Georg Göhler
»Ein Silvestergespräch«
in: Neue Freie Presse, Heft 15936, Samstag, 2. Januar 1909, Morgenblatt, Rubrik »Feuilleton«, S. 1–3

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
Ein Silvestergespräch.

Der Alte. Wirklich?

Der Junge. Ja, ich bin kuriert! Aber auch – kaput [sic]!

Der Alte. Wie lange haben Sie das mitgemacht?

Der Junge. Drei Jahre. Seit ich von Ihnen fort bin. Wie stürmt’ ich damals hinaus ins Leben! Hören, lernen, arbeiten, schaffen, mithelfen am Fortschritt der Kunst! – Fortschritt?? – Ich hab’s kennen gelernt in den drei Jahren.

Der Alte. Und nun kommen Sie zu Ihrem alten Lehrer und (schüttelt den Kopf) – –. Hm! hm! – – Was haben Sie denn komponiert in der Zeit?

Der Junge. Nichts! Nichts! Das heißt viel! Aber nichts fertig! Angefangen, große Dinge! Immer unter dem Eindruck des Neuesten, das ich gehört, kühn – modern – – jetzt nenn’ ich’s frech! – – Nach paar Wochen war mir jedes, das ich angefangen, eklig. Da hatt’ ich schon wieder was Neues gehört und schien mir nicht mehr fortschrittlich genug. Aber auch was ich hörte, – im ersten Jahre war ich noch von allem Neuen begeistert. Je kühner, desto besser. – Doch im Sommer schon, wenn mehr Ruhe war, wenn die Natur, ein paar gute Menschen und Bücher mir näher kamen, da war mir’s, als hätt’ ich in all dieser Flut von neuer Musik gar nicht gelebt. – Im zweiten Winter wurde es dann übel. Ich mußte mich zwingen, beim Glauben an den Fortschritt, bei Sturm und Drang auszuhalten. Mag sein, weil ich auch viele von den modernen Musikern persönlich kennen lernte und keine Menschen, keine Künstler fand. Und in ihren Werken nur all’ das Kleinliche ihrer eigenen Naturen. Wenn ich selbst was schrieb, sagt’ ich auch nach wenigen Tagen mit Wotan: »Zum Ekel find’ ich ewig nur mich in allem, was ich erwirke.« O, es war gräßlich. – Es ist gräßlich. ’s wird immer schlimmer. Drum – – ich sattle um und will was Vernünftiges werden. Moderner Musiker, halb Tollkopf, halb Trottel, halb Komödiant, halb Geschäftsmann, halb Wundertier, halb Spekulant, halb Gott, halb – – dazu pass’ ich nicht!

Der Alte (lächelt vor sich hin). Jetzt muß ich mit meinen zweiundsiebzig Jahren dem Brausekopf, dem meine paar Regeln und Formeln vor drei Jahren zu eng und schulmeisterlich waren, das Schulmeistern und den engen Horizont verbieten. Wissen Sie, was? – – Katzenjammer! – – Katzenjammer haben Sie! – Na, ’s ist besser ein moralischer am Silvesterabend als ein physischer zum neuen Jahre.

Der Junge. Ja, soll man da etwa keinen Jammer kriegen, wenn man diesen modernen Brei jahrelang in sich hineinfuttert? Ist das Nahrung für anständige, normale Menschen?

Der Alte. Nein, mein Bester! Jammer soll man kriegen! Und Jammer hat mancher und sagt’s nur nicht. Jammer aber ist der Besserung Anfang!

Der Junge. Ich sehe keine Besserung. Immer neue Sensationen, immer weniger Musik, immer mehr Lärm, immer geschmacklosere Stoffe, immer ärmlichere Themen, immer dickere Reklame. Jetzt wieder mit Elektra. Dresden kündigt gleich eine ganze Strauß-Woche an mit Feuersnot –

Der Alte. Na ja, auch nicht mein Geschmack: jus primae noctis, ausgeübt hinter den Coulissen mit begleitender symphonischer Dichtung. – Danke!

Der Junge (fortfahrend). Salome, wieder zugkräftig gemacht mit einer neuen, sehr viel versprechenden, selbst tanzenden u. s. w. Salome, Domestica und dann Elektra mit verschandelter, pervertierter Antike. Und diese Zeitungsreklame seit Wochen schon und dann wieder das Triumphgeschrei.

Der Alte (mitleidig). Gehören Sie auch zu den Erbitterten?

Der Junge (sehr heftig). Ja soll man, muß man denn da nicht? – Es muß doch besser werden!

Der Alte. Das wird’s von selbst oder aber trotz allen Kampfes nicht. Mir tut jeder leid, der deswegen auch nur einen halben Tag oder einen halben Bogen vergeudet. ’s ist schade um Kraft und Zeit. – Auch wenn er Recht hat. Kann Besseres tun!

Der Junge (immer noch heftig). Aber es ist doch empörend, und da kann man –

Der Alte (einfallend). Geben Sie mir mal da vom Schreibtisch den Zarathustra her – – Danke! – – So, nun lesen Sie mir vor, was ich hier angezeichnet habe.

Der Junge. »Wenig begreift das Volk das Große, das ist: das Schaffende. Aber Sinne hat es für alle Aufführer und Schauspieler großer Sachen.« »Um die Erfinder von neuen Werten dreht sich die Welt: – unsichtbar dreht sie sich. Doch um die Schauspieler dreht sich das Volk und der Ruhm: so ist es ›der Welt Lauf‹.«

Der Alte (mit Nachdruck wiederholend). »So ist es der Welt Lauf!« – – Bitte noch den nächsten Satz.

Der Junge. »Geist hat der Schauspieler, doch wenig Gewissen des Geistes. Immer glaubt er an das, womit er am stärksten glauben macht, – glauben an sich macht!«

Der Alte (nimmt das Buch und fährt fort zu lesen). »Umwerfen – das heißt ihm: beweisen. Toll machen – das heißt ihm: überzeugen.« (Er blättert weiter in dem Buche.) Und nun hier noch etwas: »Freiheit«, brüllt ihr alle am liebsten: aber ich verlernte den [2] Glauben an »große Ereignisse«, sobald viel Gebrüll und Rauch um sie herum ist. Die größten Ereignisse – das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden. Nicht um die Erfinder von neuem Lärm: um die Erfinder von neuen Werten dreht sich die Welt; unhörbar dreht sie sich.« (Legt das Buch beiseite.) Verstehen Sie? Unhörbar dreht sie sich! Immer weiter, immer weiter! Immer weiter geht auch die Entwicklung der Kunst.

Der Junge. Aber wo? Wohin?

Der Alte. »Unhörbar dreht sie sich«, unsich[t]bar schreitet sie fort. Wer auf der Erde lebt, kann nicht beobachten, wie sie sich dreht. Die vom Himmel, die Genies, die wissen, wohin der Weg geht. Wir müssen uns dran genügen lassen, an den Fortschritt zu glauben und auf den Weg zu achten, um rechtzeitig umzukehren, wenn wir auf falschen geraten sind.

Der Junge. Das eben hab’ ich ja bereits getan. Aber, wohin soll ich mich nun wenden? Und soll ich’s nicht anderen zur Warnung immer wiederholen: »Hier kommt ihr in einen Irrgarten! Meidet den Weg!«

Der Alte. Die andern? Wer sind die andern? Vielleicht ist’s der Weg, der ihnen genügt, vielleicht ist’s ihrer Natur gemäß, im Kreise herum zu trotten und sich kindisch über Bocksprünge zu freuen. Was bedeuten denn die andern für einen Künstler? Was erreicht er mit seinem Kampf gegen die Götzen des Tages? »Fliehe in deine Einsamkeit! Du lebtest den Kleinen und Erbärmlichen zu nahe. Fliehe vor ihrer unsichtbaren Rache. Gegen dich sind sie nichts als Rache. Unzählbar sind diese Kleinen und Erbärmlichen; und manchem stolzen Baum gereichten schon Regentropfen und Unkraut zum Untergange.« Also sprach auch Zarathustra.

Der Junge: Seien Sie mir nicht böse, mein verehrter Herr Professor, aber diese Lehre scheint mir doch erst für das Alter des Wanderers: »Zu schauen kam ich, nicht zu schaffen«, giltig. Ich mit meinen fünfundzwanzig Jahren muß mich doch rühren und regen.

Der Alte. Das sollen Sie! Und Sie werden und sollen auch in Gottes Namen die Hälfte von dem, was ich Ihnen geraten habe, nicht befolgen. Der beste Lehrer bleibt das Leben mit all den Wunden, die man sich drin holt! Also »rühren und regen« Sie sich!

Der Junge. Aber in dieser Atmosphäre?

Der Alte. So haben Sie also wirklich auf dem Strome des modernen Musiklebens gar keinen Schiffer gefunden, der den richtigen Kurs hätte, gar keinen, in dessen Fahrwasser Sie mitrudern möchten?

Der Junge. Nein! Ich suchte Fortschritt, suchte Ueberwinder alles Unkünstlerischen, Persönlichkeiten, Führer und fand Cliquenmenschen, die sich gegenseitig stützen und heimlich doch befehden, Modeleute, die nach Erfolg haschen.

Der Alte. Mein Lieber! Zum Glücke kennen Sie mit Ihren fünfundzwanzig Jahren noch nicht alle moderne Musik. Also werden Sie später vielleicht doch noch was Gutes drin und dran finden.

Der Junge. Glauben Sie denn ernstlich noch an Fortschritt?

Der Alte. Ich bin ein alter Herr. Zweiundsiebzig Jahre ist eine hübsche Zahl und, bin ich auch frisch an Körper und Geist, hab’ ich mir doch seit Jahren schon drei gute Sätze von Goethe hinter die Ohren geschrieben.

Der Junge. Und welche, falls ich sie erfahren darf?

Der Alte. »Wenn man älter wird, muß man mit Bewußtsein auf einer gewissen Stufe stehen bleiben.« »Es ziemt sich dem Bejahrten, weder in der Denkweise noch in der Art, sich zu kleiden, der Mode nachzugehen.« »Aber – man muß wissen, wo man steht und wohin die andern wollen.«

Der Junge. Das ist schön. Das kannte ich noch gar nicht!

Der Alte. Sie werden immer bei Goethe etwas finden, was Ihnen als Künstler auch auf den modernsten Irrwegen zurechthilft. Der zweite und der dritte Satz passen übrigens nicht nur für Alte. – Auf mich und Ihre Frage angewandt heißt die Goethesche Lehre: Ich sehe mir gern und vorurteilslos alles Neue an, aber ich tue nicht mit – richte aber auch nicht!

Der Junge. Und sollen wir Jüngeren auch so tun?

Der Alte. Sehen Sie, mein Lieber, der Hauptfehler von euch jungen Leuten, und überhaupt von den meisten, die im öffentlichen Musikleben drin stehen, ist Ungeduld, Uebereilung. Ihr könnt’s nicht erwarten! Ihr wollt immer Große, Führer, Nachfolger auf den Thronen Beethovens und Wagners. Kann’s denn nicht auch mal magere Jahre geben? Geht’s nicht auch ohne ein Oberhaupt?

Der Junge. Ja, wir sind doch jung! Sie haben in Ihrer Jugend auch das Bedürfnis gehabt, sich anzuschließen an einen lebenden Großen. Damals waren aber bessere Zeiten. Was gäb’ ich drum, im Gefolge so eines Großen von damals an den Fortschritt in der Kunst glauben zu können!

Der Alte. Gewiß, es waren schöne Zeiten, als noch »künstlerische« Streitfragen das öffentliche Musikleben beherrschten und bewegten. Aber waren denn die Großen, die Sie meinen, zu ihrer Zeit Führer? Ihr Jungen seid eben immer kurzsichtig und seht die Vergangenheit so an, als ob die Verteilung der Kräfte genau so gewesen wäre wie in unseren Tagen. Wer war denn um Wagner und Liszt? Wer um Brahms? Um Bruckner oder Wolf? Führer, Vorbilder waren sie doch nur ganz, ganz wenigen. Die hellen Haufen, die jetzt unseren Modekomponisten nachlaufen, die Lobhudler, die sie in ihren Tagesartikeln preisen, die Art Leute kniete damals vor Götzen, die wir schon gar nicht mehr ernst nehmen! – 1882 und 1883 noch waren die Bayreuther Festspiele leer. 1882 war Wagner 69 Jahre alt, 1883 war das Gedächtnis seines Todes zu begehen! Wolf war auch schon im Krankenhaus für immer begraben, als sein Ruhm begann. Und die Freunde unseres alten Bruckner? Ein paar an den Fingern zu zählende wirkliche Künstler, die ihn bewunderten und liebten.

Der Junge (hat den Zarathustra wieder an der eingezeichneten Stelle aufgeschlagen und liest nachdenklich). »Um die Erfinder von neuen Werten dreht sich die Welt. Unsichtbar dreht sie sich.«

Der Alte. Das ist’s! So ist’s! Ich alter Mann, ich glaube an den Fortschritt in der Kunst. Und – Sie mit Ihren jungen Kräften wollen die Flinte ins Korn werfen, der Kunst untreu werden, weil allerhand Komödiantentum im modernen Musikleben Ihnen Kopfschmerzen macht?

Der Junge. Wie Sie mir’s da eben klar gemacht haben, so hab’ ich das alles im Getriebe der [3] Großstädte wirklich noch nicht angesehen. Wenn wirklich auch jetzt die eigentlichen Künstler, die wahren Fortschrittler im Verborgenen lebten? – Sie haben Recht! Wagner saß da in der Schweiz und schuf und schuf – für eine Handvoll Freunde. Liszt komponierte und sagte: Ich kann warten! Auch Brahms’ Gemeinde war wohl treu, aber klein. Wolf – starb, ehe er der »geniale Lyriker« wurde, Bruckner freute sich als Sechzigjähriger wie ein Kind, wenn ihn jemand einer Aufführung würdigte. Und früher? Schubert! – – (Erregt) Aber wo leben jetzt die Verborgenen? Wie soll man sie finden? Wo soll ich suchen?

Der Alte. Sie sind und bleiben ein Hitzkopf. Gar nicht suchen sollen Sie! Wenn Sie irgend so einen dann wirklich vorzeitig ans Tageslicht schleppen, ist’s nur sein Schade. Lassen Sie ihn in seiner Einsamkeit. Alles Große wächst still und aus eigener Kraft. Ohne Salome-Reklame! – – Und muß denn immer ein Großer leibhaftig unter uns leben? Was haben wir denn seit Goethe und Schiller an großen Dichtern? Was gab’s denn nach der kurzen Blütezeit der griechischen und römischen Dichtkunst für Nachwuchs? Die Genies werden nicht geboren wie Militärtaugliche! Danken wir Gott für das, was wir an deutschen Meistern der Musik gehabt haben, und entehren wir den Namen Meister nicht dadurch, daß wir jeden geschickten, begabten Musiker gleich Dutzende von Malen in allen Blättern als Meister Strauß und Meister Reger verhimmeln!

Der Junge (lachend). Ja, ja! Es leben die guten Freunde!

Der Alte. Soll ich alter Mann, der ruhig zusieht, wohin die anderen wollen, Ihnen zwei Namen nennen, mit denen sich zu beschäftigen lohnt, so sag’ ich: Mahler und Pfitzner.

Der Junge (lebhaft). Ja, da hoff’ ich auch – –

Der Alte. Nicht gleich wieder hitzig! Nicht als Große ausschreien! Keine Partei bilden, aber Anteil nehmen, studieren, beobachten.

Der Junge. Aber man muß doch für etwas leben!

Der Alte. Leben Sie für sich (in doppeltem Sinne) und für die Kunst!

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42077 (Version 2021‑09‑30).

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