wird voraussichtlich die nächste Zeit hindurch im Mittelpunkt des öffentlichen Musikinteresses stehen. Es hilft nichts, daß man mancherlei Bedenken gegen sie ins Feld führt – man muß sich mit ihr abfinden. Sie ist eine Zeiterscheinung, an der man um ihrer selbst wie um des Komponisten willen nicht vorübergehen kann. Richard Strauß hat von jeher soviel Gegner wie Freunde gehabt. Je weiter die Kreise hüben und drüben sich zogen, je mehr seine Bedeutung erkannt, sein Einfluß bemerkbar wurde, desto intensiver kamen natürlich Sympathie und Antipathie zum Ausdruck. Mag man nun zur einen oder zur andern neigen: soviel steht fest, daß jemand schon »etwas« sein muß, über den sich so lange und so heftig streiten läßt. Es ist auch nicht eine zufällige Persönlichkeit, die man in Richard Strauß bekämpft; [220] es sind vielmehr allgemein-künstlerische Tendenzen, und somit hängt er aufs engste mit dem Kulturbild unsrer Zeit zusammen.
Vor allem springt eines in die Augen: die Kultur des Technischen hat in der Straußischen Musik einen Gipfel erreicht. Das ist keine naive Kunst mehr, die ihre Wirkungen aus dem Empfinden schöpft. Der Intellekt überwiegt hier das Gefühlsmoment in einer gerade bei der Musik noch nie beobachteten Weise. Die oft berauschende Klangwelt des Komponisten, die nervenerregende Kompliziertheit seiner Ausdrucksmittel, sie sind das Ergebnis kompositionstechnischer Errungenschaften.
Bei Strauß, das weiß man, steht immer das Orchester im Vordergrund, auch dann, wenn er, wie in der »Elektra«, für die Bühne, also auch für Singstimmen schreibt. Dem Orchester gilt seine größte Sorgfalt, die Erweiterung der instrumentalen Ausdrucksfähigkeit ist recht eigentlich die Summe der Lebensarbeit von Richard Strauß. Dem Orchester hat er einen unerhörten Reichtum an Mitteln gegeben, indem er seinen Klang aufs feinste differenzierte, und den einzelnen Stimmen wie Instrumenten die größtmögliche Bewegungsfreiheit ließ. Eine neue Art instrumentaler Polyphonie ist so entstanden, die über die Wagners weit hinausgeht und den Orchester‑ mit dem Kammerstil verbindet. Dabei kann man verfolgen, daß Strauß weniger neue Ideen anregt, als vorhandene durch Steigerung ausnützt. Die althergebrachte Teilung der Geigen in erste und zweite genügt ihm nicht; er führt drei selbständige Gruppen ein, deren unterste zuweilen die Violine mit der Bratsche zu vertauschen hat. Indem er jede dieser Gruppen noch in eine Vielheit von Stimmen spaltet, ist er, zumal auch Celli und Kontrabässe geteilt erscheinen, in der Lage, allein in dem Streichkörper eine Klanghülle zu erzeugen, die ihre Wirkung nicht verfehlt. An Blasinstrumenten verwendet Strauß den gesamten Apparat der Modernen, einschließlich des jüngst erfundenen Heckelphons (der Oktavoboe), die einzelnen Gattungen wiederum vielfach besetzt. Nach Wagners Vorbild geht er noch weiter in der Art, sie in geschlossenen Gruppen mit‑ und gegeneinander zu führen, nicht ohne auch hier der kompakten Majorität alle Klangmöglichkeiten individualisierender Schreibweise gegenüberzustellen. Was auf solche Art an neuen Schattierungen und Farbenkomplexen gewonnen worden, läßt in der »Elektra« selbst die früheren Experimente des Komponisten hinter sich zurück. Ein Vergleich der Partitur mit der »Salome« lehrt, um wieviel bewußter diese Kunst der Instrumentation in ihr auftritt, und wie die Sicherheit in der Beherrschung sogar verhältnismäßig einfache Wirkungen nicht verschmäht. Merkwürdig scheint, daß Strauß, der Orchestervirtuose, zuweilen den Instrumenten Unmögliches zumutet, so wenn er z. B. die Baßtuba sich in schnellen Sechzehnteln bewegen läßt. Man darf jedoch nicht vergessen, daß sich unsre Musiker schon öfter an Dinge gewöhnt haben, die, als sie neu waren, gleichfalls für unausführbar, weil gegen die Natur der Instrumente verstoßend, galten. Die Grenze zu bestimmen, bis zu der sich die Technik der Zukunft zu entwickeln vermag, liegt uns nicht ob. Das Prinzip der Differenzierung ist endlich auch in [221] den Schlaginstrumenten durchgeführt. Was früher ein einfacher Paukenwirbel oder Beckenschlag zu leisten hatte, wird je nach der gewollten Eindrucksnuance in ein Vielfaches zerlegt; die bekannten Akzentwerkzeuge erscheinen nicht nur in vermehrter Anzahl und verschiedenen Gattungen, auch neue Geräuscherzeuger, wie die »Ruthe«, treten malend in den Tonkörper.
Gegenüber dem Orchester ist in den Straußischen Dramen den Singstimmen eine nicht bescheidene, aber doch untergeordnete Rolle zugewiesen. Es hieße das Wesen der Wagnerschen Musik verkennen, wollte man etwa auch hierin den Einfluß des Bayreuthers erblicken. Das ist vielmehr auf zwei Mängel der Begabung des Elektrakomponisten zurückzuführen, die je länger, desto offenkundiger zutage treten. Die Technik zwar des vokalen Satzes beherrscht er wie jede andere Technik; das beweisen zur Genüge seine Lieder. Aber sein melodischer Ausdruck ist nicht stark, nicht persönlich genug, um ihm zu erlauben, die Höhepunkte der Handlung, so wie es das Drama verlangt, in die unmittelbare Darstellung der handelnden Personen, das heißt in den Gesang zu verlegen. Zweitens aber ist Straußens Stellung zu seinen Stoffen, ist sein ganzes kompositorisches Verfahren so wenig – nach unsern Begriffen wenigstens – ein spezifisch dramatisches, daß wir uns über die Vernachlässigung des Gesanglichen nicht wundern dürfen. Das führt uns auf die Wahl des Elektra-Stoffes und seine Behandlung.
Die Tragödie des Sophokles braucht uns in diesem Zusammenhang nicht zu kümmern. Richard Strauß hat sich Hugo von Hofmannsthal zum Genossen erwählt, dessen Umdichtung des antiken Stoffes teils hinter Sophokles zurückgeht, teils ihn der Sensibilität unsres modernen Empfindens näher zu rücken versucht hat. Für unsre Aufgabe hier fragt es sich allein: wie hat Strauß diese Hofmannsthalsche Elektra zu einem Musikdrama umgebildet, und war diese Wahl überhaupt eine glückliche? Ich möchte zunächst die zweite Frage beantworten, und zwar mit einem bedingten Ja. Der Elektra-Stoff ist zweifellos der musikalischen Darstellung fähig. Die Aufgabe, eine menschliche Leidenschaft in konzentriertester Form zum Ausdruck zu bringen, war es wohl auch, was den Komponisten reizte. Es liegt Größe in dieser Einseitigkeit, mit der hier in die Erscheinung tritt, was Gram und Haß von einem Menschen allein noch übrigließen. Auch die psychologischen Zutaten des modernen Bearbeiters waren für den Komponisten vielleicht verwendbar. Was sich seiner Kunst entzieht, ist die eigentümliche Sprachtechnik Hofmannsthals. Die aber bildet gerade den stärksten Reiz seines Dramas. Strauß hat hier wie in der »Salome« nicht empfunden, daß die Musik das Charakteristische solcher modernen Dichtungen verdeckt oder doch kraft ihrer Natur abschleift. Auch was im Wortdrama an Vereinfachung der Szenerie und Handlung als kunstvolle Berechnung erscheint, wird unerträglich, sobald die Tonkunst ihre ausdehnende Wirkung darauf ausübt. Manche Länge und Monotonie hätte vermieden werden können, wenn eine eigens für die Bedürfnisse der Musik zugeschnittene Bearbeitung dem Komponisten vorgelegen hätte. Daß Strauß nicht das Wesentliche und Brauchbare ausgeschieden, daß er, getreu seinem Grundsatz, nach [222] dem alles »komponiert« werden kann, die Hofmannsthalsche Dichtung – von kleinen Auslassungen und Änderungen abgesehen – sozusagen mit Haut und Haaren vertont hat, das zeigt meines Erachtens, weshalb wir ihn wohl zu den großen Musikern, nicht aber zu den geborenen Dramatikern rechnen müssen, und weshalb sein Einfluß auf die zukünftige Entwicklung schwerlich als heilsam zu betrachten ist. Damit ist zugleich die letzte der gestellten Fragen beantwortet.
Bedeutet die Überschätzung des Technischen nur einen relativen Vorwurf – weil Technik und Ausdruck so ineinander übergehen, daß eine Grenze mit Sicherheit schwer zu ziehen ist, und weil »Erfindung« sich schließlich auch im Technischen äußern kann – so gehört eine andre Tendenz der Straußischen Kunst, in der sich der Geist unsrer Zeit spiegelt, gewiß nicht zu den erfreulichen. Ich möchte sie die materialistische nennen. In der Musik haben sich von jeher zwei einander ausschließende Wirkungsmöglichkeiten gegenübergestanden. Die eine ist transzendenter Natur und ruft seelische Eindrücke, aber auch Vorstellungen und Bilder hervor mit Mitteln, die dem dafür nicht Empfänglichen in Worten nicht zu erklären sind. Es ist die Art fast aller älteren Musik und moderner Meister wie Brahms und Schumann. Die andre wendet sich mehr an die sinnliche Wahrnehmung und sucht sich durch Täuschungen und Analogien der Wirklichkeit zu nähern. Sie kann als die spezifisch-musikalische nicht betrachtet werden, da sie sich mit Vorliebe an andre Künste lehnt oder sie gar für ihre Zwecke zu Hilfe nimmt. Liszt war einer der Begründer dieser – weil sie die Materie des Tones ausnutzt – materiellen Richtung in der Musik, Richard Strauß ist ihr neuester und überzeugtester Vertreter. Durch sie wirkt er auf die Massen, die immer mit dem Äußerlichen leichter als mit dem Innerlichen, mit dem Sinnlichen leichter als mit dem Geistigen gewonnen werden; sie gibt, mehr noch als das Stoffliche, seinen letzten Schöpfungen den Charakter des Sensationellen. Kein Zweifel, daß er damit dem Verlangen entgegenkommt, und so darf er sogar wagen, den Genuß seinen Hörern so schwer und mühselig wie nur möglich zu machen.
Gerade weil nun Strauß keine zufällige, sondern eine aus den allgemeinen und im besonderen den künstlerischen Zuständen der Gegenwart bedingte Erscheinung ist, darf man ihn nicht nach rein artistischen Gesichtspunkten beurteilen. Theoretische Bedenken geltend zu machen und auf leicht erkennbare Unzulänglichkeiten hinzuweisen, darf zwar der Kritik nicht verwehrt sein. Viel schwerer aber ist es, den unleugbaren Eindruck der Größe, den selbst der widerstrebende Hörer von der »Elektra« empfängt, zu erklären. Es ist nicht damit getan, daß man von dem Wunderwerk der Partitur spricht, die als ein musikalischer Monumentalbau von durchaus neuer und eigenartiger polyphoner Arbeit dasteht. Obwohl das allein schon ein Beweis von Genialität wäre. Es lösen sich auch aus der verwirrenden Tonflut Gebilde von hoher Schönheit und imponierender Kraft, die unmittelbar die Phantasie ansprechen und gefangennehmen. Wer sie geschrieben, wird wohl wissen, was er tut. Jedenfalls liegt in der [223] »Elektra« ein Versuch vor, einer großen Aufgabe gerecht zu werden, dem an Kühnheit und gewaltiger Anlage nichts Zeitgenössisches an die Seite zu stellen ist. An theatralischer Haltung und bunter Farbenpracht steht das Werk der »Salome« nach; dafür ist es weniger unerquicklich, trotz aller Grausigkeit des Stoffes, und ernster und einheitlicher gestaltet. Wir können uns nur bemühen, einem solchen Werke allmählich näher zu kommen, und es getrost der Zukunft überlassen, über seine Wirkung und seinen Wert oder Unwert das endgültige Urteil zu fällen.