[1] In wenigen Monaten werden fünfundzwanzig Jahre seit der in mehrfacher Hinsicht denkwürdigen Uraufführung von Richard Strauß’ »Salome« an der Dresdner Oper vergangen sein. Wißt Ihr, wie das ward? Nur die ältere und mittlere Generation der lebenden Kulturmenschen werden imstande sein, sich das damalige Ereignis mit seinen geradezu aufregenden Folgen zu vergegenwärtigen. Den Jüngeren und Jüngsten müßte man schon mit Vergleichen aus dem Fliegerleben, Sechstagerennen oder dem Boxkampfdasein aufwarten, um ihnen einen Begriff zu geben von dem Aufsehen, das diese »Salome« gemacht, von dem Staub, den die neue Oper aufgewirbelt, von dem Abscheu und Entsetzen, den besagte Dame in weitesten Kreisen erregt hatte.
Versetzen wir uns in das Kunstjahr 1905 zurück. Wie sah es auf den deutschen Opernbühnen aus? […]
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Was geblieben und bleibend ist, das ist eben doch die künstlerische Potenz des Ganzen. Wie hier eine ebenso starke wie eigenwillige Dichtung vom Musiker [5] aufgesogen, nacherlebt und durch die Musik neu gehört und gestaltet wurde, wie aus scharf umrissenen Figuren dramatische Charaktere als singende Menschen wurden, wie, ohne im mindesten in historisierende Manier, in dozierende Kunstgeschichte zu geraten, hier vom Tondichter die Atmosphäre eingefangen worden ist, jene undefinierbare, umwägbare Stimmung, wie sie nur an der Überschneidung zweier Kulturepochen zu entstehen pflegt, wie die eigentümlichen Brechungen menschlichen Tuns und Fühlens in musikdramatische Spannung und Lösung umgesetzt wurde — das macht heute den Reiz dieses Werkes aus, das verleiht ihm seinen Wert. »Salome« hat für uns ihren einmaligen Stil, der sich in völliger Übereinstimmung von Form und Inhalt manifestiert. Vom ersten Ton bis zum letzten Akkord lassen wir uns von der Gesamthaltung gefangen nehmen. Allerdings haben wir uns längst abgewöhnt, das Werk als Musikdrama im eigentlichen Wortsinn aufzufassen. Wir sind ebensoweit davon entfernt wie von der Ansicht, eine Orchestersinfonie vor uns zu haben, zu der die menschliche Stimme nur die psalmodierende Begleitung zu liefern hat.
Nein, ungeachtet eines bis dahin kaum geahnten Reichtums der Instrumentation, einer Orchesterpracht ohnegleichen mit einer Farbtonskala, die in allen Finessen schillert, ist doch diese Partitur auch als Gesangsoper gedacht – als solche freilich gewisser orchestraler Retouchen bedürfend, die der Komponist nunmehr persönlich vorgenommen hat. Die Titelpartie selbst soll möglichst der lyrischen Sängerin anvertraut werden, damit der Charakter Salomes als der eines Kindes, Kindes im weitesten, weiblichsten Sinne, zur Geltung komme. Damit scheint der entscheidende Schritt zur Art der Wiedergabe dieses Werkes im Jubiläumsjahr getan: nicht als pathetisches Musikdrama mit historischer Färbung, nicht als Zurschaustellung von Perversitäten und zu Lüsternheit verlockenden Auswüchsen, sondern als ein Spiel des musikalischen Theaters, bei dem auch Anormales und Befremdendes noch vom glänzenden Schein tondichterischer Sprache und menschlichen Verstehens umhüllt ist, soll »Salome« uns gefangen nehmen.
Die Neuinszenierung der Jubiläumsaufführung der Staatsoper hat sich von diesem Grundgedanken leiten lassen und stellt das Werk, das Dresden vor fünfundzwanzig Jahren als epochales Ereignis herausgebracht hat, als ein Stück lebendiger theatralischer Gegenwart erneuert und erneut zur Diskussion.