Der Komponist des »Don Juan« bewährt sich hier neuerdings als ein glänzender Orchester-Virtuose, dem es nur an musikalischen Gedanken fehlt. Er schiebt in seine Zauberlaterne verschiedene bunte Gläser, deren abwechselnd reizender Schmelz oder flammende Glut unsere Sinne beschäftigt; was wir uns dabei vorzustellen haben, ob Tod und Teufel oder Tod und Verklärung, sagt uns ein erklärendes Programm. Auch diesmal sorgt eine vorgedruckte Dichtung dafür, daß wir nicht fehlgehen können; die Musik folgt ihr Schritt für Schritt wie einem Ballett-Libretto. »In der ärmlich kleinen Kammer, matt vom Lichtstumpf nur erhellt, liegt der Kranke auf dem Lager«. Lang ausgehaltene Moll-Dreiklänge über leisem Schluchzen der Violinen. »Er sinkt erschöpft in den Schlaf; um seine bleichen Züge spielt ein Lächeln wehmutsvoll.« Sanfte Harfen-Arpeggien, in welche sich ein liebliches Flötenfigürchen mischt, dann eine breite Geigenmelodie. Nach dieser Einleitung, dem gelungensten Teile des Ganzen, sagt uns ein wütend aufspringendes C-moll-Allegro, daß der [220] Tod sein Opfer nicht länger schlummern läßt, sondern zwischen beiden »ein entsetzliches Ringen« beginnt. Die Musik, in leidenschaftliche Phrasen zerrissen, steigert und verwildert sich später, als Visionen hinzutreten, bis zum grellsten Tumult. Die Pauken werden »mit Holzschlägeln« bearbeitet; die Posaunenstöße »müssen ungeheuer markant zur Darstellung kommen und sind, die Schallbecher gegen das Publikum gerichtet, zu blasen!« Eine grausige Dissonanzenschlacht, in welcher die Holzbläser mit chromatischen Terzenläufen herunterheulen, während alles Blech erdröhnt, alle Geigen rasen. Wer könnte etwas einwenden, wenn der Komponist uns vorhält, daß er ja den entsetzlichen Todeskampf, das Ächzen und Stöhnen, den krankhaften Widerstand des Verscheidenden schildern müsse. Nur ganz schüchtern denken wir: muß das wirklich sein? Nachdem die Bilder seines freudlos kämpfenden Lebens an dem Sterbenden vorübergezogen, erschallt die Totenglocke. Wir hören das schauerliche Anschlagen des Tamtams durch vierzig Takte, dann ein langes Arpeggieren zweier Harfen gegen einander über geheimnisvollem Erzittern der Geigen, endlich ein ausklingendes Pianissimo. Der arme Junge ist von seinen Qualen erlöst, was das Programm mit dem verschönernden Titel »Welt-Erlösung, Welt-Verklärung« bezeichnet.
Wie Strauß’ »Don Juan«, so gehört auch »Tod und Verklärung« zu den Erzeugnissen der raffinierten Überkultur unserer Musik. Alle im Gedicht geschilderten Vorgänge sind, wie gesagt, mit blendender Bravour nachgemalt, stellenweise mit wirklich neuen Farbenmischungen. Dadurch erklärt sich auch die starke sinnlich-pathologische Wirkung, welche ein so unbarmherziges Nachtgemälde auf die Zuhörer ausübt. Es fehlt dieser realistischen Anschaulichkeit nur der letzte ent[221]scheidende Schritt: die matterleuchtete Krankenstube mit dem Verscheidenden auf wirklicher Bühne; sein Todeskampf, seine Visionen, sein Sterben – alles pantomimisch – und dazu die Straußsche Musik im Orchester. Das wäre nur konsequent und dürfte auch mit der Zeit ernstlich versucht werden. Die Art seines Talents weist den Komponisten eigentlich auf den Weg zum Musikdrama; wir trauen ihm ohneweiteres auch jene »edle Verachtung des Gesanges« zu, welche, vor dreihundert Jahren von Caccini gepredigt, gleicherweise das Entstehen und die Auflösung der Oper kennzeichnet. Übrigens paßt, was ich im allgemeinen über den »Don Juan« bemerkt habe, auch auf »Tod und Verklärung.« Das Charakteristische des Symphonikers Strauß besteht darin, daß er mit poetischen, anstatt mit musikalischen Elementen komponiert und durch seine Emanzipation von der musikalischen Logik eine Stellung mehr neben, als in der Musik einnimmt. Auch bestärkt uns »Tod und Verklärung« in der bereits früher ausgesprochenen Meinung, es werde bei der so raschen und beifälligen Aufnahme des Komponisten diese krankhafte Richtung nicht so bald überwunden sein, gewiß aber eines Tages eine gesunde Reaktion hervorrufen. In seiner neuesten Novelle richtet Paul Heyse an einen jungen plein-air-Maler folgendes treffende Wort, das auch auf unseren Fall gute Anwendung findet: »Ich erblicke in der neuen radikalen Richtung auf das Charakteristische, worüber das Schöne gänzlich zu kurz kommt, allerdings nur eine Entwicklungskrankheit unserer Zeit. Dergleichen Erscheinungen darf eine weise ästhetische Pathologie so wenig unterdrücken wollen, wie die rationelle physische Hygiene die Reinigungsprozesse in einem menschlichen Körper hemmen darf, wenn sie recht kräftig auf die Haut schlagen. Es ist wahrscheinlich, [222] daß wir mit unserer schulgerechten Ästhetik nachgerade aufs Trockene gekommen wären ohne diese gewaltsame Reaktion. Ich habe viele ›Richtungen‹, die sich für die allein wahren ausgaben, im Sande verlaufen und neuen, noch ›wahreren‹ Platz machen sehen, so daß ich mit einiger Ruhe zuschauen kann, wenn heutzutage alles als akademischer Zopf verschrieen wird, was einen Gemütswert beansprucht oder durch Reiz und Adel der Form entzücken will« … »Tod und Verklärung« erhielt von einem Teile des Publikums rauschenden Beifall, dem von anderer Seite vernehmliches Zischen antwortete. Alle dürften es jedoch wie einen himmlischen Balsam empfunden haben, als unmittelbar darauf die ersten Akkorde von Schumanns Klavierkonzert erklangen. Mit Unrecht hat man lange Jahre hindurch dieses Konzert zurückgestellt, welches Gedankenreichtum mit sinnlichem Reiz und edler Form so schön verbindet.