Man muß auf die Salome zurückschauen, bevor man sich mit der Elektra befaßt, schon deshalb, weil seit dem Erscheinen der ersten erfolgreichen Oper von Richard Strauß nichts in der musikalischen Welt passiert ist, was nur einigermaßen von derselben Bedeutung gewesen wäre. Und doch sind drei Jahre und zwei Monate seit dieser denkwürdigen Premiere verflossen. Gewiß, die Produktion ist nicht stille gestanden. Besonders auf sinfonischem Gebiete wurde rüstig weiter geschafft. Um das Wichtigste zu nennen: Mahler hat drei Sinfonien geschrieben, Reger die Variationen und das Violinkonzert. Aber in der Oper regte sich nichts. Strauß hatte mit der Salome allen ein Halt! zugerufen. Und die dii minorum gentium bekamen es plötzlich zu fühlen, mit dem Halbtalent, das früher ausreichte, um eine gangbare Oper zu fabrizieren, mit der Talmimoderne, die sich allenthalben breitmachte, geht es nicht mehr, das Publikum, das die Opernhäuser floh, hat in den Konzertsälen hören gelernt, es will auch in der Oper musikalische Kultur. Die, welche Wünsche zu befriedigen vermochten, Strauß selbst mit eingeschlossen, verbluteten an unmöglichen Stoffen. Endlich fand sich das richtige »Sujet«, die Salome. Ein durch und durch modernes Werk erlebte hier die adäquate tondichterische Auslösung. Aber die anderen zögerten, auf dem von Strauß eingeschlagenen Pfad weiter zu gehen. Wagten sie es nicht oder wollten sie abwarten, was der Führer weiter begönne? Jedenfalls verstrichen drei Jahre und zwei Monate, bis »Elektra« kam …
Salome war ein Experiment, Elektra ist eine Spekulation. Das Experiment bei der Salome bestand aus der Uebertragung der differenziertesten instrumentalen Ausdrucksmittel, die sich jenseits des Theaters so unheimlich entwickelt haben, daß man den feinsten Zwischenstimmungen, den unmerklichsten Uebergängen Klang zu geben vermochte, auf das Drama. Gewiß haben andere, Pfitzner in erster Linie, sich auch diese Ausdrucksmöglichkeiten zunutze gemacht, aber suchend, tastend, sich der schöpferischen Phantasie überlassend, um sich auf dem Weg zum musikalischen Neuland zumeist in Untiefen zu verlieren. Strauß selbst ist schöpferische Phantasie gewiß nicht abzusprechen, aber er kennt Welt und Publikum zu gut, um sich ihr ganz zu überlassen, er setzt seiner Phantasie Grenzen. Objektive Erwägung ist bei ihm das Primäre. Mit einem Zielbewußtsein ohnegleichen hat er die Salome in Töne umgesetzt, genau das herausgebracht[,] was er wollte, und so, daß jedes Mißverstehen ausgeschlossen ward. Man hat mit Recht eingewendet, die Straußsche Salome sei nicht mehr die des Wilde, und wenn man ernüchtert nach der tonkoloristischen Orgie das dichterische Original wieder zur Hand nahm oder es gelegentlich wieder einmal auf der Bühne sah, erkannte man mit Schrecken den Unterschied. Aber Strauß wollte sicherlich nichts anderes als die Orgie. Die zarte, filigrane Dichtung war ihm Hekuba. Er brauchte sie als Substrat für seinen Zweck. Und daß er ihn erreichte, dankte er seiner überwältigenden Meisterschaft, seiner kein Hindernis kennenden Technik. Hanns [sic] Sachs würde von ihm sagen: Nicht wie er mußt’, sondern wie er wollt, so kommt was.
Das ist das Charakteristische für den Künstler Richard Strauß. Er folgt nicht dem inneren Trieb. Das unterscheidet ihn von Richard dem Ersten und den anderen ganz Großen im Reiche der Kunst, die – unbekümmert um die Welt, ihre Einflüsse und Launen – unvergängliche Werke schufen, die erst Jahrzehnte nach ihrem Ableben ihren Platz in der Geschichte erkämpften. Das böse, das Meyerbersche [sic] Prinzip hat über ihn auch Oberhand und nur ihm gehorchend konnte er auf den Gedanken kommen, die Salome übertrumpfen zu wollen und sein eben erprobtes Rezept an der Hofmannsthalschen Elektra zu erproben. Man erinnert sich noch des Grausens, das über die Bühnen fegte, als Hoffmannsthals [sic] Wiederbelebung des Sophokleischen Dramas durch Reinhardt zum ersten Male in Berlin gegeben wurde. Es war wohl die gräßlichste dramatische Wirkung, die in der letzten Zeit mit dem Theater geübt ward. Während die Philologen über den Zweck solcher Umdichtungen alter Werke stritten, die Aestheten gegen die Scheußlichkeiten und wahnwitzigen Ausgeburten einer überreizten Dichterphantasie protestierten, lief ganz Berlin, und als Reinhardt mit dem Stück auf Reisen ging, ganz Europa zur »Elektra«, um sich mit wonnigem Gruseln der schauerlichen Nervenfolter der modernisierten antiken Tragödie zu unterziehen und den steilen Totenrasetanz in der Gertrud Eysoldt (so bezeichnete ihn Alfred Kerr) zu bewundern.
Die Handlung darf als bekannt vorausgesetzt werden. Man erinnert sich noch daran, wie Hoffmannsthal [sic] sie in das Unglaublichste gesteigert hat, alles Tierische, alles Leidenschaftliche und Eruptive darin dreifach unterstrich und alles, was bei Sophokles mildernd und begütigend ist, entfernte. Die Bestie im Menschen wird nackt gezeigt. Charakteristisch ist gleich die erste szenische Anmerkung über »Elektra«: »Sie springt zurück wie ein Tier in seinen Schlupfwinkel«. Die Mägde erzählten von ihr: »Sie reckte die Krallen gegen uns und schrie: Ich füttere mir einen Geier auf im Leib. Wo Aasgeruch sie hält, da hockt sie immer fort und schaut [sic] nach einer alten Leiche.« Alles Königliche ist ihr genommen. Sie harrt des Rächers. Und als ihre Schwester Chrysothemis laut heulend kommt »wie ein verwundetes Tier« mit dem Rufe: »Orest ist tot!«, da will sie selbst im Verein mit der [2] Schwester das Rachewerk vollbringen. Aber Orest war es selbst, der die Meldung gebracht hat, um unerkannt und ungehindert in den Palast zu gelangen. Die Erkennungsszene zwischen ihm und der Schwester gehört auch bei Hoffmannsthal zu dem menschlich Ergreifendsten. Orestes geht ins Haus, sein Mordwerk zu verrichten. Fürchterlich ist die Spannung auf der Bühne, während Elektra lauscht, markerschütternd die Schreie des Aegisth, der von Orestes verfolgt, sich in das oberste Stockwerk des Palastes flüchtet, entsetzlich der mänadenhafte Tanz, durch welchen das Triumphgefühl der Elektra seinen Ausdruck gewinnt und in welchem sie zusammenbricht.
Es fragt sich nun zuerst, ob dieser grausige Stoff überhaupt ein musikalischer ist. Diese Frage kann man unbedingt bejahen, denn im Grunde bedeutet die Elektra nichts anderes als die ins Grandiose fortgeführte Steigerung eines einzigen Gefühls, des Rachedurstes der Titelheldin. Man begreift, daß die Ausführung dieses ungeheueren Crescendos den Tondichter reizen konnte, reizen mußte. Wie in der Salome geht Strauß in seinem neuen Werk gleich in medias res. Schon im ersten Takt begegnen wir dem ersten Motiv, einem Quartensprung, der immer erscheint, wenn der Namen [sic] des erschlagenen Agamemnon zitiert wird. So [sic] ist das Tonsymbol für den Rachedurst der Elektra. Dann das vorbereitende Gespräch der fünf Mägde. Es fällt auf, daß der Tonfall der Deklamation haarscharf jenem in der Salome gleicht. Das ist weniger auf das Verharren in der Schablone zurückzuführen, als auf den Umstand, daß die Sprache Hoffmannsthals der des Oskar [sic] Wilde ungemein ähnlich ist. Hier wie dort der große Bilderreichtum, die Vorliebe für das Vergleichen und das Streben nach einer an den Alltag gemahnenden Natürlichkeit des Wortes. Folglich mußte Strauß, dem die Gestaltung der musikalischen Deklamation aus dem Sprachlichen Grundprinzip ist, der Salome analog vorgehen. Für einen Augenblick erscheint Elektra und mit ihr ihr Thema sprunghaft und katzenartig. Es sind Intervalle von ausgesuchter Scheußlichkeit. Da ist z. B. bei dem Ausruf »Schmeißfliegen fort!« ein alternierter [sic] Undezimenakkord, der seinesgleichen sucht. Aber man ist nicht mehr besonders überrascht, kennt man doch Strauß mit seiner Vorliebe für solche Dinge. In dieser Hinsicht vermag der Komponist in der Elektra überhaupt nicht mehr zu blüffen [sic]. Daß man aber darauf durch die Salome vorbereitet ist, erleichtert andererseits wesentlich das Verständnis der auf diese Art gewaltsam komplizierten Musik. Man hält sich bei solchen »Kleinigkeiten« nicht länger auf und richtet lieber sein Augenmerk aufs Große, auf die eminent sinfonische Struktur und die bei Strauß stets wiederkehrende schwungvolle melodische Linie. Man weiß, Straußens melodische Erfindung geht mehr in die Breite, als in die Tiefe, sie ist zumeist billig und unoriginell, aber immer packend und steigerungsfähig. In der Elektra ist sogar mehr davon, als in Salome. Das ersieht man schon aus dem ersten großen Monolog Elektras, in welchem Strauß zugleich seine ganze große Kunst des zielbewußten und zweckmäßigen musikdramatischen Exponierens auf das überzeugendste darlegt. Es zeigt sich, daß es Strauß nicht nur auf die naturalistische, vor nichts zurückschreckende Illustration des Stoffes ankam, die für jedes Gleichnis des Textes das entsprechende musikalische Spiegelbild findet, sondern vor allem auf die musikalische Versinnlichung der dramatischen Idee und ihrer Triebe. Dazu dient ihm eine Anzahl von Themen, die mit den auftretenden Personen selbst und unmittelbar nichts zu schaffen haben. Das erste ist jenes Agamemnonmotiv, das zweite, in wuchtigen drei Oktaven aufsteigend, ist das des Vergeltungsprinzips, ein drittes, mehr lyrisch gesangvolles, in welchem die Triole dominiert, bezieht sich wohl auf die Geschwisterliebe, auf das gemeinsame Band zwischen Elektra, Chrysothemis und Orest. Ein viertes deutet schon auf Elektras rasenden Schlußtanz. Diese Motive dominieren. Mit seiner schier unerschöpflichen Polyphonie führt sie Strauß stets aufs neue vors Ohr. In prachtvoll gesteigerter Melodie baut sich nun dieser Monolog auf, um in dem wunderbaren Hymnus »Und glücklich ist, wer Kinder hat, die um sein hohes Grab so königliche Siegestänze tanzen«[…] zu gipfeln. Chrysothemis tritt auf. Elektras milde Schwester ist ganz in lyrischen Konturen gehalten. Alle überhitzten Phantasiegebilde schwinden, das Gedränge der benachbarten Tonalitäten hört auf, der wüsten Chromatik sind Schranken auferlegt und bei der Aeußerung des ungestümen Lebensdranges »Kinder will ich haben, bevor mein Leib verwelkt« kommt es zu einer leidenschaftlichen Ekstase. Der Kontrast in der Charakteristik der beiden Schwestern ist wieder mit überzeugender Meisterschaft durchgeführt. In seiner Klytämnestra hat Strauß ein weibliches Gegenstück zum Herodes geschaffen. Hier wird die Musik ganz koloristisch. Man hat den Eindruck, als ob alle szenischen Vorschriften in der Musik ihr Echo finden. Es heißt dort: »In dem breiten Fenster erscheint Klytämnestra. Ihr fahles, gedunsenes Gesicht in dem grellen Licht der Fackeln erscheint noch bleicher über dem scharlachroten Gewand. Sie stützt sich auf eine Vertraute, die dunkel violet gekleidet ist. Eine gelbe Gestalt mit zurückgekämmtem schwarzen Haar, einer Aegypterin ähnlich, trägt die Schleppe« … In dem folgenden, freilich viel zu weit ausgesponnenen Dialog feiert die Aesthetik des Häßlichen wieder wahre Triumphe. Aber die diesen Teil beschließende Weissagung Elektras übertrifft an schauriger Wirkung alles Vorangegangene. Es folgt eines jener großen instrumentalen Zwischenspiele, die sich bei Strauß[,] einer jeweiligen sinfonischen Synthese vergleichbar, stets in die Handlung einkerben. Und nun ereignet sich Geschehnis auf Geschehnis, Schlag folgt auf Schlag. Markerschütternd ist der Aufschrei des Orchesters beim Empfang der Botschaft vom vermeintlichen Tode des Orest, an die Nerven gehend, wie Elektra Chrysothemis zum Muttermord aufreizt und verflucht, unheimlich die der Natur abgelauschte Imitation des Orchesters beim Suchen des verscharrten Beiles, die feierliche Ruhe beim [3] Auftreten Orests und dann der ganz große Moment, wie Elektra, nachdem sich die Stimmen der Geschwister zu einem – man höre und staune – Duett vereinigt haben, mit hocherhobener Fackel auf den Vollzug des Mordes wartet. Dagegen ist Salome an der Zisterne ein kleines Kind. Aber das liegt mehr an der Situation des Dramas als an der Musik. Es folgen noch Triumph, Tanz und Tod der Elektra, die nochmalige Zusammenfassung und Kondensierung des gesamten musikalischen Stoffgehalts, eine der effektvollsten Szenen, die je auf der Opernbühne erlebt wurden.
Man kennt Strauß’ beispiellose Gewalt über das Orchester und weiß, daß der Instrumentalapparat bei ihm erst seinen Werken Leben und Farbe gibt. Er ist auch in der Elektra einfach unerschöpflich in neuen Orchestereffekten und Instrumentalkombinationen, die einzeln aufzuzählen nach einmaligem Hören schlechtweg ein Ding der Unmöglichkeit ist. Neu ist die Einteilung der Streicher in den Gruppen. Strauß unterschied diesmal erste, zweite und dritte Violinen, erste, zweite und dritte Bratschen. Das Elektra-Orchester ist infolgedessen noch größer, als das in der Salome. Das Blech besteht aus acht Hämmern [sic], vier Tuben, sechs Trompeten, von denen drei am Schluß stehend geblasen werden müssen, Baßtrompete, drei Posaunen, Kontrabaßposaunen [sic] und Baßtuba. Das Holz ist durchwegs drei- bis vierfach besetzt. Daß Cellesta [sic], Heckelphon und daß [sic] Schlagzeug eine besondere Rolle spielen, ist nur selbstverständlich. Die Schwierigkeiten, welche sich einer Wiedergabe des Werkes seitens des Instrumentalapparates entgegenstellen, spotten einfach jeder Beschreibung. Mit ihnen konkurriert nur noch die Partie der Elektra selbst, welche Anforderungen enthält, die wohl noch nie an eine dramatische Sängerin bisher gestellt wurden.
Es ist heute natürlich nur möglich gewesen, die flüchtigen Eindrücke der Aufführung wiederzugeben, denn der Klavierauszug (bei Adolf Fürstner in Berlin erschienen) wurde erst knapp vor der Aufführung herausgegeben. Erst später, nach mehrmaligem Hören und gründlichem Erfassen der Materie[,] wird man in der Lage sein, das reiche Detail, mit welchem Strauß seine Elektra durchsetzt hat, zu würdigen und die feineren Zusammenhänge herauszufinden. Denn Strauß hat sich seine Aufgabe keineswegs leicht gemacht. Einen wesentlichen Fortschritt seinem früheren Schaffen gegenüber wird man aber in der Elektra kaum erblicken können, denn alles in allem bedeutet sie doch nur eine Wiederholung des glänzenden artistischen Meisterstückes, das er in seiner Salome gegeben hat. Eine Potenzierung war allerdings schwer möglich. Kein Zweifel, die musikalische Welt hat eine neue Sensation. Wie lange sie vorhalten wird – die Zeit wird es entscheiden.
Die heutige Uraufführung hatte eine Dauer von 1¾ Stunden. Sie ging vor dichtgedrängtem; [sic] festlich gestimmtem Hause von statten. Musiker, Kritiker und Bühnenleiter aus allen Teilen des Deutschen Reiches und Oesterreich-Ungarns füllten das Parkett. Die Aufführung unter Schuchs Leitung war geradehin großartig und hatte einen kolossalen Erfolg. Richard Strauß mußte dreißigmal vor den Rampen erscheinen, bis sich das Publikum beruhigte. Von den Orestesszenen ab steigerte sich die Wirkung in unerhörter Weise. Von den Darstellern wäre Frau Krull in der Titelrolle als erste zu nennen. Der scharfe und schneidende Ton der Mittellage kam ihr vortrefflich zu statten. Sie überwand die riesigen Schwierigkeiten ihrer Partie spielend. Fräulein Siems (Chrysothemis) verschwendete ihr fürstliches Material mit großer Freigebigkeit. Frau Schumann-Henk [sic] (Klytämnestra) enttäuschte ein wenig. Sie sah in ihrem blutroten Kleide etwas spießbürgerlich aus; ihre ehedem so schöne Stimme klang welk und müde. Herr Perron als Orest war vortrefflich, er sprach und sang meisterhaft.