht künstlerische – Empfinden noch greller beleuchtet und reiner dargestellt habe als Sophokles, der es durch Stilisierung verschleiert. Der Schluß allein, wie die vom Hauch des Wahnsinns berührte Elektra in taumelnden Tanzschritten den Jubel ihres befriedigten Rachedurstes austobt, deutet auf moderne Einflüsse.

Das Werk, das Hofmannsthal begonnen, hat nun Richard Strauß fortgesetzt. Auch er betont alles Häßliche noch stärker, und zwar mit besonderem Glück; das Versöhnende erscheint nur gelegentlich wie von ferne herleuchtend. Gegenüber der »Salome« ist die Partitur der »Elektra« einheitlicher, größer im Zug; stilistische Entgleisungen, wie der Schlußsatz der »Salome«, kommen hier nicht vor. Im ganzen genommen könnte man den Tonsatz zur »Elektra« als das Bestreben bezeichnen, durch Musikinstrumente charakteristische Geräusche zu erzeugen, Geräusche, die sich an die Handlung auf das engste anschließen, jedes Ereignis, jede szenische Bewegung unterstreichen und auf Leute, die in einem Musikdrama auf die Musik keinen Wert legen, eines Eindrucks nicht verfehlen werden. Wie in dem Huysmanschen Roman »A rebours«, so sind auch hier alle natürlichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Während sonst die Kraftentfaltung des Orchesters für Steigerungen und große Effekte aufgespart wird, ist sie hier das normale; die Instrumente bewegen sich fast ununterbrochen an der äußersten Grenze ihrer dynamischen Leistungsfähigkeit, und daneben erscheinen dann Pianostellen als auffallende, merkwürdige Überraschung. Während sonst die Dissonanz als ein gut verwendbares Gewürz gilt, wird sie hier zur Grundlage der musikalischen Sprache, und die Konsonanz ist nun das pikante Gewürz, das für besondere Gelegenheiten aufgespart bleibt. Während sonst das Festhalten einer Grundtonart wenigstens über gewisse Strecken hin dem Hörer eine Art Heimatgefühl gibt und die Ausweichung nur dazu dient, dies Gefühl zu befestigen, wird man hier überhaupt nirgends heimisch. Es ist wie auf einer hastigen, langen Reise, wo man jede Nacht in einem andern Hotel, in einem andern Bett schläft und schließlich kaum noch weiß, daß man irgendwo ein Zuhause hat.

Es kommen aber auch Stellen vor, die sich dem nähern, was man bisher unter Musik verstanden hat. Dahin gehört einiges aus der Partie der Chrysothemis, dann die Begrüßung zwischen Elektra und Orest und der Schluß. Die Szene, wo Orest in das Haus tritt, um die Mutter zu erschlagen, und wo Elektra, wie ein wildes Tier im Käfig, vor dem Palast mit irrem Blick hin und her läuft, hat musikalisch einen seltsam packenden und erregenden Ausdruck gefunden, und alles, was sich hier anschließt bis zu den wild und groß schreitenden Tanzrhythmen, übt eine bedeutende, in dieser Art nie dagewesene Wirkung aus.

Sehr schlimm aber ist es, daß die Singstimmen in einer Weise behandelt sind, die ihrem Charakter vollständig Hohn spricht. Dem fortwährenden Kreischen [2] in den höchsten Lagen, der aufs äußerste getriebenen Kraftäußerung kann auf die Dauer kein Organ standhalten, und die unausgesetzte antimelodische Deklamation kann kein Ohr mehr genau auffassen: man denkt sich schließlich, es sei ganz gleichgültig, was auf der Bühne gesungen wird; denn den ekstatischen Explosionen des Orchesters gegenüber treten die Stimmen ganz zurück. Das Werk ist eben ein Orchesterstück. Wer Hofmannsthals Text nicht auswendig kann, steht ziemlich ratlos ihm gegenüber. Ich hatte einen Platz auf der siebenten Reihe und habe von den Sängern und Sängerinnen kaum etwas verstanden; von Fräulein Rose (Chrysothemis) nicht eine Silbe, von Frau Plaichinger (Elektra) zwei Sätze: »Nun denn allein!« und noch einen, der mir entfallen ist; von Frau Götze (Klytämnestra), die doch sehr deutlich ausspricht, ebenfalls gar nichts. Etwas besser war es bei Herrn Bischoff (Orest). Das meiste ging aber im Getöse des Orchesters unter. Unter diesen Umständen kann ich auch gar nicht über die Güte der Aufführung, die Herr Leo Blech leitete, reden. Ich nehme an, daß sie gut war, im Spiel erschien mir Frau Plaichinger sogar ausgezeichnet, nämlich überzeugend. Man steht in der »Elektra« eben einer inkommensurabeln Erscheinung gegenüber; die künstlerischen Maßstäbe, die ich zur Verfügung habe, passen hier für die Beurteilung der Aufführung nicht, und ein anderer ist mir nicht zur Hand.

Zum Schluß noch ein freies Wort. Richard Strauß hat in seinem Fontainebleauer »Manifest« gefordert, daß man jeden Künstler solle schaffen lassen, wozu er Talent und Lust hat, ohne ihn durch Einspruch zu stören und zu behindern, und darin hat er vollkommen recht; denn nur ein ausgemachter Tor wird sich vermessen, dem schaffenden Talent die Wege vorschreiben zu wollen, die es zu wandeln habe. Unrecht aber hat Strauß, wenn er verlangt, daß die anderen, die Zuschauenden und Genießenden, alles, was der selbstherrlich produzierende Künstler fertig bringt, anerkennen und bewundern sollen, und wenn er Steine auf Leute wie Dräseke [sic] wirft, die von seinen Werken nichts wissen wollen. Denn der unbeschränkten Freiheit des Künstlers, zu schaffen, wonach ihm der Sinn steht, muß als Äquivalent die ebenso unbeschränkte Freiheit des Publikums gegenüberstehen, dies Geschaffene anzunehmen oder abzulehnen. Ich wenigstens nehme diese Freiheit in weitestem Maße für mich in Anspruch. Und deshalb will ich auch ganz offen aussprechen, daß ich, wie die »Salome«, so auch die »Elektra« in ihrer Ganzheit als Kunstwerk zurückweisen muß, so gern ich anerkenne, daß einzelnes darin bedeutend gedacht und ausgeführt ist. Ich stehe auf gar keinem bestimmten Kunststandpunkt, es ist mir völlig gleich, welcher Art und Richtung ein Kunstwerk ist, ich verlange nur, daß es die Wirkung ausübt, die ich schon tausendfach von Werken der Musik, der Dichtung, der Malerei und Plastik erfahren habe: daß es mir seelisch etwas gibt, mich irgendwie bereichert oder auch nur stark erregt. Diese Wirkung ist bei der »Elektra« vollständig ausgeblieben; ich habe keine Erschütterung erfahren, nicht einmal eine Aufpeitschung, sondern nur eine Abstumpfung der Nerven und Sinne, und bin schließlich von einer bleiernen Müdigkeit befallen worden, aus der mich erst der in seiner Weise großartige Schluß herausgerissen hat.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42115 (Version 2021‑09‑30).

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