Geehrter Herr!
Besten Dank für Ihre freundlichen Zusendungen; ich habe mich besonders über das vorbesprechende Feuilleton gefreut u. wünsche nur, daß die Wiener Kunstrichter etwas von ihren Grazer Collegen lernen möchten. In der Hauptstadt herrschen leider noch die »ewigen Schönheitsgesetze«, die unsereins auch gern einmal zu Gesicht bekäme, um sich nach ihnen zu richten, die aber bis heute als rätselhafte Geheimnisse im Busen der Herren Hanslick u. Genossen schlum̅ern. Denn das Buch »Vom Musikalisch Schönen« enthält wohl eine irrtümliche Auffassung dessen, wie man früher componirt, aber leider kein brauchbares Rezept dafür, wie man weiter componiren soll.
Von Ihrem Concertreferenten ist es im̅erhin außerordentlich anzuerkennen, daß er sein Urteil ein vorläufiges nennt u. sich bereit erklärt, dasselbe eventuell später zu rectificiren.
[1v] Im̅erhin wäre es, glaube ich, Aufgabe des Kritikers, sich die »eingehende Erkenntnis« eines Werkes aus Partitur oder Klavierauszug vorher zu schaffen, um nicht in die im̅erhin etwas peinliche Lage zu geraten, von einem »verwirrenden« Eindruck da sprechen zu müssen, wo die Klarheit der Gliederung für jeden Einsichtigen außer allem Zweifel steht. –
Übrigens sind in meinem Don Juan wirklich 3 Frauengestalten gezeichnet, deren melodische Linien ziemlich scharf umrissen sind, wenn auch die Ausdrucksfähigkeit der Musik noch nicht so weit geht, genau zu bestim̅en, daß eine davon eine wirkliche »Gräfin« ist. Über Standesunterschiede sind wir in der Musik nun glücklich doch hinaus.
Entschuldigen Sie die faulen Witze!
Mit ergebenstem Gruß
RichardStrauss.