Der bereits früh einsetzende und nachhaltige Erfolg, den Richard Strauss mit seinen Werken hatte, führte dazu, dass seine Kompositionen in der Regel schon unmittelbar nach ihrer Entstehung gedruckt und weit verbreitet wurden. Mittlerweile ist fast das gesamte Œuvre von Richard Strauss in Partituren gut zugänglich, insbesondere durch die vierbändige Gesamtausgabe der Lieder (hrsg. von Franz Trenner, London 1964, ergänzt durch eine Nachlese, hrsg. von Willi Schuh, London/Bonn 1968) und die beiden Serien der Richard-Strauss-Edition (Bd. 1–18: Sämtliche Bühnenwerke, Wien 1996; Bd. 19–30: Orchesterwerke, Wien 1999), aber auch durch Einzelausgaben von Kammermusik-, Klavier- und Chorwerken sowie posthume Erstausgaben von Jugendwerken, Gelegenheitswerken und Spätwerken. Für die kursierenden Ausgaben aber gilt fast ausnahmslos: Es handelt sich um praktische Ausgaben, die neueren wissenschaftlichen Standards nicht genügen. In der Regel zeigen sie nur den Notentext von (meist nicht nachgewiesenen) älteren Druckausgaben oder stützen sich auf nur eine handschriftliche Quelle, ohne Quellenbeschreibung, Quellenvergleich und äußere wie innere Quellenkritik. Die historischen Erstdrucke entstanden zudem häufig unter hohem Zeitdruck, sodass sie nicht wenige Fehler aufweisen, die zumeist bis heute tradiert werden.
Das 2011 begonnene, von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften getragene und an der Ludwig-Maximilians-Universität München angesiedelte Langzeit-Forschungsprojekt Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss widmet sich den Kompositionen von Richard Strauss zum ersten Mal mit den Mitteln moderner Editionsphilologie. Es kann dabei auf wertvoller Grundlagenforschung aufbauen, die 2009–2012 vom DFG-Projekt Richard-Strauss-Quellenverzeichnis (RSQV) am Richard-Strauss-Institut Garmisch-Partenkirchen geleistet und in Form eines Online-Kataloges publiziert wurde. Neue Funde und Erkenntnisse aus der Arbeit des Editionsprojekts werden nun ihrerseits laufend in das RSQV eingearbeitet und entwickeln dieses weiter.
Die Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss verfolgt das Ziel, sämtliche Bühnenwerke, genuinen Orchesterwerke, Lieder und Gesänge sowie kammermusikalischen Werke mit den modernen Methoden historisch-kritischer Editionstechnik in neugesetzten Partituren mit Kritischem Apparat vorzulegen – in Ausgaben, die der Wissenschaft dienen, aber auch in die künstlerische Praxis ausstrahlen sollen. Die gesamte Ausgabe wird voraussichtlich 52 Bände (einige in Teilbände untergliedert) in sechs Serien umfassen:
Serie I:
Bühnenwerke
Serie II:
Lieder und Gesänge für eine Singstimme
Serie III:
Symphonien und Tondichtungen
Serie IV:
Kleinere Orchesterwerke und Bläserwerke
Serie V:
Konzertante Werke
Serie VI:
Kammermusikalische Werke
Intendiert ist eine Gesamtausgabe zumindest der wichtigsten Gattungen und Werkgruppen im Œuvre von Richard Strauss, einschließlich der authentischen bzw. autorisierten Alternativfassungen, der Fragmente und der vom Komponisten stammenden Klavierarrangements. Nicht ediert werden können innerhalb der vorgesehenen Projektlaufzeit die Chorwerke und die vokale Ensemblemusik, die Klaviermusik (vgl. hierzu die drei Bände Frühe Klaviermusik, hrsg. von Christian Wolf, Mainz u. a. 2003–08), die Melodramen, die von Strauss angefertigten orchestralen Auszüge aus Bühnenwerken, seine Bearbeitungen fremder Werke sowie der extrem umfangreiche Bestand an Skizzen, Entwürfen und Particellen. Einer späteren Vervollständigung zu einer Ausgabe sämtlicher Werke ist mit dieser Beschränkung jedoch nichts in den Weg gelegt.
Die Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss basiert auf der Erschließung, Sichtung und Auswertung sämtlicher nachweisbarer und einsehbarer Quellen zu den Werken, soweit sie zu Lebzeiten des Komponisten entstanden sind, beginnend mit der ersten Partiturniederschrift. Skizzen und Particelle werden nur in besonderen Fällen herangezogen. Da sich ein Großteil der autographen Quellen im Bestand des Richard-Strauss-Archivs Garmisch-Partenkirchen befindet, das die Erben des Komponisten betreuen, ist die Kooperation mit der Familie Strauss für das Projekt von großer Bedeutung, ebenso wie die Zusammenarbeit mit dem Richard-Strauss-Institut Garmisch-Partenkirchen. Unerlässlich für die Beurteilung der Quellen und ihrer Lesarten ist die Auswertung der umfangreichen Korrespondenz des Komponisten mit Verlagen, Textdichtern, Freunden und Verwandten, Dirigenten, Musikern und Konzertveranstaltern – viele tausend Briefe, die im Rahmen des Projekts erstmals in einer Datenbank wissenschaftlich erfasst werden.
Ziel der Ausgabe ist es, authentische Werktexte vorzulegen, die von Schreibfehlern, Kopisten- und Stichfehlern sowie von nicht durch den Komponisten autorisierten Zusätzen bereinigt sind und den Strauss’schen Intentionen so nahe wie möglich kommen, auch in der Darstellungsweise. Dabei soll die gewählte Leitquelle in der Edition möglichst deutlich durchscheinen. In den Einleitungen werden grundlegende Informationen zu den Werken (Werkgenese, Publikationsprozess, frühe Aufführungs- und Rezeptionszeugnisse) vermittelt und Besonderheiten des jeweiligen Bandes dargelegt; die Kritischen Berichte informieren über die Editionsweise und Gestaltung des Notentextes, liefern detaillierte Quellenbeschreibungen und -bewertungen und dokumentieren die editorischen Eingriffe sowie Lesarten der relevanten Quellen. Sofern sie nicht durch Referenzquellen gestützt sind, werden Ergänzungen der Herausgeber im Notentext durch eckige Klammern markiert; zu wichtigeren Sachverhalten finden sich in Fußnoten Kommentare oder Verweise auf den Kritischen Bericht. Moderner literaturwissenschaftlicher Editionspraxis folgend, werden die Worttexte auch orthographisch gemäß der jeweiligen Leitquelle ediert. Über weitere editorische Prinzipien informiert jeweils der Kritische Bericht.
Integraler Bestandteil des Projekts und der einzelnen Ausgaben ist die Online-Plattform zur Kritischen Ausgabe der Werke von Richard Strauss.
Sie enthält die Textvergleiche zu den Vokalwerken in synoptischer Darstellung (bei den Liedern edierter Worttext und dichterische Textvorlage, bei Bühnenwerken ggf. auch weitere Textversionen, etwa aus Partiturautograph, Stichvorlage, Erstdruck, gedrucktem Textbuch, Klavierauszug oder auch annotierten Typoskripten und Korrekturfahnen). Unterschiede lassen sich hier, nach verschiedenen Kategorien geordnet, jeweils optisch hervorheben.
Ferner liefert die Online-Plattform wissenschaftlich aufbereitete Dokumentensammlungen zu den großen Bühnen- und Orchesterwerken. Sie geben Briefe, Rezensionen und andere – auch bildliche – Dokumente zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte sowie zur frühen Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte in originaler Textgestalt wieder. Erwähnte Werke und Quellen, Personen, Institutionen, Orte und Literaturtitel werden hier durch Verknüpfung mit einschlägigen Normdateien identifiziert. Ein Jahr nach dem Erscheinungsdatum der gedruckten Bände werden zudem deren Textteile – Einleitung samt Faksimiles sowie Kritischer Bericht – auf der Plattform digital publiziert.
Noch lange nach der Publikation der Notenbände lassen sich auf der Online-Plattform neue Quellen- und Dokumentenfunde, neue Erkenntnisse und Korrekturen auch zum Notentext vermerken, sodass die kritischen Werkausgaben im Prinzip nicht veralten, sondern jeweils auf dem neuesten Stand der Strauss-Philologie gehalten werden können.
Hartmut Schick