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Lieder mit Klavierbegleitung op. 46 bis op. 56
Einleitung

Einleitung

Um die Jahrhundertwende befand sich Richard Strauss in einer besonders intensiven Phase der Liedkomposition. So fällt im chronologischen Strauss-Werkverzeichnis von Franz Trenner gegenüber den vorangegangenen Jahren eine nochmalige Verdichtung auf: Von den Fünf Liedern op. 41 von 1899 bis zur als »Singgedicht« bezeichneten Oper Feuersnot op. 50 von 1901 wird die Folge der Liedkompositionen (inklusive Liedbearbeitungen, Liedorchestrierungen und genuinen Orchestergesängen) lediglich vom im Skizzenstadium verbliebenen Ballettentwurf Kythere unterbrochen und anschließend mit den Acht Liedern op. 49 unmittelbar fortgesetzt. Allein von November 1899 bis September 1901 entstanden 23 Klavierlieder: die Lieder op. 46, 47, 48 und 49. Sie machen zusammen mit den Liedern op. 56 (1903–1906) und den beiden Fassungen der Einzelkomposition Der Graf von Rom (1906) den Werkbestand des vorliegenden Editionsbandes aus.1

Anders als in früheren Jahren, als der Münchner Verlag Jos. Aibl Strauss’ Hauptverleger war oder Strauss seine Lieder punktuell anderen Verlagen zur Publikation anvertraute, erschienen die Lieder der Jahre 1900 und 1901 allesamt im Verlag Adolph Fürstner, der seit 1900 Strauss’ Hauptverleger war. Mehr als einst bei Aibl bemühte man sich dort um ein attraktives Erscheinungsbild der Notenhefte. Bei op. 46 – auch diese Lieder erschienen in Einzelausgaben – äußerte sich dies sogar in inhaltlich mit dem jeweiligen Lied korrespondierenden Illustrationen des italienischen Künstlers Aleardo Villa auf dem Umschlag (siehe Faksimile). Zudem wurde der Gesangstext nicht nur in der Partitur, sondern zusätzlich in strophischer Gedicht-Anordnung abgedruckt (bei Fürstner zudem in englischer Übersetzung), was den Notenausgaben eine literarische Komponente verlieh; das gilt auch für die 1906 im Verlag Bote & Bock erschienenen Lieder op. 56. Diese »Gedicht-Seiten«, auf denen die Texte oft nicht philologisch akkurat wiedergegeben sind, sondern in Orthographie und Interpunktion sowohl vom Gesangstext der Partitur als auch von der Textvorlage abweichen können, waren häufig bereits in den Kompositionsautographen (siehe Faksimile) und den Stichvorlagen angelegt.2

Allerdings etablierten sich die Lieder jener Schaffensphase nicht in ebensolchem Maße im Konzertrepertoire, wie dies bei etlichen früheren Strauss-Liedern der Fall war. Das zeigen diverse überlieferte Konzertprogramme der damaligen Zeit und das gilt bis heute, denn nach wie vor werden in der Konzertpraxis die bekannten »Aibl-Lieder« (insbesondere Zueignung, Allerseelen, Cäcilie, Morgen!, Traum durch die Dämmerung) deutlich bevorzugt. Unter den Kompositionen des vorliegenden Bandes wurde sicherlich Freundliche Vision op. 48 Nr. 1 am populärsten. Diesen Erfolg scheint Strauss geahnt zu haben, schrieb er doch an den mit ihm befreundeten Dichter Otto Julius Bierbaum: »[…] habe gestern Ihr entzückendes Simplicissimus-Gedicht: Freundliche Vision componiert. Hoffentlich wird’s ein Gegenstück zu dem ja schon unglaublich populären: Traum d. d. Dämmerung.«3 Dies bedeutet umgekehrt, dass der vorliegende Band viele »Liedentdeckungen« bereithält – auch wenn es sich um Kompositionen handelt, die seit über hundert Jahren gedruckt vorliegen.

Das in diesem Band versammelte Liederkorpus wirkt musikalisch auffallend heterogen. Die beiden Opera 47 und 48 und hier besonders die beiden Lieder Von den sieben Zechbrüdern op. 47 Nr. 5 und Ich schwebe … op. 48 Nr. 2 zeigen dies exemplarisch. Von den sieben Zechbrüdern ist Strauss’ umfangreichste Liedkomposition und füllt im Erstdruck 20 Seiten (nur das Lied der Frauen op. 68 Nr. 6 kommt dem nahe). Es handelt sich um die Vertonung einer 13-strophigen Ballade von Ludwig Uhland; Strauss komponierte sie deklamatorisch, stark am Text orientiert. Kantable Melodik gibt es wenig, die atmosphärisch kräftig illustrierende Begleitung des Klaviers ist aus floskelhaft figurativen Einheiten gruppiert und treibt das Geschehen vehement voran. Harmonische Reibungen zwischen den Stimmen, auch im Klavierpart, verstärken das herbe Kolorit der Komposition.4 Wie avanciert Strauss hier komponierte, zeigt etwa der Klavierpart in T. 218–221.

Von den sieben Zechbrüdern op. 47 Nr. 5, T. 218–221

Dem Kopisten, der für die Drucklegung des Liedes die Stichvorlage anfertigte, wurde hier offenkundig etwas mulmig zumute, unternahm er doch den Versuch, die Dissonanzen zwischen den Akkorden des oberen und den Achtel-Triolen des unteren Klaviersystems durch das eine oder andere Akzidens in den Triolen zu besänftigen, und vom Kopisten dürften auch zwei Bleistiftmarkierungen mit Fragezeichen an dieser Stelle im Autograph stammen, seine Unsicherheit zum Ausdruck bringend. Strauss hielt nichts von diesen harmonischen Glättungsversuchen, denn im Erstdruck5 sind sie wieder eliminiert; im Autograph sind die Dissonanzen durch mit roter Tinte ergänzte Akzidentien sogar ausdrücklich bestätigt.

Gänzlich anderen Charakter hat das dreieinhalb Monate später komponierte Lied Ich schwebe … op. 48 Nr. 2. Der mit Zart bewegt überschriebene Dreivierteltakt tanzt federleicht, die Melodik der Singstimme ist gleich zu Beginn (»Ich schwebe wie auf Engelsschwingen«) anmutig, und das Klavier spielt dazu eine separate, in hübschen Sextparallelen geführte Instrumentalmelodie. Das wirkt sehr lieblich – und doch verhindert Strauss durch einige geschickte Kunstgriffe, etwa kleine rhythmische Verschiebungen (T. 25–26) oder die gesteigerte Expressivität ab T. 52, dass die Musik kitschig würde.

In solchen Liedern wird nachvollziehbar, dass die Liedkomposition für Strauss einerseits »Erholung und Zwischenarbeit während der Komposition oder Instrumentation seiner Hauptwerke« bedeutete, andererseits auch als »Experiment und Vorbereitung« der stilistischen Fortentwicklung diente, wie sein Biograph Willi Schuh festgehalten hat; »vor allem harmonische Wagnisse« habe Strauss »gern zuerst in Liedern erprobt«.6 Ich schwebe … und Von den sieben Zechbrüdern dürften für diese beiden Aspekte stehen – und die beiden Lieder zeigen auch, wie Strauss eng nebeneinander Modernes erproben und eine traditionellere Tonsprache beibehalten konnte.

Geht es um Richard Strauss als Komponisten von stilistisch progressiven Liedern, wird häufig Opus 56 (1903–1906) genannt.7 Hartmut Krones spricht hinsichtlich der Lieder Blindenklage op. 56 Nr. 2 und Im Spätboot op. 56 Nr. 3 – hierbei handelt es sich in der originalen Tonlage um ein Basslied, was bei Strauss selten ist – von »ungemein dramatisch durchpulsten und dissonant geschärften« Kompositionen,8 fokussiert sich in seiner Analyse dann aber auf das Lied Nr. 5, die von einem rauschenden Klavierpart bestimmte Frühlingsfeier. Krones hebt die von Strauss angewandte Technik heraus, durch Alterationen Leittöne zu erzeugen, die in tonal entfernte Harmonien führen, und benennt »tonale Bipolaritäten«.9 Krones sieht Strauss damit in der Nähe Gustav Mahlers10 und stellt nach Betrachtungen von Werken von Alexander Zemlinsky (Vorspiel), Arnold Schönberg (Da meine Lippen reglos sind und brennen) und Anton Webern (Dies ist ein Lied für dich allein) fest, dass Strauss »zumindest partiell nicht weit von dieser Avanciertheit entfernt« sei.11 Birgit Lodes konzentriert sich in einer Analyse auf das Lied Blindenklage op. 56 Nr. 2, dem schon Willi Schuh attestierte, es gehöre zu Strauss’ »stärksten Liedern«.12 Sie betont zunächst den »exzessiv gewichtenden Textvortrag, den Strauss bereits in einigen früheren Liedern und in Salome erprobt hatte« und »in Elektra perfektionieren« sollte.13 Vor allem aber sieht sie den musikalischen Charakter dadurch bestimmt, dass Strauss die beiden inhaltlichen Sphären des Textes (die Welt des Blinden und die des Lichts) harmonisch voneinander trennt.14 Lodes bringt dabei das um die Jahrhundertwende verbreitete synonyme Begriffsverständnis der »Harmonik« einer Komposition als »Farbe« ins Spiel und kontextualisiert das Lied in einem intermedialen Spannungsfeld von Dichtung, Musik und Malerei:15 Strauss’ Blindenklage als auskomponiertes, wiederum bipolares Spiel der Farbkontraste.16 Lodes resümiert: »Über die Metapher der Farbe lässt sich mithin ein Verständnis für Strauss’ moderne, ›farbenreiche‹ Harmonik jenseits von dem Begriff der ›Atonalität‹ wecken.«17

Die Sechs Lieder op. 56 erschienen nach einer mehrjährigen Pause in der Liedpublikation und entstanden, abgesehen von Nr. 1, im zeitlichen Umfeld der Opern Salome und Elektra, was ihnen stilistisch durchaus anzumerken ist. Sie kamen auch nicht bei Fürstner, sondern wie die Symphonia domestica beim Verlag Bote & Bock heraus. Damit schlagen sie auf besondere Weise eine Brücke in die Zukunft, bildet ihre Publikation doch die Keimzelle jener juristischen Auseinandersetzung, die Strauss 1918 mit Bote & Bock ausfechten und die sich im satirischen Liederzyklus Krämerspiegel op. 66 niederschlagen sollte.18

Dennoch findet die Unterbrechung der Liedkomposition zwischen op. 49 und 56 in der Forschung weniger Beachtung als die große Pause zwischen 1906 und 1918 und auch als der Einschnitt zwischen 1891 und 1894. Davon abgesehen, dass der zeitliche Abstand zu den Liedern von 1900/1901 durch die vorgezogene Entstehung von op. 56 Nr. 1 in der Tat stark verkürzt ist, hängt dies womöglich damit zusammen, dass die Zäsur um 1891 eine merkliche Umorientierung von Strauss bei der Auswahl der Gesangstexte markierte (hin zu zeitgenössischen Dichtern), wohingegen es eine solche Umorientierung vor op. 56 nicht gab – dazu später mehr.19 Außerdem sind die Lieder op. 56 in einer bestimmten Hinsicht als das Ende einer Epoche in Strauss’ Liedschaffen zu verstehen und insofern von den vorangegangenen Liedern nicht zu lösen: Es sind die letzten seiner Lieder, mit denen Strauss’ Ehefrau Pauline Strauss-de Ahna in Konzerten auftrat. Pauline hatte Richard Strauss lange Zeit als die ideale Interpretin seiner Lieder gegolten; als solche hatte sie bei der Komposition oft Pate gestanden.20 Nun stand das Ende ihrer Gesangslaufbahn bevor, und ab den Liedern von 1918 hatte Strauss andere Sängerinnen- und Sängertypen im Sinn, wie die mitunter deutlich virtuoser ausfallenden Gesangspartien zeigen.

Eintragungen in den Handexemplaren von Pauline Strauss

Wie in den Liederbänden RSW II/2 und II/3 dargelegt, begleitete Richard Strauss seine Frau bei seinen Liedern häufig selbst am Klavier (bzw. dirigierte Lied-Orchestrierungen und Orchestergesänge). Diese Interpretationen schlugen sich in Pauline Strauss’ Lieder-Handexemplaren in zahlreichen Eintragungen nieder. Sie umfassen Anmerkungen im Sinne einer gesangstechnischen Hilfe (z. B. Atemzeichen), aber auch Modifikationen des Notentextes: versetzte Dynamikangaben, ergänzte Vortragsbezeichnungen, gelegentliche Fehlerkorrekturen sowie in besonderen Fällen sogar geänderte Gesangslinien (siehe Faksimiles). Da diese Eintragungen oft vom Komponisten persönlich stammen oder jedenfalls von ihm als Klavierbegleiter mitgetragen wurden, werden sie in der kritischen Ausgabe exakt dokumentiert – wenngleich im Regelfall nicht so interpretiert, als lägen Eingriffe in die gültige Werkgestalt vor. Natürlich sind zahlreiche Vermerke speziell auf Pauline Strauss und ihre Stimme zugeschnitten. Doch gerade weil Strauss in seinen Liedern die Vortragsweise der Singstimme häufig weniger ausdifferenziert bezeichnete als den Klavierpart, können manche dieser Eintragungen auch heutigen Interpretinnen und Interpreten als Anregung dienen. In signifikanten Fällen werden sie deshalb in Spitzklammern in den neuen Notentext aufgenommen.

In den Zeitraum, den der vorliegende Band abdeckt, fällt ein zentrales Ereignis der ehelich-künstlerischen Zusammenarbeit: Pauline und Richard unternahmen von Februar bis April 1904 eine ausgedehnte Konzertreise in die USA. Vor allem in den großen Städten des Ostens, aber auch ins Landesinnere vordringend – teilweise reiste Richard Strauss ohne Pauline –, wurden fast 40 Auftritte absolviert: große Konzerte mit Orchestergesängen und Tondichtungen aus Strauss’ eigener Feder oder mit der Liebesszene aus Feuersnot, aber auch etwa mit Liszts Faust-Symphonie oder Beethovens Siebter Symphonie, Rezitale mit Klavierliedern sowie Kammerkonzerte, insbesondere mit Strauss’ Cellosonate op. 6 (mit ihm selbst als Pianist). Am 21. März 1904 fand in der New Yorker Carnegie Hall unter Strauss’ Leitung die Uraufführung der Symphonia domestica statt. Die Kritiken zu den Konzerten zeigen – bei allen Unterschieden in der Wahrnehmung – eine vorherrschende Tendenz in der Beurteilung: dass Pauline Strauss’ Stärke weniger in stimmlich perfektem Gesang als in der Interpretation der Liedaussage lag und dass Richard Strauss scheinbar eher gelangweilt und doch souverän musizierte.21 So urteilte die New York Times am 2. März 1904 über das Lieder-Rezital in der Carnegie Hall vom Vortag:

»Mme. Strauss-de Ahna sings these songs evidently with the closest sympathy and clearest understanding, as it is natural that she should. Her aim is evidently to arrive at a precise and subtly differentiated expression of the spirit of each, to embody the character, the mood, which belong to them – to interpret them with freedom and spontaneity, and especially to show forth the lyric quality that belongs to almost every one that she selected. Her voice, indeed, necessarily limits her to such. It is light and fragile and of not much potency of color or depth of expression […].«22

Im Boston Daily Globe war am 29. März 1904 zu lesen:

»Although the singer’s vocalism is not entirely satisfactory there is a satisfaction in hearing ›one in authority‹ interpret her husband’s works, for she never forgets the character of the music and she sings them with a thorough understanding and the closest sympathy with her husband’s ideas.«23

Eine eindrucksvoll analytische Kritik über Strauss’ Klavierspiel erschien am 17. April 1904 in der Chicago Daily Tribune:

»Dr. Strauss’ piano playing was interesting. He accomplished nothing technically which numerous other good pianists could not accomplish, but as in his orchestral directing there was the authority and the definiteness of purpose which are possible really only to the creator of the piece performed, and it was this clearing up of all the details in the accompaniments to the songs which lent his part of the evening’s work exceptional interest. The sharp dynamic contrasts, the raising into prominence of subsidiary themes and motives, the careful balancing of all the different parts of the composition – these made all his musical and poetic intents plain to the hearer.«24

Unter den für die Tournee ausgewählten Werken findet man häufig die damals schon populären und bewährten Lieder aus früheren Jahren. Doch auch einige neuere Lieder hatten es ins Repertoire des Ehepaares Strauss geschafft: etwa Freundliche Vision, Ich schwebe …, Winterweihe und Ein Obdach gegen Sturm und Regen.25 Dass beim Rezital am 1. März 1904 in New York sogar Gefunden op. 56 Nr. 1 zur Aufführung kam, ist bemerkenswert: Das Lied war zum Zeitpunkt des Konzerts noch nicht gedruckt und wurde von Pauline und Richard Strauss aus einem Manuskript dargeboten, wenngleich sich in den erhaltenen Autographen keine interpretatorischen Eintragungsspuren finden. In der zitierten Rezension aus der New York Times vom 2. März 1904 heißt es zu den tags zuvor dargebotenen Liedern: »Among the best was one still in manuscript, ›Gefunden‹, to verses by Goethe.«

Zu zwei anderen Klavierliedern aus op. 56 existieren hingegen Druckexemplare mit den typischen interpretatorischen Eintragungen: zu Mit deinen blauen Augen op. 56 Nr. 4 und Die heiligen drei Könige aus Morgenland op. 56 Nr. 6.26 Die Anmerkungen in letzterem sind zahlreich und substantiell, bis hin zu Modifikationen der Singstimme von der Hand des Komponisten. Dabei hat Pauline Strauss das Lied zunächst offenbar nicht als Klavierlied, sondern mit Orchester aufgeführt – der Orchesterpart basierte noch auf dem Manuskript.27 Damit hat es folgende Bewandtnis: In Strauss’ Schaffen als Komponist und auch als aufführender Musiker greifen Klavierlieder, genuine Orchestergesänge und nachträglich orchestrierte Klavierlieder eng ineinander. Strauss verfertigte eine ganze Reihe von Orchestrierungen seiner Klavierlieder, zeitnah oder auch Jahre oder gar Jahrzehnte später. Bei op. 56 Nr. 6 scheint der Schaffensprozess zeitlich besonders dicht abgelaufen zu sein.28 Barbara Petersen hat unter Einbeziehung der Skizzen festgehalten, dass das Lied von Beginn an für Singstimme und Orchester konzipiert war, jedoch zunächst als Klavierlied publiziert wurde29 – wobei zu ergänzen ist, dass auf dem dazugehörigen Erstdruck-Titelblatt von op. 56 bereits auf das Lied »mit Orchester-Begleitung« hingewiesen wird, im Gegensatz zu den Klavierliedern jedoch noch ohne Preisangaben für Orchesterpartitur und Stimmen. Christian Leitmeir schreibt treffend, dieses Lied sei »ein gutes Beispiel dafür, welch starker osmotischer Druck um die Jahrhundertwende vom Klavierlied hin zum Orchesterlied bestand«, und sieht Strauss hier »geradezu schmunzeln, als ob ihm das allzu plastische Nachzeichnen vom Schreien des Ochsen (und des nicht genannten Esels!) und des Kindes erst recht Freude bereitet hätte«.30 Elisabeth Schmierer bescheinigt der Heinrich-Heine-Vertonung eine »ironisierende Brechung der biblischen Geschichte in volkstümlichem Ton«.31 Bemerkenswert ist, dass das Klavierlied ein Orchesterrelikt enthält: In T. 80–83 und 89–90 des ausgedehnten Klavier-Nachspiels ist in einem jeweils zusätzlich eingefügten Notensystem eine Trompetenfanfare notiert – ein Kuriosum, das in der vorliegenden Edition natürlich wiedergegeben wird. Man mag hier an Strauss’ Jugendlied Alphorn TrV 64 denken, doch ist dort das verwendete Es-Horn nicht als punktueller Klangeffekt eingesetzt, sondern durchgehend beteiligt.

Textauswahl und Entstehungsprozess

Bei Strauss’ Auswahl der Textvorlagen setzte sich in den Liedern op. 46 bis op. 56 eine schon zuvor angedeutete Tendenz fort: Hatte sich Strauss ab 1894 – außer bei Himmelsboten zu Liebchens Himmelbett op. 32 Nr. 5 und den Vier Liedern op. 36 – auf zeitgenössische Lyrik fokussiert, mit den Dichtern teilweise sogar in regem, sich gegenseitig befruchtendem Austausch gestanden und manche Texte im Manuskript zur Vertonung erhalten,32 so traten ab den bezeichnenderweise als Drei Gesänge älterer deutscher Dichter betitelten Liedern op. 43 von 1899, wie einst bei den Jugendliedern, wieder verstärkt Dichter früherer Epochen hinzu: Die Fünf Gedichte op. 46 sind allesamt Friedrich-Rückert-Vertonungen, alle Fünf Lieder op. 47 haben Texte von Ludwig Uhland zur Grundlage.33 Die Acht Lieder op. 49 und die Sechs Lieder op. 56 sind von einem Nebeneinander von alten und neuen Textvorlagen geprägt; hier ist Das Lied des Steinklopfers op. 49 Nr. 4 nach einem Text von Karl Henckell insofern hervorzuheben, als es zusammen mit Der Arbeitsmann op. 39 Nr. 3 nach einem Text von Richard Dehmel den seltenen Fall markiert, dass Strauss sozialkritische Lyrik vertonte.34 Einzig die Fünf Lieder op. 48 konzentrieren sich mit Freundliche Vision nach Otto Julius Bierbaum und den vier Henckell-Vertonungen ganz auf die literarische Moderne.

Der Kontakt des Liederkomponisten Strauss mit den zeitgenössischen Literaten war also nicht abgerissen; Henckell und er fassten 1901 sogar eine gemeinsame Konzertreise mit »musikalisch-poetischen Abenden« ins Auge.35 Doch Strauss’ neues Faible für ältere Dichtung ist offensichtlich, und betrachtet man speziell die von ihm jahrelang favorisierte Dichter-Riege Henckell, Dehmel, Bierbaum, Detlev v. Liliencron und John Henry Mackay, so fällt auf, dass Strauss sich von ihr nach 1901– abgesehen von der Henckell-Vertonung Blindenklage als Nachzügler – bei seiner Textauswahl ebenso konsequent abwandte, wie er sich ab 1894 von den bis dahin bevorzugten Dichtern Hermann v. Gilm, Adolf Friedrich v. Schack und Felix Dahn abgewandt hatte.36

Die Lektüre von Gedichten war für Strauss Ausgangspunkt seiner Liedkompositionen. Die Gedichtbände, die als Handexemplare in seiner Privatbibliothek stehen, enthalten zahlreiche Eintragungen, die davon zeugen. Häufig strich oder kreuzte Strauss ein Gedicht nur an (manche davon vertonte er, viele auch nicht), in manchen Gedichten aber finden sich erste musikalische Notizen, insbesondere Tonnamen, Harmonien oder auch Tonartensphären, die Strauss mit bestimmten Textpassagen verband – die Charakteristik der Tonarten spielt in Strauss’ Schaffen bekanntlich eine große Rolle. Strauss hat diese Momente der Inspiration gegenüber Friedrich von Hausegger so beschrieben:

»Ich nehme ein Gedichtbuch zur Hand, blättere es oberflächlich durch, es stößt mir ein Gedicht auf, zu dem sich, oft bevor ich es nur ordentlich durchgelesen habe, ein musikalischer Gedanke findet. Ich setze mich hin, in 10 Minuten ist das ganze Lied fertig. Offenbar hatte sich da innerlich Musik angesammelt u. zwar Musik ganz bestimmten Inhaltes – treffe ich nun da, wenn sozusagen das Gefäß bis oben voll ist, auf ein ungefähr im Inhalt respondierendes Gedicht, so ist das opus im Handumdrehen da, findet sich nun – leider sehr oft – das Gedicht nicht, so wird dem Drang zur Production wohl auch Genüge gethan u. ein mir überhaupt componirbar erscheinendes Gedicht in Töne umgesetzt – aber es geht langsam, es wird gekünstelt, die Melodie fließt zäh, die ganze Technik muß herhalten, um etwas vor der gestrengen Selbstkritik bestehen könnendes zu Stande zu bringen – und das Alles, weil im entscheidenden Augenblick nicht die zwei ganz richtigen Feuersteine zusammenschlugen, weil der musikalische Gedanke, der sich – Gott weiß warum – innerlich vorbereitet hatte, nicht das ganz entsprechende poetische Gedankengefäß gefunden hat […].«37

Strauss zeigt damit eine interessante Wechselwirkung von inhaltlicher Inspiration durch ein Gedicht und einem innermusikalischen Ausgangspunkt der Liedkomposition auf; Peter Revers spricht treffend von »auf jeweils individuelle Weise geprägten ›Korrespondenzen‹ zwischen den Gedichten und seinen musikalischen Vorstellungen«.38 Zur Entstehung von Traum durch die Dämmerung op. 29 Nr. 1 äußerte Strauss, hier ein unbekümmertes Komponieren betonend:

»Ich wollte abends mit meiner Frau spazierengehen und hatte schon den Hut in der Hand. Als meine Frau nicht gleich kam, ging ich nochmals kurz in mein Zimmer zurück, auf dem Schreibtisch lag zufällig das Gedicht von Bierbaum aufgeschlagen; ich las es durch und hörte zu dieser gehenden Bewegung auch gleich die Melodie der Singstimme, die sich aus den Worten ergab. Ich notierte das Lied, fragte dann meine Frau, ob sie fertig sei und als sie dies bejahte, gab ich ihr zur Antwort ›ich auch, wir können gehen‹.«39

Der Komponist und Musikkritiker Max Marschalk berichtet von einem Besuch bei Strauss, bei dem dieser zu ihm sagte: »Gerade, als ich Sie jetzt erwartete, nahm ich den Arnim zur Hand und las das kleine Gedicht ›Der Stern‹, und im Lesen ergab sich mir auch die musikalische Inspiration. Ich habe das Lied sofort niedergeschrieben, und wenn Sie wollen, spiele ich es Ihnen vor.«40

Diese Aussagen werden häufig zitiert, um zu belegen, wie leicht Strauss die Lieder kompositorisch von der Hand gingen. Stephan Mösch warnt jedoch vor dem »Klischee« der »leicht entzündbare[n] Phantasie« und des »virtuosen Handwerks« und betont, dass Strauss selbst solche Spontaneität als »Seltenheit« ansah41 – das wird auch in Strauss’ oben zitierten Darlegungen an Hausegger deutlich. Nicht übersehen werden darf nämlich, dass zu den Liedern zahlreiche Kompositionsskizzen existieren.42 Zwar werden die Skizzen bei der Kritischen Ausgabe der Werke von Richard Strauss editorisch nicht unmittelbar miteinbezogen, für das Verständnis der Werkgenese sind die Skizzenbücher und Einzelskizzen aber unerlässlich. Ein eindrucksvolles Beispiel ist ein an der Stanford University aufbewahrtes Skizzenblatt zum Lied Waldseligkeit op. 49 Nr. 1 (siehe Faksimile): Das Lied ist hier zunächst in einer von der endgültigen Werkgestalt stark abweichenden Form skizziert. Die Melodie ist deutlich bewegter und auch rhythmisch agiler; gegen Ende wendet Strauss die Grundtonart von Ges-Dur enharmonisch nach Fis-Dur. Noch auf derselben Seite aber setzt Strauss neu an; nun präsentiert sich die Melodik sehr nahe an der letztlich ausgeführten Grundgestalt; die Grundtonart Ges-Dur bleibt bis zum Ende erhalten. Auch die auf demselben Doppelblatt enthaltene Skizze von Sie wissen’s nicht op. 49 Nr. 5 ist interessant: Das Lied ist hier schon sehr detailliert ausgeführt und zeigt sich bis hin zu rhythmischen Feinheiten des Klavierparts und zum (ursprünglich sogar länger entworfenen) Klavier-Nachspiel nahe an der fertigen Komposition. Nicht nur gibt es also auch bei den Liedern Skizzen, sie beschränken sich zudem keineswegs auf das bloße Festhalten erster Ideen und für das jeweilige Lied charakteristischer Elemente. Vielmehr erweisen sie sich als echte Arbeitsmanuskripte, in denen die Kompositionen aus- oder gar umgearbeitet wurden. Zudem gibt es natürlich Fälle, in denen ein Lied skizziert wurde oder im Skizzenstadium sogar weit fortschritt, dann aber nicht zu Ende geführt wurde.43

Der Graf von Rom

Wie schon in früheren Jahren komponierte Strauss auch Lieder, die er nicht in eine der mit Opuszahlen versehenen Publikationen aufnahm; in seinen späten Schaffensjahren sollte das sogar der Regelfall werden. Für den in diesem Band betrachteten Zeitraum gilt dies für die Zwei Lieder aus »Der Richter von Zalamea« TrV 211, die jedoch der Schauspielmusik zuzuordnen sind.44 Bei dem im Trenner-Werkverzeichnis unter der Nummer TrV 226 aufgeführten Lied Herbstabend (Komposition laut Trenner »vor 1910«) handelt es sich in Wahrheit um das Jugendlied dieses Titels, zu dem auch die bei Trenner aufgeführten Werkcharakteristika (»Adagio« und »es-Moll«) passen. Die Kaiserhymne TrV 218b von 1915 ist sicherlich nicht der Gattung Lied zuzurechnen.

Anders verhält es sich mit der im Kontext der Lieder ungewöhnlichen – da textlos notierten – Komposition Der Graf von Rom TrV 218. Von Strauss nicht publiziert, liegt sie in zwei unterschiedlichen, jeweils eine Seite einnehmenden autographen Fassungen vor, die zweite Fassung »kürzer und von geringerem Stimmumfang«. Der in der ersten Fassung notierte Stimmenvorsatz, »Singst.« – Strauss’ übliche Abkürzung für »(eine) Singstimme« – und »Begleitung«, deutet auf die Gattung Lied mit Klavierbegleitung hin;45 somit wird das Stück im Rahmen dieses Bandes ediert. Auch Erich Mueller v. Asow ordnet die Komposition in seinem Strauss-Werkverzeichnis als Lied ein und schreibt zur textlosen Niederschrift: »Das Scherzliedchen hatte vielleicht einen improvisierten Text, vielleicht wurde es auch nur gesummt.«46 Die Fassungsunterschiede umreißt Asow in knappen Worten wie folgt: »Die vier Anfangstakte stimmen bei beiden Fassungen überein. Erst mit dem vierten Viertel des vierten Taktes beginnt die II. Fassung von der ersten abzuweichen. Der Stimmumfang ist bei Fassung I: b–as", bei Fassung II: b–g".«47 Die erste Fassung umfasst dabei 21, die zweite 17 Takte. Zum Entstehungshintergrund existiert ein handschriftlicher Vermerk von Strauss’ Schwiegertochter Alice Strauss in der Manuskriptquelle: »Geschenk für das Richard Strauss Archiv | von | Prof. Julius Kapp. – November 1960 | Komposition anlässlich der Rückkehr des Intendant [sic] | Graf Hülsen aus Rom. In Berliner Opernhaus aufgefunden.«

Glaubt man der Notiz, läge der Schluss nahe, dass es sich um eine humorvolle Gelegenheitskomposition handelt: Der Vorgesetzte des Berliner Hofkapellmeisters Strauss, der adelige preußische Generalintendant Georg von Hülsen, kehrt aus Rom zurück und erhält zu diesem Anlass eine kleine, ihm auf den Leib geschriebene Komposition – Hülsen als der personifizierte »Graf von Rom«.48 Zu diesem Charakter einer musikalischen Zueignung würde passen, dass Strauss beide Fassungen nicht nur mit der Datierung »Berlin, 17. Januar 1906« versehen, sondern auch mit seiner Unterschrift signiert hat. (Ein textloser Vortrag, wie ihn Asow als Möglichkeit in Betracht zieht, wäre in diesem Szenario freilich unwahrscheinlich: Ein »gesummter« Willkommensgruß erschiene merkwürdig, und auch als Vokalise – wenn man diesen Begriff hier bemühen will – gäbe Der Graf von Rom mit seiner choralartigen Melodik eine traurige Gestalt ab.) Ein solcher Entstehungskontext wäre denkbar. Über Alice Strauss’ Vermerk hinaus sind die Umstände aber nicht belegt.

Durch einen neuen Quellenfund eröffnen sich weitergehende Einblicke in den Werkkontext: Im Landesarchiv Berlin findet sich im Bestand Königliche Schauspiele/Preußische Staatstheater ein Textblatt mit folgendem Titel: »HYMNE | in Anlehnung an eine Melodie aus dem 13. Jahrhundert | ›Der Graf von Rom‹ | komponiert von Dr. Richard Strauss | Text im Volkston unterlegt von Georg von Hülsen.« Es läge nahe, hierin das verschollene Textblatt zu Der Graf von Rom zu vermuten. Der Versuch, den Text der Musik tatsächlich notenbezogen zu »unterlegen«, führt in beiden Fassungen jedoch zu keiner überzeugenden Silbenverteilung. Gehören Text und Lied, so eindeutig der Untertitel des Textblattes auch darauf hinzuweisen scheint, also überhaupt zusammen? Zwei weitere Umstände lassen daran zweifeln: Der Text stammt von Hülsen selbst – zu einem Lied für Hülsen passt das nicht. Zudem stehen die Verse in deutlichem Widerspruch zu jeglichem scherzhaften Werkcharakter, wie ihn Asow vermutet. Sie lauten:

»Es rauscht im Orgelklang / Ein heilig ernster Sang – / Lenzsturm bricht über’s Meer / Durch die deutschen Eichen her, / Der weckt aus Schnee und Eis / Ein knospend Myrtenreis, / Das in silbernen Blüten springt / Und um Fürst und Volk sich schlingt!

Durch uns’re Herzen weht / Inbrünstiges Gebet – / Herr, breite Du Deine Hand / Ueber Krone und Vaterland! / Und wenn Du Herr gewollt, / Treibt einst das Reis in Gold – / Und grüsst wie Sonnenschein / In das Herz des Volkes hinein! –«

Ein Telegramm von Hülsen an Richard Strauss vom 5. Februar 1906, 19 Tage nach der Datierung des Liedes, deutet auf die wahrscheinlichen Zusammenhänge hin:

»ich freue mich von herzen, lieber herr doctor, ihnen mitteilen zu koennen, dass auf meinen bericht vom 2. d. mts. seine majestaet der kaiser und koenig die widmung ihrer maersche gerne entgegengenommen haben. – ueber die hymne muendlich naeheres, – die zweite fassung steht mir glaube ich, fuer diesen zweck am naechsten herzliche gruesze: = huelsen. +.«49

In der Tat listet Franz Trenners chronologisches Strauss-Werkverzeichnis gleich nach Der Graf von Rom TrV 218 unter der Nummer TrV 218a eine (Volks-)Hymne für vierstimmigen Chor auf, deren Melodie dem Lied durchaus ähnlich ist. Das wie das Berliner Textblatt mit »Hymne« betitelte und wie beim Lied signierte sowie textlos notierte Autograph, datiert auf »Charlottenburg, 17. Februar 1906« (zwölf Tage nach dem zitierten Telegramm), steht als publiziertes Faksimile zur Verfügung (siehe Faksimile). Versucht man, den neu aufgefundenen Text von Hülsen hier zu unterlegen, fällt das Ergebnis besser aus als bei den Liedfassungen. Man kann somit das Textblatt mit hoher Wahrscheinlichkeit zwar nicht dem Lied Der Graf von Rom, wohl aber der (Volks-)Hymne zuordnen.50

Damit ist folgendes Szenario anzunehmen: Strauss und Hülsen schufen Ende Januar und Anfang Februar 1906 unter Verwendung des Liedes Der Graf von Rom, insbesondere dessen zweiter Fassung, eine patriotische Hymne. Anhand von Skizzen lässt sich das sogar in etwa nachvollziehen: Im Skizzenbuch Tr. 15 ist auf S. 49 unter der Überschrift »Volkshymne« ein mehrstimmiger Satz notiert, der fast exakt der ersten Fassung von Der Graf von Rom entspricht. Auf der nächsten Seite folgt eine ähnliche, jedoch einstimmige Niederschrift, hinsichtlich der Länge eher an die zweite Fassung erinnernd, melodisch mit eigenen Varianten versehen. Nach anderweitigen Skizzen enthält S. 54 schließlich eine Skizze, die, nun auch in C-Dur, die Melodie des Hymnen-Autographs vom 17. Februar aufweist.

Dass diese Hymne nach einem schwülstigen Zeitdokument der wilhelminischen Epoche klingt, ist sicherlich kalkuliert: Der traditionelle Musikgeschmack Kaiser Wilhelms II. und die Kompositionen des Berliner Hofkapellmeisters Richard Strauss waren weitgehend unvereinbar; insbesondere nahm der Kaiser Strauss die am 9. Dezember 1905 in Dresden uraufgeführte und von ihm als frivol empfundene Oper Salome übel. Hülsen, der sowohl ein Förderer von Strauss als auch ein Jugendfreund des Kaisers war, übte sich in der Kunst des Ausgleichs und der Besänftigung.51 Gleichzeitig befand sich Strauss 1905/06 mit Hülsen in intensiven Verhandlungen über ausgedehnte, jedoch bezahlte dienstliche Freistellungszeiten, die Strauss für sein kompositorisches Fortkommen beanspruchte, während Hülsen seinen Kapellmeister gerne als künstlerischen Leiter bei Proben und Aufführungen am Dirigentenpult der Berliner Oper sah. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, sowohl das Lied Der Graf von Rom als auch die daraus erstellte (Volks-)Hymne – neben den Wilhelm II. gewidmeten Marsch-Kompositionen52 – als Teil einer Strauss’schen Charmeoffensive gegenüber dem Kaiser und auch Hülsen anzusehen. Und sie war erfolgreich: Am 25. Februar 1906, einen Tag nach der Uraufführung der Hymne bei einer Galavorstellung im Opernhaus Charlottenburg, telegrafierte Hülsen an Strauss: »hymne hat seiner majestaet – sehr – gefallen; es ging alles famos.«53

Doch liefert das Textblatt der Hymne auch einen Anhaltspunkt, um der Musik der einfachen, deklamatorischen Komposition des Liedes Der Graf von Rom auf die Spur zu kommen: Das Textblatt verweist als Vorbild auf eine »Melodie aus dem 13. Jahrhundert«. Tatsächlich existiert seit dem späten 15. Jahrhundert ein Lied Der Graf von Rom, das eine vereinfachte Variante des Meisterlieds Graf Alexander von Mainz ist.54 Der Volkskundler und Mediävist John Meier hält zudem fest: »Die den Einzelfassungen zugrunde liegende Kernmelodie geht ohne Zweifel in spielmännische Zeit zurück und mag, früher als der Text, im 14. Jahrhundert entstanden sein.«55 Der Zuweisung der Melodie zum 13. Jahrhundert auf Hülsens Textblatt kommt Meiers Vermutung damit zumindest nahe.56

Das Lied erfreute sich über mehrere Jahrhunderte großer Popularität.57 Eine Melodie ist in den frühen Quellen und auch in den meisten Publikationen aus dem 19. Jahrhundert nicht enthalten – die Rede ist von Liedersammlungen wie Des Knaben Wunderhorn, Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, herausgegeben von Ludwig Uhland, oder dem von Joseph Bergmann 1845 neu herausgegebenen Ambraser Liederbuch vom Jahr 1582.58 Offenkundig führten jedoch Hinweise auf die Melodie, etwa »Wie man das Lied von | Bruder Veyten singt.«, zu schriftlich fixierten Rekonstruktionsversuchen.59 Jedenfalls finden sich im 19. Jahrhundert auch Liedersammlungen, in denen zu Der Graf von Rom eine Melodie notiert ist; hier sind etwa Franz M. Böhmes Altdeutsches Liederbuch und Rochus v. Liliencrons Deutsches Leben. Volkslied um 1530 zu nennen.60 Letztere Sammlung findet sich bis heute als Handexemplar in Strauss’ Bibliothek und ist, wenngleich nicht bei Der Graf von Rom, im Sinne musikalischer Frühskizzen stark annotiert: Strauss war 1905/06 an dem ebenfalls von Liliencron betreuten mehrbändigen Volksliederbuch für Männerchor61 beteiligt und steuerte hierfür sechs Volksliedbearbeitungen für vierstimmigen Männerchor a cappella (TrV 216) bei; Strauss’ Eintragungen in Liliencrons früherer Sammlung betreffen diese Lieder. Das Volksliederbuch für Männerchor wurde laut Untertitel »auf Veranlassung seiner Majestät des deutschen Kaisers Wilhelm II.« herausgegeben, und Strauss versäumte nicht, schon am 24. August 1905 gegenüber Hülsen taktisch geschickt zu erwähnen:

»Es dürfte den Kaiser auch interessieren, daß ich mich auch an der Herausgabe der populären Volksliedersammlung beteilige u. demnächst einige mir von der Commission übertragene Bearbeitungen alter Gesänge vornehmen werde, sobald ich mit den letzten Arbeiten an Salome, die mich noch beschäftigen, Drucklegung, Correkturen – fertig bin.«62

Strauss beschäftigte sich zu dieser Zeit also recht intensiv mit dem Volkslied – und das trug auch bei Der Graf von Rom Früchte. Denn tatsächlich sind beim Vergleich der in der früheren Liliencron-Sammlung abgedruckten Melodie mit dem Strauss’schen Der Graf von Rom, insbesondere seiner ersten Fassung, nicht nur grobe Gemeinsamkeiten wie der grundsätzliche deklamatorische Charakter auf Viertelnoten-Basis zu erkennen, sondern auch konkrete Übereinstimmungen. Die melodisch mit dem angegebenen Vorbild bis auf die Tonart deckungsgleichen Takte 1 und 13–14 (auch 14–16) aus Strauss’ Lied sind dabei die auffälligsten; in der Melodie bei Liliencron entsprechen sie den Takten 2 – der Auftakt wurde dort mit vorangestellten Pausen zum vollständigen Takt 1 aufgefüllt – und 14–15 (bei Strauss’ kürzerer Liedfassung lauten die Takte 13–16 anders und lassen sich nicht in den Vergleich miteinbeziehen).63

Der Graf von Rom TrV 218, bis T. 2 und T. 13–16 (oben), sowie Der Graf von Rom, T. 1–2 und T. 14–15, in: Deutsches Leben. Volkslied um 1530, hrsg. von Rochus v. Liliencron, Berlin und Stuttgart [1884], S. 109 f. (unten)

Strauss’ Der Graf von Rom ist also keine genuine Neuschöpfung, sondern greift erwiesenermaßen auf ein altes Vorbild zurück – was einem musikalisch konservativen Geist wie dem Kaiser sympathisch zu sein versprach. Insofern wäre sogar denkbar, dass Strauss bei seiner Beschäftigung mit dem Lied ohnehin auf die (Volks-)Hymne zielte, womöglich von Beginn an gemeinsam mit Hülsen. Die Überschrift »Volkshymne« im Skizzenbuch ließe sich gut in diesem Sinne lesen; es ließe sich damit auch erklären, weshalb das Lied textlos notiert wurde. Adressat eines solchen Projekts wäre dann einzig der Kaiser und Strauss’ Der Graf von Rom gar nicht für Hülsen gedacht, sondern ein bloßer Zwischenschritt vom historischen Lied hin zur (Volks-)Hymne gewesen – womit Alice Strauss’ Vermerk zum Entstehungskontext als reine Spekulation zu werten wäre. Schwerer erklärbar wäre in diesem Szenario jedoch, weshalb von beiden Fassungen zu Der Graf von Rom ein vollständiges, datiertes und signiertes Autograph mit Reinschriftcharakter existiert, das keinerlei Vorbereitungsspuren der Hymne aufweist; auch bestehen deutliche melodische Unterschiede beider Fassungen zur Hymne. Das spricht letztlich für einen eigenständigen Werkcharakter der kleinen liedhaften Komposition – und sei es im Sinne einer Auskopplung.

Für künftige Recherchen und Untersuchungen bieten sich durchaus noch Ansatzpunkte, insbesondere ist noch nicht geklärt, ob ein separater Liedtext existierte. Durch den vorliegenden Band ist der Forschungsstand zu Strauss’ Der Graf von Rom aber fürs Erste auf eine neue Basis gestellt.


Mein Dank gilt allen im Kritischen Bericht genannten Archiven und Bibliotheken für die Bereitstellung des für die Edition herangezogenen Quellenmaterials. Des Weiteren danke ich für die Unterstützung der Arbeit am vorliegenden Band: der Familie Strauss, außerdem Adrian Baianu, Wolfgang Bankl, Sebastian Bolz, Edita Gruberova, Friedrich Haider, Andrea Harrandt, Tobias Hermanutz, Dietrich Kröncke, Jürgen May, Franziska Mücke, Christiane Mühlegger-Henhapel, Reinhold Schlötterer, Giselher Schubert, Dominik Šedivý, Kerstin Stremmel und Annette Thomas. Julian Riem sei herzlich für das Probespielen des neuedierten Notentextes gedankt.


München, Juli 2020

Andreas Pernpeintner

 1

Wie die Lieder aus den Bänden RSW II/2 und II/3 wären auch die Lieder des vorliegenden Bandes sicherlich Teil der vom Kapellmeister Kurt Soldan zusammen mit Richard Strauss in den 1940er-Jahren vorbereiteten Gesamtausgabe der Strauss-Lieder gewesen; anders als zu den Liedern aus früheren und zu jenen aus späteren Jahren sind für die Lieder des Bandes RSW II/4 jedoch keine Quellen verfügbar, die dieses historische Gesamtausgabenprojekt editorisch fruchtbar machen könnten. Zum historischen Kontext vgl. Einleitung, in: RSW II/2, S. XVIII f., sowie Andreas Pernpeintner: Der späte Strauss und seine frühen Lieder, in: Richard Strauss – Der Komponist und sein Werk. Überlieferung, Interpretation, Rezeption, Bericht über das internationale Symposium zum 150. Geburtstag, hrsg. von Sebastian Bolz u. a., München 2017 (= Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 77), S. 425–437.

 2

Anders als in früheren Jahren dienten in der Regel nicht mehr Strauss’ Autographe als Stichvorlagen. Stattdessen wurden zu diesem Zweck Kopistenabschriften angefertigt. Zu diesen Stichvorlagen v. f. H. und dem editorischen Umgang mit der separaten Liedtextwiedergabe in den Quellen siehe Quellenbewertung sowie Editionsweise und Gestaltung des Notentextes im Kritischen Bericht. Noch 1938 forderte der Schriftsteller Ernst Ludwig Schellenberg, derartige Gedicht-Seiten in Liederausgaben der Musik stets voranzustellen, freilich in textlich »sorgsam genauer Wiedergabe«, damit die Interpreten »zunächst die Verse selber empfangen und durchsinnen« könnten und in den Programmheften »kein allzu täppischer und läppischer Unfug zu lesen wäre«. Es gelte, »die schuldige Ehrfurcht vor den Versen zu wahren«. Ernst Ludwig Schellenberg: Das Recht des Dichters. Ein Notruf, in: Zeitschrift für Musik 105 (1938), H. 2, S. 193–195, hier S. 194.

 3

Zit. nach: Willi Schuh: Richard Strauss. Jugend und frühe Meisterjahre, Lebenschronik 1864–1898, Zürich 1976, S. 445.

 4

Bemerkenswert ist, dass Strauss’ früher Biograph Max Steinitzer in dem Lied Strauss’ »alte Frische« erkennt, die hier – anders als in Die sieben Siegel op. 46 Nr. 3 und Junggesellenschwur op. 49 Nr. 6 – »in köstlich ursprünglicher Weise« zu erfahren sei. Max Steinitzer: Richard Strauss, erste bis vierte Auflage, Berlin und Leipzig 1911, S. 219.

 5

Zu Strauss’ Korrektur der Erstdrucke siehe Quellenbewertung.

 6

Schuh: Richard Strauss (wie Anm. 3), S. 471. Auch beim Orchestergesang Notturno op. 44 Nr. 1 seien, so Schuh, »Kühnheiten der Salome vorweggenommen«. Ebd., S. 472. Eine aus heutiger Sicht amüsant zu lesende Rezension zur Elektra-Uraufführung im Januar 1909 in der Zeitschrift Die Musik befasst sich mit dem Verhältnis von Strauss’ Liedern und Opern; die seherischen Fähigkeiten des Verfassers erweisen sich dabei als mangelhaft: »›Elektra‹ wird als musikalisches Dokument unserer Zeit einen gewissen Wert beanspruchen dürfen, aber von bleibender Bedeutung wird sie noch weniger sein als ihre Vorgängerin ›Salome‹. Ein genialer Kolorist, ein kundiger Bühnenmann, ein gewaltiger Könner – das ist Richard Strauß, aber als Seelenkünder, als Spender edler, reiner musikalischer Freuden hat er, dem doch auf dem Gebiete der musikalischen Lyrik so manches herrliche Lied gelang, und in dessen symphonischen Dichtungen so viel echte Musik ruht, sich noch mit keinem seiner Bühnenwerke erwiesen.« Die Musik 8 (1908/1909), H. 10, S. 243–246.

 7

Das erste Lied, die Goethe-Vertonung Gefunden, entstand 1903 und ist Strauss’ Ehefrau Pauline gewidmet. Die übrigen fünf, 1906 komponierten Lieder widmete Strauss seiner Mutter, und es herrscht Konsens in der Forschung, dass die Lieder (insbesondere Blindenklage op. 56 Nr. 2 und Mit deinen blauen Augen Nr. 4) auf das Schicksal der Mutter anspielen, die 1905 mit dem Tod von Franz Strauß ihren Ehemann verloren hatte und deren Sehvermögen mehr und mehr eingeschränkt war; auch der biblische Textinhalt der Heinrich-Heine-Vertonung Die heiligen drei Könige aus Morgenland op. 56 Nr. 6 wird mit der Widmung an die Mutter in Verbindung gebracht. Vgl. Birgit Lodes: »Rot« versus »tot«: Blindenklage von Karl Friedrich Henckell (1898) und Richard Strauss (1906), in: Bolz u. a.: Richard Strauss (wie Anm. 1), S. 440–468, hier S. 462–466. Vgl. auch Hartmut Krones: 1906–1908: Das Lied auf dem Weg zur Moderne. Mahler, Strauss, Zemlinsky, Schönberg, Webern, in: Richard-Strauss-Jahrbuch (2017), S. 57–92, hier S. 64.

 8

Krones: 1906–1908 (wie Anm. 7), S. 64.

 9

Ebd., S. 66, 91, vgl. auch S. 68.

 10

Vgl. ebd., S. 68.

 11

Ebd., S. 91.

 12

Schuh: Richard Strauss (wie Anm. 3), S. 462.

 13

Lodes: »Rot« versus »tot« (wie Anm. 7), S. 441.

 14

Vgl. ebd., S. 443.

 15

Vgl. ebd., S. 445–452.

 16

Vgl. ebd., S. 448, 467.

 17

Ebd., S. 467.

 18

Zu dieser Thematik siehe Hartmut Schick: Musikalische Satiren über Kunst und Kommerz: Richard Strauss’ Liederzyklus Krämerspiegel op. 66, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (2012), S. 107–127, sowie Jürgen May: Kunst als Ware und Waffe. Richard Strauss’ Vertragsstreit mit dem Verlag Bote & Bock und das »Liederjahr« 1918, in: Richard-Strauss-Jahrbuch (2018) (im Druck).

 19

Zur gängigen Einteilung des Strauss’schen Liedschaffens – abgesehen von den zu Lebzeiten unveröffentlichten Jugendliedern – in die Zeitabschnitte 1885–1891, 1894–1906 und nach 1918 vgl. Oswald Panagl: Im Spannungsfeld zwischen poetischer Tradition und literarischer Moderne. Das Liedschaffen von Richard Strauss. Wort und Ton – Dichtung und Musik, in: Richard-Strauss-Jahrbuch (2017), S. 29–40, hier S. 30 f.

 20

So hielt Strauss über Pauline fest: »Sie hat auch meine Lieder mit einem Ausdruck u. einer Poesie vorgetragen, wie ich sie nie mehr gehört habe. Morgen, Traum d. d. Dämmerung, Jung Hexenlied hat ihr Niemand auch nur annähernd gleich vollendet nachgesungen.« Zit. nach: Richard Strauss: Späte Aufzeichnungen, hrsg. von Marion Beyer u. a., Mainz u. a. 2016 (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft München 21), S. 252.

 21

An letzteres erinnerte sich später auch Strauss selbst und schrieb am 22. Mai 1947 anknüpfend an die USA-Rezensionen in einem Gedenkblatt, das er seiner Frau an Richard Wagners 134. Geburtstag widmete: »Dort schrieb ein Kritiker: Frau Strauss trug die Lieder ihres Gatten so lebendig vor, daß man glaubte, sie habe dieselben komponiert, während er ziemlich gelangweilt (overbored) am Klavier saß.« Zit. nach: Schuh: Richard Strauss (wie Anm. 3), S. 468.

 22

The New York Times, 02.03.1904. Dasselbe Konzert wurde in der New York Tribune heftig abgekanzelt: »[…] the performances were in most things neither instructive nor commendable. The majority of our singers who venture before the public with Strauss songs have better voices and better artistic skill than Mme. Strauss-de Ahna, and none of our really skilful accompanists would think he was doing his duty if he were to play in the unemotional, matter-of-fact-manner, even indifferent, of the composer.« New York Tribune, 02.03.1904. Unter anderem diese Kritik dürfte Pauline Strauss gemeint haben, als sie am 13. März 1904 an ihre Familie in Deutschland schrieb: »Meine Lieben! Eine scharfe Zeit, täglich singe ich im Conzert, entweder Abends oder Nachmittags, ich habe überall sehr gute, famose Critiken, nur in New-York reißen mich 2 Zeitungen herunter […].« Pauline und Richard Strauss an Familie de Ahna, 13.03.1904, Kopie, D‑Mbs, Handschriften und Alte Drucke, Ana 330, I, Strauss, 527a.

 23

The Boston Daily Globe, 29.03.1904.

 24

W. L. Hubbard: The Playgoer. Theatrical Comment of the Week, in: Chicago Daily Tribune, 17.04.1904.

 25

Mit dem Sänger David Bispham wurden in New York sogar herbere Kompositionen wie Die Ulme zu Hirsau oder Das Lied des Steinklopfers hervorgeholt, und auch das Melodram Enoch Arden kam mit Bispham zur Aufführung. Im Verlauf der Konzertreise standen dem Ehepaar Strauss weitere Sänger zur Seite. Aus dem Bereich der Kammermusik ist auch die Aufführung des Klavierquartetts sowie des zweiten Satzes, Improvisation, aus der Violinsonate op. 18 belegt. Die Informationen zu den USA-Konzerten sind der Trenner-Chronik (Franz Trenner: Richard Strauss. Chronik zu Leben und Werk, hrsg. von Florian Trenner, Wien 2003) sowie diversen Zeitungsrezensionen entnommen: insb. The Boston Daily Globe, 29.03.1904, und Chicago Daily Tribune, 25.04.1904.

 26

Zur Darbietung der Lieder op. 56 durch das Ehepaar Strauss vgl. auch Lodes: »Rot« versus »tot« (wie Anm. 7), S. 463.

 27

In einem Brief an die Direktion des Leipziger Gewandhauses vom 5. Dezember 1906 führt Strauss als Teil seines Programmvorschlags für das Konzert am 10. Januar 1907 an: »c.) die heiligen 3 Könige aus Morgenland | (Manuscript, erste Aufführung)«. Richard Strauss an die Direktion des Gewandhauses, 05.12.1906, D‑LEsa, Gewandhaus zu Lpz., Nr. 1849.

 28

Zwar ist das Autograph des Klavierliedes op. 56 Nr. 6 verschollen, doch lassen die Datierung der Orchesterfassung auf den 7. Oktober 1906 und die Datierung des Klavierlied-Autographs Frühlingsfeier op. 56 Nr. 5 auf den 22. September 1906 auf ein fast gleichzeitiges Komponieren der Klavier- und der Orchesterfassung op. 56 Nr. 6 schließen.

 29

Vgl. Barbara A. Petersen: Ton und Wort, Pfaffenhofen 1986 (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft München 8), S. 92, 156. Vgl. auch Norman Del Mar: Richard Strauss. A Critical Commentary on his Life and Works, Bd. 3, London 1972, S. 354 f.

 30

Christian Thomas Leitmeir: Orchesterlieder, in: Richard Strauss Handbuch, hrsg. von Walter Werbeck, Stuttgart 2014, S. 348–361, hier S. 354.

 31

Elisabeth Schmierer: Klavierlieder, in: Werbeck: Richard Strauss Handbuch (wie Anm. 30), S. 326–347, hier S. 335.

 32

Vgl. Einleitung, in: RSW II/3, S. XVII f.

 33

Bei Einkehr op. 47 Nr. 4 griff Strauss auf einen Text zurück, den er bereits im gleichnamigen Jugendlied TrV 3 vertont hatte – ein Sonderfall in Strauss’ Schaffen. Vgl. auch Del Mar: Richard Strauss (wie Anm. 29), S. 250, 336.

 34

Willi Schuh hält hinsichtlich der beiden Soziallyrik-Vertonungen fest, dass sie wohl mehr aus Strauss’ »Geiste des Widerspruchs gegen herrschende Ansichten als aus tieferer Anteilnahme an sozialen Problemen der Zeit zu sehen« seien. Schuh: Richard Strauss (wie Anm. 3), S. 451.

 35

Karl Henckell an Richard Strauss, 16.03.1901, D‑GPrsa. Die Konzertreise kam wegen mangelnden Zuspruchs nicht zustande. Vgl. Lodes: »Rot« versus »tot« (wie Anm. 7), S. 440.

 36

Vgl. Schuh: Richard Strauss (wie Anm. 3), S. 463. Zu den Phasen in Strauss’ Liedkomposition, was die Textauswahl betrifft, vgl. außerdem Panagl: Im Spannungsfeld (wie Anm. 19), S. 30 f., sowie Reinhold Schlötterer: Die Texte der Lieder von Richard Strauss. Kritische Ausgabe, Pfaffenhofen 1988 (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft München 10), S. 20–22.

 37

Richard Strauss: Schaffen, 1895, zit. nach: Walter Werbeck: Die Tondichtungen von Richard Strauss, Tutzing 1996, S. 537. Bei dem von Werbeck edierten Manuskript handelt es sich um eine schriftliche Stellungnahme von Strauss zu einem Fragebogen Friedrich von Hauseggers.

 38

Peter Revers: »Wenn meine bescheidenen Compositionen dazu beitragen könnten, den Namen der vertonten Poeten zur gerechten Würdigung von Seite des für gewöhnlich nicht lyrische Gedichte lesenden Publikums zu verhelfen, so wäre niemand glücklicher als ich.« Zum Verhältnis von Gedicht und Vertonung im Liedschaffen von Richard Strauss, in: Richard-Strauss-Jahrbuch (2017), S. 101–114, hier S. 102.

 39

Zit. nach: Schuh: Richard Strauss (wie Anm. 3), S. 470.

 40

Zit. nach: ebd.

 41

Stephan Mösch: Metamorphosen der Verbindlichkeit. Zur Interpretationsgeschichte der Klavierlieder von Richard Strauss, in: Richard-Strauss-Jahrbuch (2017), S. 137–148, hier S. 138 f.

 42

Schon Reinhold Schlötterer hat es als den Regelfall beschrieben, dass auch die Lieder zur Ausarbeitung ein Skizzenstadium durchliefen. Vgl. Reinhold Schlötterer: Zum Schaffensprozeß bei Richard Strauss, in: Richard Strauss. Autographen, Porträts, Bühnenbilder, Ausstellung zum 50. Todestag, Ausstellungskatalog, hrsg. von der Bayerischen Staatsbibliothek, München 1999, S. 23–37, hier S. 33 f.

 43

Bemerkenswert ist, dass Strauss bei Waldseligkeit sogar noch im vollständigen Autograph, das als Stichvorlage diente, eine großflächige Umarbeitung vornahm – ein in seinen Liedern seltener Vorgang: Er strich gegen Ende insgesamt zehn Takte und veränderte dadurch die Proportionen deutlich (siehe Quellenbeschreibungen). Zur kompositorischen Entwicklung des Liedes vgl. Charlotte E. Erwin: Richard Strauss Autographs at Stanford University, in: Richard-Strauss-Blätter, Neue Folge 11 (1984), S. 54–65, hier S. 58–62, sowie Timothy Jackson: Compositional Revisions in Strauss’s »Waldseligkeit« and a new Source, in: Richard-Strauss-Blätter, Neue Folge 21 (1989), S. 55–82. Beispiele für im Skizzenstadium verbliebene Vertonungen sind Frühling (»Die Wellen blinken und fließen dahin«) nach Heinrich Heine, im Skizzenbuch Tr. 14 im Umfeld der Heine-Lieder Frühlingsfeier und Die heiligen drei Könige aus Morgenland (dieses auch in Tr. 17) notiert, oder die Goethe-Vertonung Nähe des Geliebten (»Ich denke dein«), wohl 1905/06 entstanden. Strauss hat hier bis in den ersten Vers der dritten Strophe hinein immerhin 27 Takte skizziert. Die Skizze (in Privatbesitz) ist mit einer autographen Zueignung versehen: »Hans F. Schaub mit besten Wünschen | zum 50. Geburtstag | aufrichtig ergeben | DrRichardStrauss. | Garmisch 22. Sept. 1930.« Zu dieser Skizze siehe auch Franz Trenner: Richard Strauss Werkverzeichnis (TrV). Zweite, überarbeitete Auflage, Wien 1999, S. 149 – dort »Nähe der Geliebten«. Auch Tr. 16 enthält Skizzen zu den genannten Liedentwürfen sowie weitere im Skizzenstadium verbliebene Lieder.

 44

Mit ihrer Besetzung (insb. Männerchor, Harfe, Gitarre) passen sie auch nicht in einen Band, der Lieder mit Klavierbegleitung enthält. Zu den beiden kleinen Kompositionen vgl. Willi Schuh: Anmerkungen zu den Liedern aus Calderons »Richter von Zalamea«, in: Richard Strauss Jahrbuch 1954, hrsg. von Willi Schuh, Bonn 1953, S. 100. In diesem Jahrbuch ist auch der Erstdruck der beiden kleinen Kompositionen enthalten. Strauss hatte gegenüber Adolph Fürstner am 7. September 1904 angemerkt: »[…] übrigens eignen sich die kleinen Liedchen zur Guitarre aus dem Richter von Zalamea kaum zur Veröffentlichung.« Richard Strauss an Adolph Fürstner, 07.09.1904, D‑GPrsa, [R.S. AN FÜRSTNER 1890–1907, Nr. 102].

 45

Wenngleich in den Liedautographen für die Klavierbegleitung bis dahin die Bezeichnung »Pianoforte« vorherrscht, entspricht der Vorsatz etwa dem autographen Vorsatz bei Allerseelen op. 10 Nr. 8, Herr Lenz op. 37 Nr. 5, Wir beide wollen springen TrV 175 (in beiden Manuskripten) und Winterliebe op. 48 Nr. 5. Sicherlich könnte »Singst.« auch für den Plural »Singstimmen« stehen. Trenner aber gibt in seinem Werkverzeichnis zu Der Graf von Rom als Besetzung an: »für eine Singstimme (ohne Text) und Klavier«. Trenner: Richard Strauss Werkverzeichnis (wie Anm. 43), S. 209.

 46

Erich H. Mueller von Asow: Richard Strauss. Thematisches Verzeichnis, Band III, Wien und München 1974, S. 1239. Die autographe Bezeichnung der zweiten Fassung (»von geringerem Stimmumfang«) legt jedenfalls nahe, dass Strauss eine Aufführung vorsah.

 47

Ebd. Eine Faksimile-Abbildung der längeren Liedfassung im Programmheft der Städtischen Oper Berlin zur Rosenkavalier-Premiere der Spielzeit 1960/61, wie von Asow und auch in Trenners Werkverzeichnis angeführt, konnte nicht recherchiert werden.

 48

Zwar wurde Georg Baron von Hülsen erst 1908 in den Grafenstand erhoben, doch war seine Mutter gräflicher Herkunft; insofern wäre der Liedtitel dennoch passend, zumal es sich – dazu gleich mehr – um einen historisch überlieferten, bekannten Titel handelt. Explizit nachgewiesen ist eine Rom-Reise des Intendanten in den aufgefundenen Quellen nicht. Auch eine autographe Widmung der Komposition an Hülsen, wie die Angabe des Widmungsträgers in Trenners Werkverzeichnis vermuten ließe, ist auf dem Lied-Manuskript nicht vorhanden.

 49

Georg v. Hülsen an Richard Strauss, 05.02.1906, D‑GPrsa.

 50

Für ihre wichtigen Hinweise zur (Volks-)Hymne danke ich herzlich Sebastian Bolz und Jürgen May.

 51

Vgl. Hans-Günther Reichel: Das Königliche Schauspielhaus unter Georg Graf von Hülsen-Haeseler (1903–1918). Mit besonderer Berücksichtigung der zeitgenössischen Tagespresse, Berlin 1962, S. 23 f. Von Hülsen existiert sogar ein als »Geheim!« gekennzeichnetes Dossier mit dem Titel »Der Fall ›Salome‹. Eine kunstpolitische Studie«. Zweck des Dokuments war, den Kaiser zu überzeugen, dass Salome an der Berliner Oper aufgeführt werden dürfe – nach einigen Konzessionen bei der Inszenierung mit Erfolg. Vgl. Musikantiquariat Hans Schneider: Musik – nicht nur von Richard Strauss. Katalog Nr. 471, Tutzing 2014, S. 94.

 52

Siehe das oben zitierte Telegramm vom 5. Februar 1906. Zum Kontext der Marschkompositionen vgl. Achim Hofer: »Seiner Majestät dem Kaiser und König Wilhelm II. in tiefer Ehrfurcht gewidmet.« Richard Strauss’ Märsche 1905–1907, in: Bolz u. a.: Richard Strauss (wie Anm. 1), S. 259–294. Auch bei seinem Bardengesang op. 55 nach einem Text aus Friedrich Gottlieb Klostocks Hermanns Schlacht hatte Strauss zunächst den Kaiser als Widmungsträger ins Auge gefasst. Vgl. Richard Strauss an Georg v. Hülsen, 24.08.1905, D‑KNth, Au 11 236.

 53

Georg v. Hülsen an Richard Strauss, 25.02.1906, eingeklebt in den Schreibkalender 1906, D‑GPrsa; Daten zur Uraufführung aus: Trenner: Richard Strauss Werkverzeichnis (wie Anm. 43), S. 210. Auch der Geburtstag des Kaisers am 27. Januar und die Silberhochzeit des Kaiserpaares am 27. Februar 1906 lassen Strauss’ musikalische Ehrerbietung geschickt platziert erscheinen. Die teilweise hart geführten Verhandlungen zwischen Strauss und Hülsen kommen in der Korrespondenz deutlich zum Ausdruck und erstreckten sich über einen größeren Zeitraum, vgl. etwa Richard Strauss an Georg v. Hülsen, 24.08.1905, D‑KNth, Au 11 236, sowie Georg v. Hülsen an Richard Strauss, 26.04.1906 und 08.06.1906, D‑GPrsa. Schon Julius Kapp hat auf die »stetig sich steigernden Urlaubswünsche« des Berliner Hofkapellmeisters Strauss hingewiesen. Richard Strauß und die Berliner Oper, Festschrift der Berliner Staatsoper zu des Meisters 70. Geburtstage, hrsg. von Julius Kapp, Berlin 1934, S. 13 (in »Zweiter Folge zu des Meisters 75. Geburtstage«, Berlin 1939, S. 15). Christoph Henzel hat das Thema eingehend betrachtet. Vgl. Christoph Henzel: Richard Strauss als preußischer Hofkapellmeister. Aspekte und Belege, in: Archiv für Musikwissenschaft 76 (2019), S. 280–306, hier S. 282–296. Den Kontext der Strauss’schen Konzessionen an den kaiserlichen Musikgeschmack und die Rolle, die Hülsen hierin spielte, hat Jürgen May untersucht. Vgl. Jürgen May: Des Kaisers »Hofbusenschlange«. Richard Strauss und Wilhelm II., in: Musik in Preußen – preußische Musik?, hrsg. von Frank-Lothar Kroll und Hendrik Thoß, Berlin 2016, S. 169–185, hier insb. S. 180–184.

 54

Vgl. Deutsche Volkslieder. Balladen, Erster Teil, hrsg. von John Meier, Berlin und Leipzig 1935 (= Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien 1), S. 140. Vgl. auch Frieder Schanze: Art. Der Graf von Rom, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hrsg. von Kurt Ruh u. a., Band 3, Berlin und New York 1981, Sp. 209–212, hier Sp. 209. Mitunter lautet der Titel auch Der Graf von Metz.

 55

Meier: Balladen (wie Anm. 54), S. 141. Vgl. auch The Folk Songs of Ashkenaz, hrsg. von Philip V. Bohlmann und Otto Holzapfel, Middleton 2001, S. 100. Bohlmann und Holzapfel legen auch die jüdisch-hebräische Traditionslinie des Lieds dar. Vgl. ebd., S. 90–102.

 56

Inhaltliche Parallelen zu Hülsens Text finden sich in der historischen, vielstrophigen Ballade natürlich nicht. Das historische Lied handelt von einem Grafen aus Rom, der das Heilige Grab besuchen will, in Gefangenschaft gerät und von seiner als Mönch verkleideten Gemahlin befreit wird.

 57

Vgl. Bohlmann und Holzapfel: The Folk Songs (wie Anm. 55), S. 99. Bekannt war die Ballade auch als Der Graf im Pfluge. August Heinrich Hoffmann v. Fallersleben hat die Ballade 1852 zu einem Opernlibretto Der Graf im Pfluge verarbeitet, das aber unkomponiert blieb.

 58

Zur Überlieferung inkl. der späteren Drucke siehe insb. Schanze: Art. Der Graf von Rom (wie Anm. 54), Sp. 210.

 59

Flugblatt o. O., J. und Drucker Der Graaff von Rom., zit. nach: Meier: Balladen (wie Anm. 54), S. 138, Quelle Q. Auch Joseph Bergmann gibt im von ihm herausgegebenen Ambraser Liederbuch von 1582 an: »In Bruder Veiten Thon.« Der früheste von Bergmann angeführte Druck ist auf »Bamberg 1493« datiert. Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582, hrsg. von Joseph Bergmann, Stuttgart 1845, S. 282.

 60

Vgl. Altdeutsches Liederbuch. Volkslieder der Deutschen nach Wort und Weise aus dem 12. bis zum 17. Jahrhundert, gesammelt und erläutert von Franz M. Böhme, Leipzig 1877, S. 38, sowie Deutsches Leben. Volkslied um 1530, hrsg. von Rochus v. Liliencron, Berlin und Stuttgart [1884], S. 109 f.

 61

Volksliederbuch für Männerchor. Herausgegeben auf Veranlassung seiner Majestät des deutschen Kaisers Wilhelm II., Leipzig 1906.

 62

Richard Strauss an Georg v. Hülsen, 24.08.1905, D‑KNth, Au 11 236. Zu Strauss’ Verhältnis zur kaiserlichen Vorliebe für Männerchorgesang vgl. May: Des Kaisers »Hofbusenschlange« (wie Anm. 53), S. 179 f.

 63

Zur melodischen Rekonstruktion des historischen Liedes Der Graf von Rom vgl. insb. Meier: Balladen (wie Anm. 54), S. 140–145. Festzuhalten ist, dass diese wissenschaftliche Rekonstruktion zu einem Ergebnis führt, das von der bei Böhme und Liliencron notierten Melodie abweicht; die Gemeinsamkeiten mit der Strauss-Komposition existieren hier nicht in der beschriebenen Form – doch repräsentiert Meiers Rekonstruktion von 1935 nicht den Forschungsstand zur Zeit der Komposition durch Strauss.

Verfasser: Andreas Pernpeintner

Erstmals veröffentlicht in

Richard Strauss: Lieder mit Klavierbegleitung op. 46 bis op. 56, hrsg. von Andreas Pernpeintner, Wien: Verlag Dr. Richard Strauss 2020 (= Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe, II/4)

Zitierempfehlung

Andreas Pernpeintner: Einleitung, in: Richard Strauss: Lieder mit Klavierbegleitung op. 46 bis op. 56, hrsg. von Andreas Pernpeintner, 2020 (= Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe, II/4), richard‑strauss‑ausgabe.de/b38530/el (Version 2020)