Liebe Schwester!
Vielen Dank für Deinen lieben Brief; das enthusiastische Urteil, das Du über meine Oper gefällt, hat mir große Freude bereitet. Daß Papa auch einverstanden ist, ist ja famos; seine Ausstellungen daran bitte ich ihn, baldigst mitzuteilen. Auch möchte ich den Text, sobald ihn auch Familie Ritter durchstudirt u. kritisirt hat, wieder haben.
Ich glaube jetzt beinahe selbst, daß Guntram etwas werden wird; bis jetzt habe ich noch im̅er gezweifelt, denn so sicher ich im Urteil über meine Musik bin u. genau weiß, was daran ist, so unsicher bin ich meiner ersten poetischen Leistung gegenüber. Ich habe schon fast 30 Seiten des Macbeth uminstrumentirt, eine Arbeit, die mir sehr vielen Spaß macht; da zu wenig Blech darin war, schreibe ich noch eine Baßtrompete dazu, die mir famose Dienste leistet. Mein Partiturpapier wird leider im̅er mehrzeilig; ich weiß selbst nicht, wo das noch hinaus soll, aber ich [1v] brauche eben die vielen Instrumente so nötig, u. wenn man sie eben braucht, so ist nichts dagegen zu machen. Ich arbeite jetzt täglich 5 bis 6 Stunden u. selbst an Tagen, wo ich zwei Proben habe wie gestern, noch zwei bis 3 Stunden.
Gestern hielt ich die erste Probe der Faustsinfonie, die am 17. Nov. daran kom̅t. Ein unbeschreiblich herrliches Werk; weitaus das großartigste, was auf sinfonischem Gebiete seit Beethoven geleistet worden ist. Dabei so klar, so voll tiefstem Ausdrucke u. blühendster Erfindung; es ist unbegreiflich, wie lange solchen Werken gegenüber der Stumpfsinn eines mißleiteten Publicums u. einer eingerosteten Taglöhnerzunft von Kapellmeistern vorhält. Das Program̅ für 17.ten: Lustspielouverture von Smetana, Violinconcert von Beethoven (Halir), die Allmacht von Schubert (in der Lisztschen Bearbeitung für Tenor (Gießen), Männerchor u. Orchester), u. Faustsinfonie.
Sonntag hatte ich eine famose Lohengrinaufführung, in der [2r] Zeller geradezu großartig war; ich habe den Kerl nie so gesehen, der geht auch mit Siebenmeilenstiefeln. Das ausverkaufte Publicum war voller Jubel.
Ich halte bereits fleißig Rienziclavierproben; die Aufführung soll Mitte December sein.
Außerdem studire ich fließig mit Fl. de Ahna, die ebenfalls riesige Fortschritte macht; ich habe jetzt mit ihr nach halbjähriger Pause Elsa u. Evchen durchgenom̅en u. war wirklich über sie erstaunt. Die Stim̅e wird im̅er schöner, Ausdruck u. Mimik dto. [dito] Gestern gestand sie mir (sie ist gegenwärtig wieder gerade sehr nett u. voll Eifer u. Zutrauen), sie finge jetzt allmählich an, zu begreifen, was Frau Ritter damals von ihr gewollt habe. Wenn sie anfängt, es sogar einmal einzugestehen (eingesehen hat sie es schon lang), dann ist sie schon sehr weit.
Ihre Mutter, die jetzt bei ihr ist, ist eine sehr nette u. vernünftige Frau, die mir tausendmal lieber ist als der geschäftige Alte.
[2v]Wenn es Euch interessirt, will ich Euch meinen täglichen Stundenplan mitteilen: a.) 10 Uhr Früh aufstehen, frühstücken
b.) nachher wenn keine Probe: arbeiten (Macbeth)
c.) 1/2 2 Essen Erbprinz.
d.) 1/2 3 bis 4 Skat.
e.) 4 Uhr Rienziclavirprobe oder Fl. de Ahna studiren.
f.) 7 bis 10 Uhr arbeiten (Macbeth oder Briefe schreiben wie soeben)
g.) 10 bis 1/2 1 Uhr Künstlerverein.
Bei g.) bin ich jetzt angekom̅en, darum lebt wohl u. seid tausendmal Alle gegrüßt
von
Eurem
R.