Ein Stück hochbedeutsamer Musikgeschichte hat sich am [9.] Dezember im Dresdener Hoftheater abgespielt. Was wir in der Uraufführung der »Salome« von Richard Strauß an Eindrücken in uns aufnehmen konnten, das waren nicht die Erlebnisse einer gewöhnlichen Theaterpremiere, das war die Bekundung eines Ueberganges zu einer neuen Entwicklungsstufe der musikalisch-dramatischen Kunst. Es ist vielleicht überflüssig, hier noch einmal die Geschichte der Straußschen »Salome« wiederzugeben. Sie hat lange genug die Geister erregt, und nur darauf sei hingewiesen, wie der Einwand der Hyperästheten, der Stoff Wildes eigne sich nicht zur Umwertung in Musik, durch die Tatsachen völlig hinfällig geworden ist. Es herrscht immer noch in manchen Kreisen der Musikkenner der Glaube vor, daß ein dramatischer Vorwurf nur dann als Opernstoff verwendet werden kann, wenn er in seiner ethischen Beschaffenheit der »Veredlung« durch die Musik würdig ist. Als ob in der Kunst irgendwelche moralische oder ausgesprochen sittliche Verhaltungsmaßregeln das Kriterium der Würdigkeit bestimmen oder beeinflussen könnten! Gewiß, Wildes Drama behandelt einen Stoff, der, abgesehen vom rein Künstlerischen, vom Standpunkte der Moral, des allgemein menschlichen Empfindens, anfechtbar ist. Auch wer die Schönheiten der Dichtung anerekennt und sich ihrer freut, wird zugeben müssen, daß das Stück »Moralphilosophie« in ihr ein verwerflich Ding ist. Aber die Erkenntnis dieser Binsenwahrheit schließt nicht aus, daß auch dieser grausige und sagen wir abstoßende Stoff im Lichte der künstlerischen Behandlung eine andere Form annimmt. Und wenn man sich auch im Innersten von den »Gefühlsregungen« Salomes, des fürchterlichen Weibes, mit Abscheu abwenden muß – die Einkehr in das bessere Selbst schließt doch nicht aus, daß wir das Drama als ein Meisterwerk anerkennen, daß wir zumal der Durchbildung der Sprache, dem technisch-poetischen Rüstzeug des Dichters entgegenbringen – was in diesem Falle völlig gerechtfertigt und begründet erscheint – rückhaltlose Bewunderung und Zustimmung für das künstlerische Element in diesem Kunstwerke.
Daß auch Richard Strauß der freisinnige[,] große Künstler, auf diesem Standpunkte sich befindet, darf uns weiter nicht wundernehmen, er hat bisher in seinem Schaffen immer die künstlerische Wahrheit als obersten Grundsatz der Kunst hingestellt und auch betätigt. Seine Tonsprache allein schon ist die Verkörperung rücksichtsloser Wahrheit, seine Gedanken, soweit sie durch die Musik ausgedrückt werden, bekunden den Drang nach unzweifelhafter Ausprägung des Faßbaren in der musikalischen Kunst, und alle Phasen seiner Entwicklung bestätigen dies in unzweifelhafter Weise. Und darum ist es begreiflich, daß der große Künstler sich freiwillig in den Zauberbann dieser »Salome«dichtung begeben hat. Der Stoff »schreit« nach Musik. Wenn heute, nach der unvergeßlichen »Salome«-Aufführung, Stimmen laut werden, die die moralischen und ästhetischen Bedenken gegen das unleugbar Musikalische in der Dichtung ins Treffen führen, so könnte man ihnen gegenüber die Frage aufwerfen, ob denn alle musikalisch-dramatischen Stoffe[299]unserer großen klassischen Meister, vom streng moralischen Standpunkte aus besehen, die Feuerprobe auf ihren ethisch einwandfreien Gehalt zu bestehen geeignet sind. Freilich, so kraß ist allerdings noch nie und nirgends das Scheußlich-Menschliche betont und vertont worden wie in dieser »Salome«, aber die äußerste Grenze des auf der Bühne Zulässigen darf den Künstler nicht davon abhalten, innerhalb dieses Gebietes etwas zu schaffen, wenn er es nur versteht, auch das Abstoßende zu mildern, durch das Zusammenfassen des stofflich Erschütternden mit dem Ausdruck der Wahrheit ein neues Kunstwerk auf den Trümmern des verletzten Moralbewußtseins hervorzubringen.
Richard Strauß nun hat nicht einfach Wildes »Salome« in Musik gesetzt, trotzdem er sich fast wörtlich an den Text des Dramas hielt. Was wir in dieser musikalisch umgeformten »Salome« erblicken, ist ein Werk von selbständiger Struktur, ein Musikdrama mit selbständiger Grundlage, die sich nur äußerlich mit dem poetischen Vorwurf Wildes deckt. Selten in der Geschichte des Musikdramas ereignet sich eine derartige vollständige Umwertung eines gegebenen Vorwurfs, wie in diesem Falle. Das Abstoßende in der Dichtung nimmt in der musikalischen Form den Schimmer des menschlich Begreiflichen an. Die fürchterliche Verirrung der menschlichen Sinne äußert sich hier als ein Zustand, der Mitleid erregt, über dem das versöhnende Element einer versöhnenden Kunst ausgebreitet liegt. Fast ebenso, wie wir in Siegmund und Sieglindens Liebe nicht das blutschänderische Element mehr erblicken, sondern den Ausdruck einer grausamen, aber bezwingenden Naturnotwendigkeit, die den tragischen Knoten schürzt. Was in dem Gemüte Salomes bei Wilde als ungelöstes Rätsel offen bleibt, das deckt Straußens Musik auf. Wir blicken durch die Tonsprache des Komponisten mit geschärftem Auge in die Seele dieses Weibes, weil naturgemäß die musikalische Entwicklung der Vorgänge uns Zeit läßt, uns mit dem psychologischen Problem selbst intensiver zu beschäftigen als beim Genießen des gesprochenen Dramas, das Schlag auf Schlag an uns vorüberzieht. Insofern nun hat die Musik hier eine künstlerische Aufgabe bewältigt, die erfüllt werden mußte, wenn das Drama in seinem tiefinnersten Aufbau sich uns erschließen sollte. An Gelegenheit, dort helfend einzugreifen, wo der Dichter in der psychologischen Begründung Lücken offen ließ, ist in der »Salome« gewiß kein Mangel. Strauss hat sie erkannt und natürlich mit seiner Kunst an diesen Stellen entschieden eingesetzt. Wie er zum Beispiel die bangen Augenblicke schildert, in denen der Henker in der Zisterne seines schrecklichen Amtes waltet, ist von einer musikalischen Anschaulichkeit, die nicht mehr zu überbieten ist. Die Musik, zumal die schildernde, malende, erläuternde, soll dem Aufnehmenden gewissermaßen den Weg weisen, auf dem er zur erschöpfenden Erkenntnis dessen gelangt, was der Tonsetzer ausdrücken will. In diesem Sinne nun hat Strauss die ganze Dichtung erst dem wirklichen künstlerischen Verständnis enthüllt. Diesem Salomestoffe fehlte das Letzte hinsichtlich des Ausdrucks, denn in der überreichen poetischen Sprache verlor sich die notwendige psychologische Vertiefung und Begründung.
Das kräftigste Argument für die Zulässigkeit, den Salomestoff musikalisch zu verwerten, ist der Erfolg des Unternehmens. Was immer man gegen die nun erfolgte Tatsache einwenden mag, unleugbar ist es, daß das Werk in seiner musikalischen Form einen tiefen, einen überwältigenden Eindruck hervorgebracht hat. Es war kein landläufiger Premierenerfolg. Das Publikum vergaß sogar, nachdem der Vorhang sich gesenkt hatte, das Applaudieren. Es stand eben unter dem Eindruck eines Ereignisses,, das nicht zu den alltäglichen Erscheinungen gehört. Was der Stoff uns zu sagen hatte, das wußten wohl alle, die sich an jenem denkwürdigen Abende im Dresdener Hoftheater eingefunden hatten. Das kritische Publikum dieser Erstaufführung war naturgemäß mit der Dichtung Wildes völlig vertraut. Und doch befand es sich am Schlusse der Aufführung in einer Stimmung, wie sie nur nach großen, mächtigen künstlerischen Eindrücken sich einstellt. Das spricht doch allein schon dafür, wie es Strauß zu mindest [sic] gelungen sein muß, das hervorzubringen, was gerade bei dem Salomestoff von so entscheidender Wirkung ist, die Stimmung, die seelische Ueberzeugung für die Aufnehmenden, daß der Komponist den ganzen Vorgang mit erschütternder Treue erfaßt und wiedergegeben hat.
Bei einem Werke von Richard Strauß wieder die abgebrauchten Floskeln von »kontrapunktischer Kunst« und »charakteristischer Zeichnung« anzuwenden, erscheint mir völlig unangebracht. Es ist selbstverständlich, daß ein Meister wie Richard Strauß die Fähigkeit besitzt, seine Bühnengestalten im herkömmlichen Sinne auch musikalisch zu illustrieren. Aber was Strauß uns hier geboten hat, ist eben mehr als all dieses. Es ist der Ausdruck der unleugbaren künstlerischen Wahrheit, der Wahrheit, die sich auf die Schilderung von Menschen, auf die Begründung ihrer [300] Taten und des Milieus erstreckt, in dem sich die Vorgänge abspielen. Noch sei bemerkt, daß diese »Salome« ungefähr den Gipfel dessen darsteht [sic], was sich an musikalischen Schwierigkeiten in ein Kunstwerk zusammentragen läßt. Die Tonsprache Wagners, seine Behandlung des Orchesters, erscheinen als gefällige, leichte und leicht durchführbare Aufgaben, gegen die kolossalen Schwierigkeiten, die die Partitur zur »Salome« dem ganzen Klangkörper auferlegt. Das Dresdener Hoftheater hat diese Schwierigkeiten in glanzvoller Weise gelöst. Allen voran General-Musikdirektor von Schuch, der Leiter der Aufführung, der das Ganze mit sicherer Hand und geradezu imponierender Vollkommenheit beherrschte. In den Hauptrollen zeichneten sich Frau Wittich und die Herren Perron und Burrian hervorragend aus. Alles in allem – das Meisterwerk des großen Meisters hat in allen für die Kunst empfänglichen Gemütern unauslöschliche Eindrücke ausgelöst. Der modernen Musikliteratur ist in dieser »Salome« ein Werk geschenkt worden, dessen Einfluß wohl lange Zeit sich auf das moderne Schaffen in der Musik geltend machen wird.