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»Elektra«
in: Münchner Neueste Nachrichten und Handels-Zeitung, Alpine und Sport-Zeitung. Theater- und Kunst-Chronik, Jg. 62, Heft 42, Mittwoch, 27. Januar 1909, Morgen-Blatt, S. 1–2

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
Elektra
Dresden, 25. Januar.

Unsere Hofoper hat wieder einmal einen ihrer großen Tage gehabt. Mit rühmenden oder verwerfenden Randbemerkungen wird der 25. Januar 1909 in der Musikgeschichte gebucht werden. Jeder Schaffende hat intime Feinde und Freunde; wohl ihm, wenn beide ehrlich sind! So hoch ist unter den Lebenden kein Musiker gestiegen wie Richard Strauß, und nicht jeder gönnt es ihm, nicht jeder hält seinen Ruhm für recht und fest gegründet. Die ganze Fülle von prinzipiellen und persönlichen Gegnerschaften umbrandet ihn, die Hochflut der Mißverständnisse droht hier sein Werk zu überschwemmen, die Gluthitze einseitigen Fanatismus droht es dort vor Begeisterung aufzuzehren. Wer kann dem herausforderndsten der deutschen Musiker heute schon volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, wer seinem Werke die Ewigkeitsgeltung künden? Nur willig erfassen, was er will und kann, das sollte ein jeder, der ihm nahetritt.

Die Uraufführung der »Elektra« war ein neuer Sieg des Tondichters. Errungen mit gewaltigen materiellen und geistigen Mitteln, mit einem Riesenaufwand von künstlerischer Kraft und Künstlerkräften. Durchgesetzt mit einem technischen Apparat von umwerfender Macht und Kraft, mit einem Kolossalorchester, das die vielbeschriene »Salome« in der Instrumentenbesetzung noch überbietet. Je acht erste, zweite, dritte Violinen, je sechs erste, zweite, dritte Bratschen, je sechs erste und zweite Celli, acht Kontrabässe bilden den Streichkörper; noch stärker sind die Bläser besetzt; das Schlagzeug weist alle Folterwerkzeuge der Instrumentation auf. Und doch, um es gleich festzustellen, hat der Orchesterklang diesmal nicht die unaufhörlich nervenaufpeitschende Wirkung wie sonst so oft bei Strauß. Er erscheint viel ausgeglichener, zu einheitlicheren Eindrücken zusammengefaßt, weniger in Effekte und Lichter zerstreut als in der »Salome«. Obwohl die malende Kraft der Orchestermittel in nichts nachgelassen hat, obwohl Katzenpfauchen, Peitschen- und Rutenschläge, Schleppen und Schlürfen, Trampeln und Trappeln, Blöken und Stöhnen der Opfertiere, Knarren rostiger Angeln und viele andere Effekte mit allem Realismus der Straußschen Instrumentationskunst wiedergegeben sind, ist doch jede Einzelheit dem Ganzen dienstbar gemacht, liegt doch ein tragender Grundton deckend darüber. Ein lebendiger Strom von Tönen und Farben fließt an einem vorüber, sich senkend und hebend in dynamischen und rhythmischen Wellen, einigemale in erschütterndem Fortissimo aufbrandend, dann wieder in bange Pianissimi der Spannung verebbend. Was mir an diesem so ungeheuer ausdrucksreichen Tonstrom neu zu sein schien im Stile des Straußschen Schaffens, das ist die bindende Kraft eines kantablen Lyrismus, eine größere Sanglichkeit auch des Sprechgesangs, ein dichteres Verweben der Thematik.

Der Eindruck von dem Werke ist viel zu reich und zu flüchtig, als daß in einem ersten Berichte mehr als Impressionen, Stimmungen, Mutmaßungen, Einordnungsversuche ehrlicherweise gegeben werden könnten. Profanen Augen und Ohren, auch berufskritischen, war diesmal selbst die Generalprobe des Werkes vorenthalten worden, und das Studium der gedruckten Noten hatte seine Schwierigkeiten. So saß denn die stattliche Kennerschar im Parkett, die zahlreichen Vertreter der Presse Deutschlands und des Auslandes, Generalintendanten (v. Speidel, v. Putlitz, v. Schirach) und Operndirektoren (Carré, Paris; Bachur, Hamburg, u. a.), Kapellmeister und Regisseure – der ganze musikalische Generalstab, zum größten Teil so ahnungslos und erwartungsvoll da wie die glänzende Hörerschar, die das Semper-Haus in allen Rängen füllte.

Mit Hofmannsthals Dichtung, die bekanntlich die nur unwesentlich veränderte Textunterlage bildet, ist auch für die Oper der dramatische Aufbau und der Stimmungsgrundton gegeben. Rückkehr aus dem Athen des Sophokles nach dem Mykene Agamemnons. Sturz aus dem Klassischen ins Mythische. Kulturdämmerung bricht in Kyklopenburgen herein. Urtriebe rasen ungebändigt, Blut empört sich wider Blut. Dieses düstere, vorzeitliche, blutrünstige Kolorit des Hintergrundes hat Strauß durch eine Einstellung des tonalen Gesamtcharakters festgehalten, wie ähnlich mit anderen Mitteln im »Moloch« von Max Schillings der Charakter des Mythus festgehalten ist. Fremdartige, hieratische Klänge, dunkle Akkorde voll seltsamen Bangens, quälende Kakophonien voll Grauen und Furcht durchdringen das Tongewoge als tiefer Untergrund. Hier liegt sicherlich auch der Punkt der Empfängnis, an dem die Tondichtung aus der zeugenden Stimmungskraft der Wortdichtung hervorging. Nur unkünstlerische Stoffhuber können glauben, daß es Strauß nach einem Gegenstück zur schönen Jüdin Salome gelüstete und er in Elektra eine verwandte Frauengestalt erblickte, der er vielleicht einmal in einer Medea, Phädra oder Pasiphaë noch weitere »perverse« Damen zugesellen könnte. Was ihn zu »Elektra« zog, liegt viel tiefer im rein Künstlerischen. Vielleicht mag der Stoff ihm besonders lockend gewesen sein, weil sich die Jugenderinnerung daran knüpfte, daß er schon auf dem Gymnasium einen Chor aus der »Elektra« des Sophokles komponiert hat; wie weltenweit mag diese Musik von der der Oper liegen! Ueber deren düsteren Grundton erhebt sich nun die dramatische Linie, ein großer, vorwärts treibender Zug, der das pausenlose Stück kaum einmal zu einem Ruhepunkt gelangen läßt, sondern mit heißem Atem zum ekstatischen Schlußtanz treibt. Wechselnde Szenen umwogen Elektra, die Rächerin. Nach ein paar Akkorden mit dem rufenden Agamemnonmotiv hebt sich sofort der Vorhang; auf die Szene der schwatzenden Mägde folgt Elektras großer, fast pathetischer Monolog, ein weitgespannter musikalischer Bogen; die Liebessehnsuchtsklage der Chrysothemis blüht wie eine üppige Orchidee auf neben der Feuerlilie des Hasses der Elektra; in Blutpurpurfarben malt die Musik der traumgeängstigten Klytämnestra hilfesuchende Bangigkeit; hier klingt es wie Stampfen wilder Huftiere, wie Klirren von Ketten, wie dumpfer Mordlärm; ein seltsam banger Flötentriller haucht Klytämnestras Furcht aus. Elektra malt die wilde Todesjagd, die der Gattenmörderin droht, reckt sich auf in Triumph, schon klingt ihr Freudentanz von fern: – da kommt die Wendung, die geheime Botschaft, Klytemnästras [sic] Triumph, die wehvolle Klage der Chrysothemis über Orests vermeintlichen Tod. Nach diesem Höhepunkt von Drama und Musik stürzt die Handlung in großen Szenen dem Ende zu: die sinnliche, schwelgende Liebeswerbung Elektras um die Kraft der jungfräulichen Schwester; das Graben nach dem Beil; Orests Eintritt, das Erkennen, die Ermordung Klytämnestras und Aegisths, der Siegestanz der Elektra. Mit pochender Wucht schließt die zu unendlicher Kraftfülle gesteigerte Musik.

Schwelgerisch-schöne Partien sind die Zwiegesänge Elektras mit Chrysothemis und später mit Orest. Hier hat Strauß Farben verschwendet, die so sein Orchester noch nie besaß, eine Lyrik, die zur getragenen Kantilene drängt, eine schmelzende Helligkeit des Kolorits, die zu der Düsterheit des Grundtons wohlerwogen und wirksam in Gegensatz steht. Das gibt dem Werke den Vollgehalt und die tragende Kraft über die Exzesse des Kolorismus hin, die Strauß nun einmal als letzte Ausartungen seines rein orchestral begründeten Tonschaffens nicht lassen kann und will. Der Riesenapparat des Orchesters verschlingt alles in einem Strom von Glut und Farbe, Flecke statt Zeichnung, aufgesetzte Lichter statt Plastik muß man hinnehmen. Man vermißt in dieser Musik die gedankliche Konsistenz ebensosehr wie in Hofmannsthals Dichtung.

Und hier, nach so viel Vorzügen und verschwenderischen Reichtümern der Elektrapartitur, wird der kritische Streit einsetzen. Die Hauptvorwürfe werden lauten: Perverser, pathologischer und dekadenter Stoff; disharmonische, kakophonische, hysterische Musik; femininer, undramatischer, undeutscher Geist. Und man wird wieder nicht merken, daß man, sollte auch jedem der Vorwürfe der berühmte Kern des Berechtigten innewohnen, wieder einmal von außer [sic] heran an ein Werk tritt, das von innen heraus gestaltet ist. Verwerft es, verhöhnt es, haßt es – aber bedenkt, was sein Schöpfer wollte. Da ist eine Dichtung, die ein, zugestanden, raffinierter Kulturpoet voll höchsten Aesthetizismus geschaffen hat. Da ist ein Milieu, eine Stimmungswelt, ein Farbenspiel, das einen verwandten Künstler entflammt, es in den Mitteln seiner Kunst noch einmal zu gestalten. Kann mehr geschehen, als dies mit reifster Künstlerschaft zu tun, ganz ohne außerkünstlerische Absicht? Daß nun dieser Gestalter sich seine eigene neue Tonsprache schafft, ist eben seine Natur, sein Genie und sein Verhängnis. Wo es hinaus soll mit dieser Uebermacht des Orchestralen, mit diesem Zersprengen aller Form, mit dieser nervösen Chromatik, mit all der Farbenfleckentechnik? Wer weiß es? Wer wußte zu Wagners Wirkungszeit, daß es zu Strauß hinauswollte? Ueber den hinaus wird eben ein anderer gehen, vorwärts oder rückwärts – wahrscheinlich aber seitwärts, denn der musische Entwicklungsstrom scheint vorläufig ins Breite zu gehen. Vielleicht darf noch angedeutet sein, daß gar manche Harmonie, gar mancher thematische Zug in Straußens »Elektra« wie eine leise Zurückbiegung auf Wagner anmutet. Jedenfalls dürfte mit seinem neuesten Werke eine Uebertrumpfung der »Salome« in ihrem Eigentlichsten, im Koloristischen, nicht geboten sein.

Der Gesamteindruck der Oper auf das Dresdner Premierenpublikum war vorwiegend der einer wilden Größe, schweren Wucht und seltsamen Exotik. Sicher haben die grotesken Orchestereffekte vielen schwer im Gehör gelegen, und das Schaurige, Widrige, Blutrünstige in Stoff und Ausgestaltung ist vielen auf die Nerven gefallen. Aber der Gesamteindruck war doch Größe und Kraft. Die Aufführung will ich nicht im einzelnen eingehender durchhecheln oder im ganzen beweihräuchern. Hier wird das Urteil aus Vergleichen lernen müssen. Daß Annie Krull die schwere Elektrarolle in ernstestem Studium durchgearbeitet hatte und mit durchaus glaubhaftem Spiel und mit starker, nicht ermüdender Stimmkraft siegreich gegen das stürmende Orchester durchsetzte, wird ihr immer ein hoher Ruhm sein. Ernestine Schumann-Heink lieh der Klytämnestra ihre dramatische, plastisch gestaltende Kraft, und Margarete Siems gab dem Lyrismus der Chrysothemis ihre prachtvolle Stimmdurchbildung. Perron als Orest und Sembach als Aegisth charakterisierten trefflich. Bis [2] in die kleinsten Rollen waren die ersten Kräfte der Dresdner Oper am Werke. Die Regie bot nichts Hervorragendes, aber manchen geschickten Einzelzug und einen farbenvollen Rahmen.

Das Orchester unter Ernst v. Schuch wird wohl selbst den Komponisten voll befriedigt haben, denn er selbst applaudierte ihm von der Bühne herab, wohin ihn der Beifall des Hauses immer wieder gerufen hatte. Es lag befriedigte Feststimmung über dieser durch keinen Widerspruch gestörten Ovation. Der erste große Tag der »Strauß-Woche« ist auf alle Fälle als ein wichtiger Tag in der Musikgeschichte zu buchen.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42044 (Version 2021‑09‑30).

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