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Meine liebe Schwester!
Deinen Brief mit den lieben Zeilen von Mama habe ich erhalten u. freue mich über Deine guten Nachrichten, obenan darüber, daß Papa sein Horn wieder zur Hand genom̅en hat. Schreibe mir genau wann das Concert ist (welches Program̅?), damit ich den bewußten Daumen halten kann. Schön ist, daß Du fleißig Clavier spielst –
Mir geht es vortrefflich, Donnerstag habe ich ohne Probe den Figaro, welcher eingeworfen wurde, dirigirt u. ging er recht flott, wenn auch ohne feinere Nuancen. Mit Ausnahme der Gräfin (Naumann) waren alle Sänger recht gut. Am 11. November habe ich mein II.tes Concert:
Ouverture: Abenceragen von Cherubini |
Ein Celloconcert (Halir junior) |
Don Juan |
Arie aus Ines del Castro von Weber (Frl. Alt) |
Pastoralsinfonie. |
[1v] Gott sei Dank habe ich jetzt wenig zu thun, so daß ich Tod u. Verklärung in nächster Woche fertig zu bringen hoffe. Bülow hat mir vorige Woche sehr liebenswürdig geschrieben u. mir mitgeteilt, daß er Don Juan in der zweiten Hälfte des Winters (unter meiner Leitung) auf’s Berliner Program̅ bringen will. Er kom̅t am 13.ten hieher u. spielt zum Besten der Musikschule. Auch Spitzweg erwarte ich nächste Woche hier; er hat mir in einem sehr lieben Brief seine Genesung mitgeteilt u. mir seinen Besuch angekündigt.
Ritter hat mir seine letzte Scene der neuen Oper geschickt, die wundervoll geworden ist u. für die unser Gießen bereits ganz Feuer u. Flamme ist. –
Von Thuille habe ich nur durch Ritter indirect Nachricht, was treibt er denn? Ich hoffe, ihm in den nächsten [2r] Tagen schreiben zu können. Ich habe Papa vor ein Paar Tagen um 100 M. von meinen Ersparnissen gebeten, ich reiche hier mit Gage u. Stundengeldern so knapp aus, daß ich Reserven brauche für unvorhergesehne Ausgaben, so z. B. gestern 20 M. für die hiesigen Spediteure, Kohlen 16 M. etc. – Sonst geht es mir sehr gut, u. leben wir hier sehr ruhig u. gemütlich.
Mein erstes Concert hat sehr großes Aufsehen gemacht, ich habe, glaube ich, so gut es nur mir möglich ist, dirigirt. Das Orchester parirt mir auf den Wink u. war mit großer Begeisterung bei der Sache, Nirwana u. die Ideale gingen herrlich, Halir hat sehr schön gespielt. Ritter’s Lied: Sternenewig, das Zeller recht gut sang, hat sehr gefallen. Bronsart ist für die Aufführung der beiden Ritterschen Opern vollständig gewonnen. Dienstag fange ich mit [2v] den Proben zu meinem Don Juan an, die ich nur auf Bronsarts ausdrücklichen Wunsch mache. Zum 4. Concert hoffe ich mein Faustprogramm durchzusetzen: Faustouverture von Spohr, Schumann, Wagner, Arie aus Faust von Berlioz (Gießen) u. Faustsinfonie von Liszt. Famos! nicht? Das heißt, die Leute mit den Fäusten bearbeiten. –
Doch es ist 1/2 12 Uhr, ich habe heute 7 Stunden an meiner Partitur geschrieben u. bin müde. Lebt wohl, seid gesund u. vergnügt u. nehmt tausend herzliche Grüße
Eures R.
Dein Geschenk an Frl. Grützmacher ist sehr hübsch u. hat ihr Freude gemacht.
Ich habe auch eine neue Schülerin im Partiturstudium, eine Frl. Passi (Ortrud etc.); wenn auch nichts besonderes, werde ich sie, wenn sie mir die ausgemachten 6 M. für die Stunde wirklich bezahlt, doch behalten. Pauline de Ahna macht recht gute Fortschritte.