[Gemäß Transkriptionsgrundlage, S. 37: ]Man hat es gewagt, den Stoff als »unchristlich« zu verleumden. Gerade das Umgekehrte trat ein: das überfüllte Haus stand atemlos unter dem Eindruck des schauerlich-ernsten Geschichtsbildes, das wohl kein Lebender so tiefbewegend hätte in Musik setzen können, wie R. Strauß, der seit seinem »Heldenleben« und der »Feuersnot« doch als der größte moderne Erfinder zu gelten hat. Das Publikum stand unter einem Banne und war am Schluß derart erschüttert, und man kann sagen von der glühenden Musikfarbenpracht so geblendet, daß es eine Minute dauerte, bis der stürmische Beifall ausbrach, der die Darsteller, Herrn v. Schuch und den Schöpfer der Musik, Dr. Rich. Strauß, immer wieder vor die Rampen rief.
[Gemäß Transkriptionsgrundlage, S. 40: ]Aber auch lyrische Schönheiten sind reich vorhanden. Wenn Herodes schauerlich vom Winde spricht und von mächtig vernehmbarem Flügelrauschen, so sind hierfür die überraschendsten Malereien gefunden. Das Anklopfen des Todes aus der Zisterne (Pizzicato schwirrende Baßsaiten, dann tiefe, klagende Töne in Mischungen von Kontrafagott und Baßtuben) klingt wie ein dies irae. Natürlich stehen dazwischen Akkordhäufungen und Intervalle, welche zunächst kaum begriffen werden können; doch ergibt sich der Eindruck des Gesuchten nicht, sondern einer übergroßen, ehrlichen Kraft und Wahrhaftigkeit, die erschüttert. Salomes Liebesekstasen sind von glühendem Reiz, die Bußpredigten Johannes’ – er heißt im Stück »Jochanaan« – sind im mächtigsten Oratorium nicht weihevoller und relativ ganz einfach.
[Gemäß Transkriptionsgrundlage, S. 49: ]Wenn – hinten die tiefe Zisterne, darüber der orientalische Nachthimmel – Fackeln die Kleiderpracht des üppigen Hofes beleuchten, wenn die Juden im Chor sich kreischend über ihre Religion streiten, was die Römer so lächerlich finden –, dann ist ein musikdramatisches Bild gegeben, das sich unvergeßlich einprägt und das die Dresdner Hofbühne ganz bewundernswert gestellt hat.
[Gemäß Transkriptionsgrundlage, S. 50: ]Seit dem sensationellsten Musikwerk unserer Zeit, der »Götterdämmerung«, hat keine Opernaufführung eine so hochgradige Spannung hervorgerufen, wie jetzt diese »Salome«. Damals, 1876, saß ein kritischer Areopag in dem isolierten Bayreuth, und eine interne Sache wurde der Außenwelt berichtet. Wagner wollte von den öffentlichen Theatern nichts wissen. Aber die durch ihn hervorgerufene mächtige Aufwärtsbewegung der Musikdramatik hat es zuwege gebracht, daß eine große freie Stadt, Dresden, mutig an ein Neuwerk herangetreten ist, das von Schwierigkeiten strotzt, welche weit über Wagner hinausgehen. Und das rühmenswerte, kunstwichtige Wagnis Dresdens ist vollkommen geglückt. Wer aus dem Textbuche, dessen Zensurgeschicke in Wien usw. seit Monaten debattiert werden, eine unheilige, ans Lüsterne streifende Sensation erwartete, ist heute eines Besseren belehrt worden. Wohl mußte in der dramatischen Ausgestaltung der Figur der Salome, die nach den exaltiertesten, brutalsinnlichen Deklamationen in haßerfüllten Liebesparoxismus von Herodes als Preis für ihren wirbelnd reizenden Tanz das blutende Haupt des Johannes empfängt, das Stärkste geboten werden, was je die Musik an Liebesraserei ausgedrückt hat. Aber hoch empor über alle lüsternen und brünstigen Details hebt Strauß’ Musik den Vorgang zur Höhe einer tieferschütternden Tragik, bei welcher der ethisch-asketische Gedanke ergreifend rein hervorbricht und von »Unanständigem« gar keine Rede sein kann. Die modernen Puritaner, die nicht müde werden, die Malerei und Dichtung zu denunzieren, wenn sie zum Beispiel das Nackte in den Bereich ihrer Darstellung ziehen, haben der »Salome« gegenüber kein Glück. Das Tondrama wirkt trotz seines Milieus reinigend, tief ergreifend; sein letzter Zweck ist die Apotheose der Asketik, und diese schildert die Musik erhaben großartig.